Zivilistinnen und Zivilisten im dichtbevölkerten nördlichen Teil des Gazastreifens, rund eine Million Menschen, sollen sich in den Süden verziehen. Das befiehlt die israelische Armee, die eine Bodenoffensive plant. Die Uno spricht von einer Katastrophe. Als Antwort auf den Hamas-Terror scheint aber vieles möglich geworden. Ein Kommentar von Marlène Schnieper*
Für Israelis, die sich in den Ortschaften nahe dem Gazastreifen niedergelassen hatten, war der Sirenenalarm zur Routine geworden. Die Raketen der Milizen aus dem benachbarten Palästinensergebiet waren wenig präzis und selten tödlich, manchmal zerschlugen sie ein Dach oder entzündeten ein Feld, viele zerstörte das Abwehrsystem Iron Dome im Flug.
Unfassbarer Mordrausch
An diesem Shabbatmorgen war alles anders. Nicht nur hagelte es Raketen jeder Reichweite. Die Menschen, die schlaftrunken die Schutzräume aufgesucht hatten, nahmen auch wahr, dass sich arabisch sprechende Kommandos von Tür zu Tür bewegten, wild um sich schossen und ganze Familien aus den Häusern trieben. Junge Leute, die an einem Musikfestival diesseits der Grenzmauer in die Nacht hineingetanzt hatten, wurden von islamistischen Kämpfern brutal niedergestreckt oder in den Streifen entführt. Mütter und Väter verbarrikadierten sich mit Kindern im nächstbesten Versteck, übers Handy vernahmen sie das Unfassbare: Einheiten des Islamischen Jihad und der Hamas hatten den milliardenteuren Schutzwall, der die Infiltration durch Tunnels unterbinden sollte, mit Pick-ups und Gleitschirmen überwunden.
Es dauerte Stunden, bis Israels Militär, neuerdings trainiert auf die Bewachung von Thoralesungen im besetzten Westjordanland, im Süden angekommen und fähig war, den terroristischen Überfall auf die eigene Zivilbevölkerung zu stoppen.
Kluge Reaktionen?
Kein Zweifel, der 7. Oktober 2023 wird als schwarzer Tage in die Geschichte des Landes eingehen. Verständlich der Schock der Israelis über mehr als 1200 Tote und Dutzende von Verschleppten in ihren Reihen. Die Frage muss in der Schweiz dennoch erlaubt sein, ob es klug ist, die Hamas, die auch eine soziale und eine politische Institution ist, pauschal als Terrororganisation abzustempeln, ihre Führer samt und sonders zu dämonisieren und sich auf die Vernichtung der islamistischen Organisation einzuschwören.
Vielleicht sollte man sich in dieser hochemotionalen Diskussion ein paar Fakten ins Gedächtnis rufen.
Dayan sah es voraus
Gaza machte nicht einmal zwei Prozent des historischen Palästinas aus, es lebten dort vor 1948 nur 80’000 Menschen. Dann kamen 200’000 Flüchtlinge an, Palästinenserinnen und Palästinenser, die aus jenem Teil des britischen Mandatsgebiets vertrieben worden waren, in dem die zionistischen Gründerväter damals den jüdischen Staat ausriefen. Der schmale Landstrich, halb so gross wie der Kanton Solothurn, wurde erst unter ägyptischer, dann unter israelischer Kontrolle zu einem gigantischen Flüchtlingscamp, sorgfältig separiert durch beide Staaten. «Was beklagen wir uns über ihren grimmigen Hass gegen uns? Sie sitzen jetzt schon acht Jahre in ihren Lagern im Gazastreifen, während wir vor ihren Augen das Land und die Dörfer ihrer Vorfahren in unsere Heimstätte verwandeln», mahnte Israels Armeechef Moshe Dayan bereits 1956.
67 Jahre und etliche Kriege später stellen die Vertriebenen von einst drei Viertel der mehr als zwei Millionen Einwohner im Küstenstreifen. In den acht Lagern, die über das Gebiet verteilt sind, wimmelt es von 20-Jährigen, die in ihrem Leben noch keinen Tag im Ausland waren, während gleichaltrige Israeli die Wahl haben zwischen Ferien auf Goa, einem Trip nach San Francisco oder einer Technoparty hart an der Grünen Linie vor Gaza City.
Jugend ohne Perspektiven – Nährboden für den Terror
Unter der palästinensischen Jugend ohne Arbeit, Auskommen und Perspektive rekrutieren die Extremisten ihren Nachwuchs. Bei allem Elend aber haben die Menschen dort ihren Stolz bewahrt. Wenn sie 2006 der Hamas in einem demokratischen Urnengang zum Wahlsieg verholfen hatten, so drückten sie damit zum einen ihre Enttäuschung über die Vetternwirtschaft der Fatah aus, zum andern ihre Ernüchterung über den Friedensprozess, auf den sich Arafats säkulare Partei eingelassen hatte. Nach jahrelangen Verhandlungen um des Verhandelns willen hatte dieser Prozess ins Nirgendwo geführt. Unglücklich darüber misstrauen heute viele der Fatah wie der Hamas. «Wir wollen schlicht überleben», sagen sie.
Der 7. Oktober 2023 war auch für die palästinensische Seite ein schwarzer Tag. Dass sich Mahmoud Abbas zur Gewaltorgie seiner Landsleute nur zögerlich äusserte, beweist, wie wenig vom kranken alten Mann an der Spitze der Autonomiebehörde in Ramallah noch zu erwarten ist. Der monströse Gewaltausbruch selbst lässt den Schluss zu, dass im Gazastreifen zumindest vorübergehend die Kriegstreiber und Terroristen das Zepter übernommen haben. Im blockierten Gaza ist die Bevölkerung als Ganzes zur Geisel der Islamisten geworden, kollektiv bestraft durch Israel, dass sie im Kampf gegen die Hamas gerade wieder in den Boden bombardiert.
Gemässigte Zitate von Hamas-Führern
Dabei gab und gibt es die moderaten Kräfte auch in der Hamas. In seiner Zeit als De-facto-Premier in Gaza sagte sich Ismail Haniya zwar nicht explizit von der Charta seiner Bewegung los, die bis heute auf die Zerstörung Israels zielt. Doch unter dem mässigenden Einfluss von Beratern wie Ahmed Yousef und Ghazi Hamad zeigte er sich wiederholt offen für eine Friedenslösung an der Seite Israels, die im Rahmen einer reformierten und geeinten Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO erarbeitet und durch ein breites Referendum unter seinem Volk abgesegnet würde.
«Hamas wird einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt akzeptieren, wenn unsere politischen Gefangenen freigelassen werden und unsere Flüchtlinge in aller Welt Gerechtigkeit erfahren», erklärte Haniya zum Beispiel an einer Pressekonferenz in Gaza, wie Reuters am 1. Dezember 2010 berichtete. In einem Gespräch mit der Autorin in Rafah träumte Yousef gar von einer Einstaatenlösung mit Kantonen, in denen Juden und Araber künftig ihre je eigenen und gemeinsamen Anliegen regeln könnten, friedlich, wie er es auf einer Schweizer Reise erlebt hatte.
Doch wen in aller Welt kümmern die Träume, Rechte und Grundfreiheiten der Menschen jenseits des Schutzwalls?
Drehen an der Gewaltspirale – auf beiden Seiten
In seiner Machtgier war Israels Premier Benjamin Netanyahu im Dezember 2022 ein Bündnis mit der äussersten Rechten eingegangen. Itamar Ben-Gvir, Vertreter der Partei Jüdische Stärke, wurde Minister für Nationale Sicherheit. Bezalel Smotrich, ein Religiöser Zionist, übernahm die Finanzen und dehnte seine Zuständigkeit auf die Zivilverwaltung aus, jene militärische Instanz, die das Leben der Palästinenser und der Siedler in der Westbank kontrolliert.
Ben-Gvir huldigte öffentlich dem Arzt Baruch Goldstein, der 1994 in einer Moschee in Hebron 29 Palästinenser beim Gebet massakriert hatte. Kaum im Amt betrat der Sicherheitsminister den Tempelberg in Jerusalem, ein Areal, auf dem nach geltendem Status quo nur Muslime beten dürfen. Smotrich war 2005 vom Geheimdienst Shin Bet festgenommen worden, mit 700 Liter Benzin für ein Attentat, mit dem er Ariel Sharons Abzug aus dem Gazastreifen verhindern wollte.
Verstärkte Siedlungsexpansion durch Netanjahus radikale Regierung
Vor den Geistern, die da gerufen wurden, hatte der israelische Philosoph Omri Boehm früh gewarnt. Ben-Gvir und Smotrich seien weder Konservative, die sich zu ethnischen Nationalisten gewandelt hätten, noch rechte Nationalisten, die nun als Populisten daherkämen, schrieb er in der «Zeit» vom 8. Dezember 2022. Sie spielten nicht mit rassistischen Klischees und hätten es auch nicht einfach versäumt, Gewalt zu verurteilen. Vielmehr hätten sie selber ausgiebige Erfahrungen mit Gewaltanwendung gesammelt und den «totalen Krieg» gegen die palästinensische Bevölkerung hüben und drüben lang schon angekündigt. Diese Ansage hat die Hamas gewiss gehört.
Inzwischen sitzen die Ultras in Jerusalem bald ein Jahr auf ihren Posten, auch Beny Gantz, der ehemalige israelische Generalstabschef, der sich mit Netanyahu jetzt auf ein Notstandskabinett geeinigt hat, wird daran nicht rütteln. Diese Leute hätten nichts als Hass gesät, gegen Andersdenkende gehetzt, Spaltung und Annexion vorangetrieben, stellte der Haaretz-Kolumnist Chaim Levinson kürzlich fest. Das Oberste Gericht wollten sie schwächen, weil es die Rechte der LGBTQ-Gemeinde schütze, Steuertricksereien unterbinde und palästinensische Bürgerinnen und Bürger, wenn nicht als gleichberechtigte, so doch als Menschen behandle.
Doppelmoral auch des Westens
Westliche Regierungen, auch die Schweiz, klammern sich tapfer und entgegen aller Evidenz an die Zweistaatenlösung. Wo blieb ihr Protest, als die Rechtsaussen in Netanjahus Kabinett in den vergangenen Monaten den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau im Westjordanland in einem Tempo vorantrieben, dass auch die letzte Hoffnung auf eine solche Lösung entschwand? Weshalb kräht hierzulande kein Hahn mehr danach, wenn israelische Siedler die Olivenhaine palästinensischer Bauern niederbrennen und mit Jagdflinten auf die Kinder dieser Bauern losgehen? Wer zählt noch die Toten in Gaza? Warum diese Diskrepanz? Weil es in Nahost doppelte Standards gibt – wie anderswo oder eher mehr.
*Marlène Schnieper berichtete für die Tamedia-Medien fünf Jahre aus Israel/Palästina. 2012 erschien von ihr im Rotpunktverlag das Buch «Nakba – die offene Wunde. Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Folgen».