Nach langem Siechtum krachte am 17. September 1982 in Bonn das Regierungsbündnis aus SPD und FDP zusammen. Es war an einem Freitag. An sich ein ganz gewöhnlicher Tag. Aber trotzdem ein Datum, das zumindest in die deutschen Geschichtsbücher gehört.
An diesem Tag zerbrach nämlich, nach 13 Regierungsjahren in Bonn das mit hochfliegenden Versprechungen und daher entsprechenden Erwartungen («Wir wollen mehr Demokratie wagen») versehene sozialliberale Bündnis aus SPD und FDP. Jenes «Reform»-Konstrukt aus politisch runderneuerten Sozial- und Freidemokraten also, das 1969 mit hauchdünner Mehrheit die erste Grosse Koalition unter dem schwäbischen CDU-Mann Kurt-Georg Kiesinger abgelöst und damit – gleichsam symbolhaft – die Adenauer-Ära beendet hatte. Es war ein dramatisches Ende in einem dramatischen Zeitabschnitt mit nicht minder dramatischen Auswirkungen vor allem auf die deutsche Innenpolitik. Unter anderem schlug damals die Geburtsstunde einer neuen «Bewegung» – der Grünen.
Grosse Aufregung in der kleinen Stadt am Rhein
Vier Jahrzehnte ist das nun her. Helmut Kohl, der von seinen politischen Gegnern und (nicht zuletzt) den Medien so oft und gern verspottete CDU-Vorsitzende aus der Pfalz, stand nun in den Startlöchern, um den in der Bevölkerung hoch populären «Welt-Staatsmann» Helmut Schmidt vom Thron zu stossen. Das geschah drei Wochen später, und Kohl blieb danach vier Legislaturperioden Bundeskanzler. Mithin 16 Jahre, in denen sich sogar die von kaum jemandem im Lande mehr für möglich gehaltene deutsche Wiedervereinigung vollzog. Am 17. September 1982 aber herrschte, kein Wunder, grosse Aufregung in der kleinen Bundeshauptstadt am Rhein. Trotzdem war die damalige Anspannung auch nicht nur ansatzweise mit der Erschütterung zu vergleichen, die elf Jahre zuvor das Land hatte erbeben lassen, als im April 1972 mit einem Konstruktiven Misstrauensvotum schon mal ein Kanzlersturz versucht worden war.
Später kam zutage, dass zwei Abgeordnete von CDU und CSU mit Stasi-Schmiergeldern aus der sicher erschienenen Abstimmungsmehrheit des Oppositionschefs Rainer Barzel herausgekauft worden waren. Dieser Vorgang schüttelte seinerzeit, buchstäblich, die Republik durch. Nicht nur in der Bevölkerung, sogar bei politischen Gegnern wurde der (verfassungsmässig völlig korrekte) Vorgang als moralisch verwerflicher Verrat an dem beliebten Kanzler‚ Willy Brandt, empfunden. Entsprechend hoch brandeten in jenen Tagen und Wochen die Wogen der Empörung, die zwei Jahre später dem Nobelpreisträger und der SPD bei den Bundestagswahlen einen geradezu sensationellen Erfolg bescherten.
Fortschritt und Freiheit
Welch ein Stimmungs-Unterschied zehn Jahre später. Als Willy Brandt und der damalige FDP-Chef Walter Scheel (entgegen der erklärten Absicht u. a. des strengen SPD-Zuchtmeisters Herbert Wehner) es 1969 gewagt hatten, ungeachtet einer nur hauchdünnen Parlamentsmehrheit ein Regierungsbündnis einzugehen, waren beide Seiten fest entschlossen, die innen- wie aussenpolitisch in Teilen verkrustete Bundesrepublik auf einen Reformkurs zu bringen. Personen wie der Rechtswissenschaftler Prof. Werner Maihofer und der langjährige Chefredakteur der «Frankfurter Rundschau», Karl-Hermann Flach, im Verein mit «jungen Wilden» wie Gerhard Baum und Burkhard Hirsch hatten den Freidemokraten mit den so genannten Freiburger Thesen einen linksliberalen Fortschritts-Anstrich verpasst. Und mit dem Sozialdemokraten Willy Brandt existierte insbesondere für die damalige Jugend ein Symbol für Freiheitlichkeit, Demokratie und Frieden.
Das alles war jedoch im Herbst 1982 aufgebraucht. Und zwar schon eine geraume Zeit. Wo waren der Mut und die Entschlossenheit geblieben, mit denen die Sozialliberalen einst mit einer neuen Ostpolitik die faktische Anerkennung der Nachkriegsgrenzen in Europa durchgesetzt hatten? Gegen den erbitterten Widerstand der oppositionellen Union und einer politisch zutiefst gespaltenen Öffentlichkeit, in der keineswegs nur die Vertriebenen-Verbände rebellierten. Heute weiss man: Ohne diese Vorarbeit wäre die spätere Vereinigung wohl nicht möglich gewesen. Inzwischen war Willy Brandt nur noch Ex-Kanzler. Er war, nach seinem Wahlerfolg 1974, in eine seltsame Verhaltensstarre und Lustlosigkeit für Entscheidungen gefallen und schliesslich sowohl über den an seiner Seite platzierten Stasi-Spion Günther Guillaume als auch über masslose Tarifforderungen der ÖTV-Gewerkschaft und deren Chef Heinz Kluncker gestürzt.
Mit seinem (bei den Wählern hoch angesehenen) hanseatischen Nachfolger Helmut Schmidt wiederum taten sich die Sozialdemokraten schwer – innerhalb und auch ausserhalb des Bonner Parlaments. Der Hamburger schwebte zwar wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber dem damaligen RAF-Terror und dabei insbesondere der (allerdings von allen im Bundestag vertretenen Kräften getragenen) Rettungsaktion der entführten Lufthansa-Passagiere im somalischen Mogadischu bei den Bürgern jenseits jeder Kritik. Aber die von ihm vertretene Aussen-, Sicherheits- sowie auch Sozialpolitik liess immer mehr seiner Parteigenossen auf Distanz zu ihm gehen.
Nachrüstung und soziale Einschnitte
Das galt vor allem im Hinblick auf den so genannten Nato-Doppelbeschluss, der ja sogar zuvorderst auf Betreiben des Bonner Regierungschefs zustande gekommen war. Allerdings keineswegs nur Schmidt allein beobachtete mit Sorgen die zunehmende Stationierung atomar bestückter sowjetischer Kurz- und Mittelstreckenraketen in Mittel- und Osteuropa und den damit einhergehenden Versuch Moskaus, das mühsam austarierte militärische, letztendlich den Frieden garantierende Gleichgewicht auf dem alten Kontinent zu seinen Gunsten zu verändern. Darauf antwortete – nach langem und zähem innerem Ringen – das westliche Bündnis im Dezember 1979 mit dem Doppelbeschluss und der darin enthaltenen Drohung, entweder baue der Kreml diese Geschosse wieder ab, oder es würden vergleichbare amerikanische Systeme in Europa aufgebaut – anders gesagt, nachgerüstet.
Was darauf folgte, wird vielen Zeitgenossen noch in guter Erinnerung sein. Massenproteste vor allem auf den deutschen Strassen und Plätzen. Und zwar keineswegs nur veranstaltet von wahren oder vermeintlichen Friedensfreunden und linken oder real-sozialistischen Kräften, sondern auch von hoch angesehenen Intellektuellen wie dem Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll beim Millionen-Aufmarsch am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten. Nein, es zeigte sich – für Schmidt und den Fortbestand der Koalition bedrohlich –, dass keineswegs allein der linke Parteiflügel der SPD, sondern mit Brandt selbst ganz vorn die Parteispitze von ihm abrückte und Partei-«Freunde», wie sein sicherheits- und energiepolitischer Erzfeind Erhard Eppler, immer grösseren Zuspruch und Zulauf erhielten.
Hinzu kam eine wirtschafts- und finanzpolitische Krise, in welche der Staat seinerzeit schlingerte. Wie sehr das Verhältnis des Kanzlers zu den eigenen Genossen in jener Zeit bereits zerrüttet war, zeigte sich im Sommer 1982 bei einem Auftritt vor der Bundestagsfraktion, in dem Helmut Schmidt die Lage beschrieb und die düsteren Alternativen, sie zu meistern. Es gebe, sagte er, nur zwei Möglichkeiten. «Aber die eine kann ich mit euch nicht machen, und die andere geht nicht mit mir. Das heisst: Entweder tiefe Einschnitte ins soziale Netz; da macht ihr nicht mit. Oder die Gelddruckmaschinen anschmeissen. Das aber ohne mich.» Die Stimmung in der Fraktion wurde von Teilnehmern als «eisig» beschrieben.
Gemeinsamkeiten aufgebraucht
Aber da gab es ja auch noch den Koalitionspartner, die FDP. Einer der Hauptakteure beim Bündnisschmieden 1969, Walter Scheel, hatte sich schon beizeiten abgeseilt, nachdem er sein lang angepeiltes Wunschziel durchgesetzt hatte – nämlich Bundespräsident zu werden. Dies verfolgte der allgemein als launig und fröhlicher Postillon-Sänger erlebte Chefliberale mit knallharter Entschlossenheit. Zum Beispiel: Während der dramatischen Stunden im Zusammenhang mit dem Brandt-Rücktritt 1974, als auch der Fortbestand des linksliberalen Bündnisses auf Messers Schneide stand, lag Scheel mit einer Gallensteinerkrankung in der Bonner Universitäts-Klinik, wo ihn führende Parteifreunde um den Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick bestürmten, auf die Präsidentschafts-Kandidatur zu verzichten und stattdessen die Koalition zu stabilisieren. Am Ende des Treffens war es hingegen so, dass Scheel sämtliche Besucher darauf verpflichtet hatte, seinen Anspruch auf das Amt des Staatsoberhauptes zu verteidigen – komme, was da wolle. Freunden gegenüber hatte Walter Scheel, im Übrigen, schon geraume Zeit zuvor befunden, die Gemeinsamkeiten mit den Sozialdemokraten seien «im Wesentlichen aufgebraucht».
Im Sommer 1981 sorgte schliesslich, unvermutet, ein Brief Hans-Dietrich Genschers an die Parteimitglieder für Aufsehen, in dem erstmals der Begriff «Wende» auftauchte: «Eine Wende ist notwendig, im Denken und im Handeln.» Es gelte, in der Gesellschaft eine «Anspruchsmentalität zu brechen». Der FDP-Chef hatte zwar keine Adressaten genannt. Aber natürlich wusste jeder, dass damit der traditionell ausgabefreudige, sozialdemokratische Regierungspartner gemeint war. Zumal Genscher – gewiss nicht zufällig – hinzugefügt hatte, «dass diese Politik der Wende auch weiterhin in der bestehenden Koalition aus SPD und FDP durchgesetzt werden sollte». Solche Sticheleien und Fingerhakeleien, die es früher nie gegeben hatte, nahmen zu. Bei der SPD kam hörbar eine «Genug-ist-genug»-Stimmung auf. Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, von nicht wenigen Sozialdemokraten als «rechtsliberale Symbolfigur» ausgemacht, gab in Interviews «auslegbare» Äusserungen von sich.
Dem Kanzler entgleitet das Geschehen
Es kam, wie es vermutlich unvermeidbar war. Die schiefe Ebene, auf der sich die Sozialliberalen befanden, neigte sich, ungeachtet aller Rettungsversuche der Fraktionsvorsitzenden Wehner (SPD) und Mischnick (FDP), immer mehr. Und damit entglitt auch dem Kanzler zunehmend die Kontrolle über das Geschehen. Noch im Februar 1982 hatte Helmut Schmidt eine Vertrauensfrage im Bundestag gestellt. Gegen den Rat wohlmeinender Freunde. Er gewann die Abstimmung. Logisch, war sie doch an keinerlei spezielles Handeln oder auch nur Vorhaben geknüpft. Das heisst, die eigene Parteilinke brauchte nicht zur Raketen-Nachrüstung Stellung zu beziehen. Genauso wenig wie die FDP zu wirtschafts- und finanzpolitischen Punkten, die immer heisser und erbitterter umstritten wurden. Kein Wunder daher, dass der längst in Lauerstellung befindliche Oppositionsführer Helmut Kohl im Kreise seiner Vertrauten mehrfach die Meinung vertrat, entweder springe die FDP bald, oder es werde für sie «immer teurer».
Mittlerweile weitgehend vergessen, aber vor vier Jahrzehnten für helle Aufregung in Bonn und darüber hinaus sorgend vollzog sich praktisch zugleich ein bemerkenswerter Vorgang im Bundesland Hessen. Dort war für Herbst 1982 eine Landtagswahl anberaumt, und die bis dahin mit der SPD verbundene FDP verkündete das Ende dieser Partnerschaft und die Absicht, nach dem Urnengang mit dem neuen CDU-Star Alfred Dregger in Wiesbaden zu regieren. Ausgerechnet mit Dregger, dem von der SPD zum rechten Flügelmann der Union erklärten Ex-Oberbürgermeister von Fulda! Genscher hielt sich in jenen spannungsgeladenen Tagen mit Äusserungen auffallend zurück. Offensichtlich war er sich nicht sicher, ob er die Mehrheit von Partei und Fraktion für einen Wechsel im Bund hinter sich scharen würde.
In dieses Vakuum sprang stattdessen Otto Graf Lambsdorff. Besonders als – bewusst oder ungewollt? – ausgerechnet ihn der Auftrag des Kanzlers erreichte, ein Papier zur Haushalts- und Wirtschaftspolitik zu erstellen. Daraus wurde (der wirkliche Autor war Lambsdorffs Staatssekretär Otto Schlecht) das später so bezeichnete «Scheidungspapier». Schmidt stellte einen «eklatanten Widerspruch» zur Regierungspolitik fest, Genscher verteidigte seinen Parteifreund Lambsdorff und kritisierte im selben Atemzug scharf die Aussen- und Sicherheitspolitik des sozialdemokratischen Koalitionspartners. Es war der Abend des 16. September 1982, der Vorabend des endgültigen Endes.
Rausgeschmissen oder zurückgetreten?
Der Rest ging später als «die grosse Frage» in die Geschichte ein. Die Frage nämlich, ob Schmidt in jenen Stunden wenigstens noch so weit «Handelnder» war, dass er die vier FDP-Minister Genscher (Aussen), Lambsdorff (Wirtschaft), Baum (Innen) und Ertl (Landwirtschaft) entliess – also rausschmiss. Oder aber ob die Freidemokraten einen Wimpernschlag schneller waren mit ihren Rücktrittsgesuchen. So oder so – zwei Wochen nach dem Bruch des sozialliberalen Bündnisses wurde Helmut Kohl über ein Konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt. Und blieb das 16 Jahre lang. Ja, entgegen dem dringenden Ratschlag wohlmeinender Freunde (aber auch von Franz-Josef Strauss) ging er damals sogar das Wagnis ein, schon ein halbes Jahr später vorgezogene Neuwahlen anzuberaumen, weil er die Legitimität der Wähler wollte. Zur Überraschung aller Beobachter gelang ihm im Frühjahr 1983 ein überzeugender Sieg. Und auch die FDP überlebte, obwohl sie zuvor durch den Übertritt einer Reihe von Anhängern des Linksliberalismus einen schmerzlichen politischen Aderlass hinnehmen musste.
Am schlimmsten jedoch wurden die Sozialdemokraten von der Entwicklung betroffen. Zwar konnte die SPD noch einmal die Hessenwahl gewinnen, weil es Helmut Schmidts treuestem Knappen, seinem langjährigen Regierungssprecher Klaus Bölling, gelang, mit einem ausserordentlich fragwürdigen «Tagebuch der letzten 30 Tage der Regierung Schmidt» der FDP die alleinige Schuld an dem Bruch aufzubürden. Dadurch drehte sich sozusagen in letzter Sekunde vor der Landtagswahl die Stimmung in Hessen, weshalb der bis dahin haushohe Favorit, Alfred Dregger, jahrelang kein privates Wort mehr mit Graf Lambsdorff wechselte. Aber die Bundes-SPD versank für lange Zeit in einem tiefen Trauma. Sie hatte nichts mehr – zerstritten in der Aussen- und Sicherheitspolitik, ein Parteivorsitzender Brandt, der sich in ein privates Schneckenhaus zurückzog, keine wirklichen Antworten auf die dringenden Fragen der Wirtschaft. Und einen ehemaligen Bundeskanzler, der sich zwar allerhöchster Anerkennung und Beliebtheit in der Bevölkerung erfreute, von der eigenen Genossenschaft jedoch weitestgehend wie ein Aussätziger behandelt wurde.
Der «Raketen-Parteitag» – ein Desaster
Das schlimmste Desaster bereiteten die Sozialdemokraten dem Hanseaten auf dem so genannten «Raketenparteitag» am 19. November 1983 in Köln. Es war eine gnadenlose Abrechnung mit dem Mann und seiner Sicherheitspolitik, die man selbst jahrelang mitgetragen hatte. Von den 400 Delegierten stimmten am Schluss noch ganze 14 für den einstigen Kanzler. Und nicht nur das. Helmut Schmidt musste sich anhören, mit seinem Eintreten für die Nato-Linie habe er sich zu einem «nützlichen Idioten der US-Angriffskrieger» gemacht. Tief gekränkt zog er sich an die Elbe zurück, wo er freilich nicht nur kluge Bücher schrieb. Schmidt stieg als Mit-Herausgeber bei der «Zeit» ein. Und weltweit tätige Agenturen vermarkteten ihn für gutes Honorar rings um den Globus. Irgendwann erinnerte sich auch die Partei wieder an ihn. Mehr noch, so manch ein Politiker tat viel, um etwas vom neuen Glanz des alten Kanzlers abzubekommen. Vor allem bei seinen letzten Geburtstagen hatte man oft den Eindruck, die Partei würde – wenn sie denn könnte – den Mann heiligsprechen, den sie vor knapp vierzig Jahren mit Schimpf und Schande in die Wüste geschickt hatte.