Es sind schwer erträgliche Bilder, die der Lenzburger Kinobesitzer und Dokumentarfilmer André Baumann sen. unter Mitarbeit seines Sohnes André jun. seinerzeit eingefangen und vor kurzem in Lenzburg einem interessierten Publikum gezeigt hat. Der Film «Isegass» entstand ohne jeden Anstoss von aussen, ohne Subventionen (abgesehen von einem Beitrag der Ortsbürgerkommission für das Digitalisieren des 16mm-Films) und bisher auch ohne Aussicht auf einen Preis. Getrieben vom Gefühl, etwas sehr Signifikantes auf Zelluloid zu bannen, hat er die Zerstörung einer ganzen mittelalterlichen Häuserzeile eingefangen und damit für die Nachwelt dokumentiert.
Zerstörung eines Viertels der Altstadt
Rund ein Viertel der Lenzburger Altstadt wurde 1994/95 abgerissen. Man sieht auf den Bildern zunächst die intakte, aber äusserst baufällige Zeile von gut einem Dutzend Häusern, überwiegend aus dem Spätmittelalter. Seit Jahren blieb der Unterhalt vernachlässigt. Die Bewohner wurden vertrieben. Systematisch wurde der Besitz der ganzen Eisengasse in den Händen eines Konsortiums von zwei Immobilien-„Sammlern“ konzentriert, um so eine maximal profitträchtige Neuüberbauung zu ermöglichen.
Es waren Häuser, die an die Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert angebaut waren. Deren Höhe bestimmte zugleich die Dimensionen der Häuser. Die meisten waren aus Bruchsteinen, einzelne aber auch mit wunderschönen Riegelkonstruktionen gefertigt, wie sie in Stein am Rhein, Stammheim und anderswo das Herz der Touristen erfreuen. Wer in Murten die Stadtmauern besichtigt oder durch die Prager Unterburg schlendert, findet dort dieselben Typen von Häusern: relativ klein und meistens nur zweigeschossig – also zu klein für die Bedürfnisse heutiger Spekulanten, die im Interesse der Profitmaximierung mindestens vier Geschosse anstreben.
Es ist nicht zu fassen, dass so ein grauenvolles Zerstörungswerk noch vor zwanzig Jahren in Gang gesetzt werden konnte – in „unserer“ Zeit also, die wir uns für so respektvoll im Umgang mit historischer Bausubstanz wähnen. Es fehlte damals nicht an warnenden Stimmen, so etwa eines ETH-Professors für Denkmalpflege, der den damaligen Stadtrat von Lenzburg dazu drängte, die Eigentümer zu den überfälligen Unterhaltsarbeiten zu verpflichten. Bald auch kam für die alten Häuser – neuere Beispiele wie etwa in Regensdorf lassen grüssen – der Ausdruck „Schandfleck“ in Gebrauch, womit die Basis geschaffen war, um die öffentliche Meinung für den folgenden Vandalenakt einzunehmen.
Der Film «Isegass» beginnt unspektakulär. Er zeigt nach einer Übersicht über die alte Gasse von den verschiedenen Seiten her, wie ein Bagger sich zunächst an einem relativ unauffälligen Haus zu schaffen macht, die Mauern einreisst und das Ganze platt walzt, womit der Angriff auf die folgenden Häuser erleichtert ist.
Dann folgen Schlag auf Schlag die Häuser, eines nach dem anderen, mit dramatischen Einlagen, so etwa wenn der Kran die hochragenden spätmittelalterlichen Giebel mit Drahtseilen nach innen kippt, so dass die Fronten einstürzen, allerdings zuweilen erst im zweiten oder dritten Versuch, weil die Drahtseile reissen. Die Mauern waren erkennbar in besserem Zustand, als die Bauherren es dargestellt hatten. Es folgen einige besonders traurige Bilder mitten aus dem Winter, als die Arbeiten wegen des Schnees einige Wochen ruhen mussten und die verbleibenden besonders schönen Häuser noch dastanden.
Aber, der Zuschauer ahnt es, auch diese kommen noch dran. Allerdings zeigt sich, dass das letzte, besonders alte Haus, das gemäss Gutachten wohl aus dem 14. oder 15. Jahrhundert stammte, nicht so einfach eingerissen werden kann. Vielmehr müssen die Arbeiter zuerst die Riegelkonstruktion mit kunstvoll geschwungenen Balken, die zuvor nicht sichtbar waren, freilegen, was zugleich den Blick auf das Zerstörungswerk im Innern freigibt. Man sieht, wie eine spätmittelalterliche Küche, getäferte Wände, ein Kachelofen aus einer sehr alten Zeit zertrümmert werden. Am Ende wird das Riegelgerüst eingeschlagen.
Der Wahnsinn am Ganzen: Niemand wusste, wie alt diese Häuser waren und was sie verbargen, weil keine baugeschichtliche Untersuchung stattgefunden hatte. Gegen Ende des Films sieht man, wie die Arbeiter die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer sichern. Es sind dies zwei Mauerstücke von vielleicht dreissig und zwanzig Metern Länge. Diese sind durch das Entfernen der Häuser, die sie während Jahrhunderten stützten, akut einsturzgefährdet und werden nun eilig gesichert. Dies geschieht durch das Zumauern von Fensteröffnungen, die über die Jahre hinweg in die Stadtmauern geschlagen worden waren.
Kult des scheinbar Originalen
Für die Reparatur verwendete man Zementsteine und überdeckte sie mit einer Schicht von Bruchsteinen, damit das Innere der an dieser Stelle geplanten Neubauten authentisch alt wirken möge. Zwischen den beiden Mauerabschnitten mit der ursprünglichen Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert wurden indessen die wohl etwas jüngeren Mauerabschnitte bis auf die Grundmauern abgebrochen – auch dies eine Konzession an den Kult des „Originalen“, als ob es für die Ästhetik der Innenräume der Neubauten einen Unterschied machen würde, ob die Natursteinmauern aus dem 14. oder vielleicht aus dem 16. Jahrhundert stammen.
Der Film schliesst – musikalisch mit etwas weniger ernst-tragischen Melodien unterlegt – mit Bildern von der Neuüberbauung, die sich heute anstelle der alten Häuserzeile erhebt. Man mag die moderne Architektur schätzen oder auch nicht. Tatsache bleibt, dass die Neubauten nicht in die Altstadt gehören und dort für immer einen Fremdkörper bilden werden. Heute ist die Eisengasse, eine einstige Marktgasse, keine Begegnungsstätte mehr, sondern konstant menschenleer, auch wegen der privatisierten, eingezäunten Gartenplätze, die mit der Idee jeder Altstadt kontrastieren, dass man mit dem Verlassen des Hauses unmittelbar öffentlichen Grund betritt.
Nicht eingliederungsfähig sind die neuen Häuser aber auch ihrer Dimension wegen, sind sie doch – Gewinnstreben hat bekanntlich seinen Preis – doppelt so hoch wie die alten Häuser es waren, deren Dächer direkt auf der Stadtmauer ruhten. So bilden die konservierten Reste der Stadtmauer heute einen ärgerlichen Kontrast zu einem sonst kohärenten modernen Ensemble und wirken wie Gartenvormauern. Dass ihre Restauration aus öffentlichen Mitteln der Denkmalpflege finanziert wurde, ist ein doppeltes Ärgernis. Schlimmer könnte man Denkmalschutz nicht ad absurdum führen.
Inzwischen hat Lenzburg zwei Jubelveranstaltungen auf die Neuüberbauung erleben müssen, sogar ein Preis wurde zuerkannt. Ironischerweise erhielten die Preisträger einen Bildband mit Fotos der alten Idylle, die sie zerstört haben. Und ein Chor intonierte alte Aargauer Volkslieder. So gehört das zum typischen Ritual: am Ende wird der Kulturfrevel zelebriert.
Verlorenes Juwel
Dank André Baumanns Film «Isegass» – wann erhält er einen Denkmalschutzpreis? – wird man indessen nicht vergessen können, dass hier ein Juwel vom Range eines Stein am Rhein, einer Murtener Gassenzeile verloren gegangen ist. Ein noch immer amtierender Stadtrat, der sich diesem Film und seiner Wirkung nicht entziehen wollte, machte die jahrelange Vernachlässigung der alten Häuser verantwortlich. Man habe einfach nicht mehr anders entscheiden können.
So läuft das bis heute, immer nach dem Schema: Man kaufe geschützte Häuser, vernachlässige sie nach Kräften und helfe allenfalls etwas nach (aber nur so, dass es niemand merkt), kooperiere bestens mit den kommunalen Behörden – und schon hat man die Bewilligung für den Abbruch, allenfalls geschönt durch die Bezeichnung „Schutzvertrag“ oder gar gekrönt mit einem Gestaltungsplan, was die Ausnützungsziffern vervielfacht. Insofern gilt tatsächlich "Lenzburg ist überall“. Mehr denn je sieht man Beispiele für das, was sich hier zugetragen hat.
Isegass
Dokumentarfilm von André Baumann sen. und André Baumann jun.
Schnitt/DCP: Raphael Gmür, Boswil AG
Musik: Piano-Dan (Daniel Kellenberger), Othmarsingen AG
Alle Bilder: Filmstills aus „Isegass“, © André Baumann sen., Lenzburg