Innerhalb eines Jahres hat die Zahl der Italienerinnen und Italiener, die in «absoluter Armut» leben, um eine Million zugenommen. Die wachsende Armut in der drittgrössten EU-Volkswirtschaft ist zum dringenden Problem der Regierung von Mario Draghi geworden. Stark betroffen sind auch Kinder.
Linda Laura Sabbadini, eine Direktorin des «Istituto Nazionale di Statistica» (Istat), erklärt, nur dank staatlicher Unterstützung («reddito di cittadinanza», «reddito di emergenza») hätte eine weitere Million vor dem Abrutschen in die absolute Armut bewahrt werden können.
Gemäss dem soeben veröffentlichten Istat-Bericht sind insgesamt 5,6 Millionen Italiener und Italienerinnen «absolut arm». Die Zahl der verarmten Kinder hat sich seit 2005 mehr als verdreifacht. Jetzt leben 14 Prozent der italienischen Minderjährigen (1,4 Millionen) in absoluter Armut.
Immer weniger Kinder
Italien gehört weltweit zu den Ländern mit der tiefsten Geburtenrate. Im Durchschnitt kriegt eine Italienerin 1,25 Kinder. Um die Zahl der Bevölkerung stabil zu halten, müsste eine Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder gebären.
Seit 2008 geht die Zahl der Geburten in Italien zurück. Im ersten Quartal dieses Jahres gab es im Vergleich zum Vorjahr bereits ein Minus von 12 Prozent. Vor allem bei Frauen unter 30 Jahren nimmt die Zahl der Geburten stark ab. (In der Schweiz hat sich die Geburtenrate bei etwa 1,5 Kinder pro Frau stabilisiert.)
Wirtschaftliche Schwierigkeiten
Welches sind die Gründe für den Geburtenrückgang? Ein wichtige Rolle spielen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Viele Italienerinnen und Italiener können sich keine Kinder leisten. In der Privatwirtschaft verdient eine von drei Arbeitskräften weniger als 12’000 Euro im Jahr. 1,3 Millionen Menschen erhalten einen Stundenlohn von 8.40 Euro.
Zur unsicheren wirtschaftlichen Lage kommt die fehlende Unterstützung durch den Staat. Krippen gibt es in weiten Gebieten Italiens kaum.
Die Entwicklung zeigt auch den wachsenden, dramatischen Bedeutungsverlust der katholischen Kirche. Ihr ständiger Aufruf, Kinder zu zeugen, verhallt mehr und mehr.
Bevölkerungsrückgang
Innerhalb eines Jahres ist die italienische Bevölkerung um 658’000 geschrumpft. Damit ist die Einwohnerzahl zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder unter die 60-Millionen-Grenze gefallen.
Die Flüchtlinge und die ausländischen Arbeitskräfte kompensieren den Rückgang der italienischen Bevölkerung bei weitem nicht. Zwar steigt die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte wieder an, doch wesentlich weniger stark als früher.
Dazu kommt, dass immer mehr junge Italienerinnen und Italiener abwandern – aus Mangel an einer interessanten Perspektive. Vor allem die junge, gebildete Generation kehrt dem Land zu Hunderttausenden den Rücken.
«Hotel Mama»
Und jene, die bleiben, können sich oft keine eigene Wohnung leisten und wohnen deshalb weiterhin bei ihren Eltern im «Hotel Mama». Laut Istat verlassen die Jungen im Durchschnitt das Elternhaus erst im Alter von 34 Jahren.
Das Land der Singles
Stark zugenommen hat die Zahl der allein lebenden Italienerinnen und Italiener. Erstmals gibt es in Italien mehr Singles als Paare mit Kindern. Vor allem in den Städten leben mehr und mehr Menschen allein. In Mailand führt jede zweite erwachsene Person einen «Ein-Personen-Haushalt». Gemäss dem Istat-Bericht sind 33 Prozent der Bevölkerung Singles. Der Anteil der Paare mit Kindern beträgt 31,2 Prozent. Noch drastischer wird es gemäss einer Prognose von Istat im Jahr 2040. Dann wird es mehr kinderlose Paare als Paare mit Kindern geben.
Überaltert
Die fehlenden Geburten und die Abwanderung haben einen dramatischen Einfluss auf die Altersstruktur der Bevölkerung. Laut Istat gehört Italien zu den ältesten Ländern Europas. Zur Zeit sind 14 Millionen Menschen über 65 Jahre alt. Das entspricht etwa einem Viertel der Bevölkerung. In zwanzig Jahren werden es 34 Prozent sein. Das Belpaese wird immer mehr zum Land der Siebzig- und Achtzigjährigen.
Soziale Last
Die Überalterung bringt auch Italien eine enorme soziale Last. Da die Bevölkerung immer älter wird, steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Das Gesundheitswesen wird mehr und mehr belastet. Ein grosser Teil der älteren Menschen muss vom Staat finanziell unterstützt werden. Da immer weniger Kinder geboren werden, gibt es immer weniger Menschen, die die Renten und Sozialleistungen finanzieren.
Frauen
Die Situation der 25- bis 44-jährigen Frauen hat sich in den letzten 20 Jahren kaum verbessert. Die Hälfte der Frauen arbeitet nicht. Viele kümmern sich um die Kinder und vor allem auch um die alten, teils kranken Eltern. Ihre Rolle in der Familie ist die gleiche wie früher. Wirtschaftlich sind die meisten Frauen nicht autonom. «Wann werden diese Stereotypen überwunden?», fragt Istat-Direktorin Linda Laura Sabbadini.
«Das Land kann das meistern»
Trotz der wenig ermutigenden Zahlen des Statistikamtes versucht Sabbadini der Bevölkerung Mut zu machen. «Das Land kann diese x-te Herausforderung meistern», schreibt sie in einem Meinungsartikel in der Römer Zeitung «La Repubblica». Sie weist darauf hin, wie die Pandemie gemeistert und das Impfprogramm vorbildlich organisiert wurden. Und dass das BIP im letzten Jahr um über 6,6 Prozent gestiegen ist. «Italien, wenn es leidet, hat gezeigt, dass es reagieren kann», schreibt sie. Das Land erfinde sich immer wieder neu.
Und dennoch: Starke Zunahme der absoluten Armut und der Kinderarmut, Überalterung der Bevölkerung, immer weniger Kinder, Trend zum Ein-Personen-Haushalt, Abwanderung der Gebildeten, Druck auf die Sozialsysteme, Anstieg des BIP im ersten Quartal 2022 um nur 0,1 Prozent, rückläufige Industrieproduktion, sinkende Kaufkraft, Wassermangel, Dürre, vertrocknete Felder, Mafia – es gibt viel zu tun.