Der Stromkonsum der fünf Insassen ist so hoch wie jener von 12‘000 Slumbewohnern. Doch der Vergleich ist unfair. Man muss schliesslich auch die 300 Angestellten mitzählen, die für Nita und Mukesh Ambani und ihre drei Kinder arbeiten und zusammen mit den 180 Parkplätzen die sechs untern Stockwerke besetzen.
Doch Wohnfläche korreliert bekanntlich oft nicht mit der Zahl der Insassen, sondern mit deren Einkommen. Und wenn dies das Kriterium ist, dann wohnt Mukesh Ambani ungefähr richtig, denn er ist, als reichster Inder, 27 Milliarden Franken wert. Da sein Grossvater noch ein armer Dorfschullehrer war, empfindet er vielleicht das Bedürfnis, seinen neuen Reichtum zur Schau zu stellen: ein Ballsaal für 300 Eingeladene, mit der Welt grösstem Kronleuchter, Perlmutt-Böden, ein Marmor-Tempel, Priester und Musikanten inbegriffen, neun Express-Lifts.
63 Dollarmilliardäre, 300 Millionen Hungrige
Das neue Wahrzeichen Mumbais hat zumindest einen positiven Nebeneffekt: Es hat die Diskussion über die Frage neu entfacht, ob Reichtum auch die Pflicht umfasst, ihn zu teilen. Ich weiss, soziale Verantwortung ist universell und kennt keine nationale Grenzen – jeder Weltbürger ist gleichermassen in die Pflicht genommen. Aber gilt sie nicht in besonderem Mass für jene Reichen, deren Landsleute noch zu Millionen unter dem Existenzminimum leben? Die Frage scheint mir gerade in Indien berechtigt, da das Land auf der ‚Forbes‘-Liste mit 63 Dollarmilliardären geführt wird, dasselbe Indien, in dem 300 Millionen ihrer Mitbürger nicht genug zu essen haben.
Die Obszönität von ‚Antilia‘ ist nicht die Tatsache, dass sich ein Milliardär als moderner Maharadscha gebärdet, sondern dass sein Besitzer kaum etwas tut, um der sozialen Verpflichtung von Kapitaleigentum nachzuleben. Ambani ist hier in guter Gesellschaft mit Lakshmi Mittal, dem indischstämmigen britischen Besitzer des grössten Stahlunternehmens der Welt. Gefragt, warum er nicht mehr für Sozialwerke tue, antwortete er vor einigen Jahren, die Frage sei „noch zu früh“ (eine beruhigende Bemerkung für Normalsterbliche: Selbst mit 43 Milliarden ist man seines Geldes noch nicht sicher).
Warum können Ambani und Mittal, fragte selbst die geschäftsfreundliche ‚Economic Times‘, „nicht so handeln wie die Reichen im Westen, die Wohlfahrtsorganisationen oder Kulturinstitutionen unterstützen? Weist der indische Charakter einen Mangel an sozialem Pflichtbewusstsein auf, die Unfähigkeit, sich mit armen Mitbürgern zu identifizieren?“ Die ‚Times‘ erwähnte als Gegenbeispiele Bill Gates und Warren Buffett. Nicht nur hätten sich die beiden reichsten Weltbürger verpflichtet, den Grossteil ihres Vermögens wohltätigen Zwecken zuzuführen. Gates hat seines bereits überschrieben, und Warren Buffett lebt seit vierzig Jahren in der gleichen bescheidenen Wohnung in Omaha, Nebraska. Aber es gibt nicht nur den Krösus Ambani, es gibt auch Citizen Azim Premji. Der Mehrheitsbesitzer der IT-Firma WIPRO hat kürzlich 1.2 Milliarden seines Vermögens in die nach ihm benannte Stiftung eingebracht, die bereits 40‘000 Primarschulen betreibt.
1,2 Millionen private Wohlfahrtsorganisationen
Doch bringt es etwas, die beiden gegeneinander auszuspielen? Ambani wie Premji sind Solitäre, die sich kaum als Repräsentanten eines Nationalcharakters hergeben. Die Frage bleibt daher bestehen: Gehört soziale Indifferenz zur indischen Mentalität?
Ein Milliardenvolk lässt sich nicht über einen Leisten schlagen, doch Fakt ist, dass es hier rund 1.2 Millionen private Wohlfahrtsorganisationen gibt, von Indern geführt, von Indern unterstützt. „Invisible, but Widespread“ lautete der Titel einer Studie der Stiftung PRIA von 2002, in der dargelegt wurde, dass Inder im Jahr umgerechnet vier Milliarden Franken für ‚gute Zwecke‘ spenden. Noch bedeutsamer war die Einsicht, dass diese Wohltätigkeit nicht an Reichtum gebunden ist. Arme Menschen und Leute aus ländlichen Gegenden sind ebenso hilfsbereit wie berufstätige Städter. Allerdings, der ‚gute Zweck‘ ist einseitig gelagert. Die „überwältigende Mehrheit“ der Spenden, so die PRIA-Studie, fliesst in religiöse Institutionen und Aktivitäten, gefolgt von humanitärer Hilfe. „Transformative Philanthropie“, wie PRIA-Gründer Rajesh Tandon Investitionen in Erziehung und Gesundheit, in Förderung der Fraün und guter Regierungsführung nennt, rangiert abgeschlagen an dritter Stelle.
Doch würde diese Rangierung bei uns im Westen anders aussehen? Es ist zwar wenig sinnvoll, zwei Zivilisationen gegeneinander auszuspielen. Aber immerhin könnte man fragen, ob der altruistische Instinkt, den Biologen als universelle genetische Konstante festgestellt haben, sich in Indien anders ausgeprägt hat als bei uns im Westen. Könnte es sein, dass der abendländische ‚Sozialinstinkt‘ von einem dualistischen Denkschema bestimmt wird? Kommerz und Caritas schliessen sich aus, denn das Eine ist negativ besetzt, das Andere positiv. Caritas darf daher nicht mit dem bösen Mammon befleckt werden, es sei denn, er ist zur humanitären Spende umgetauft worden. Im Business sind wir hart auf Profit aus, doch im karitativen Bereich wollen wir nichts davon wissen.
In welchem Stock ist der Autoschlüssel?
Der Inder ist da viel offener für unvermeidliche Überlappungen. Für ihn ist es Teil des ‚Dharmas‘, seiner moralischen Pflicht, Geld zu verdienen, und Geld zu spenden. Beides ist ethisch gleichgestellt, und beides greift sich unter die Arme. In den Rechnungsbüchern der geschäftstüchtigen Jains gibt es spezielle Kolonnen für gemeinnützige Ausgaben, fein säuberlich aufgeteilt – ‚gifts of compassion‘, ’gifts of duty‘, ‚gifts of religion‘, ‚gifts to earn fame‘. Aber ist man mal in Geldnot oder benötigt Sicherheiten, darf man frühere Geschenke an einen Tempel als Zahlungsgarantien einsetzen. Gott als Bankier? Pfui! Doch gemach: Spenden wurden zwar dem Tempelgott gutgeschrieben, aber in dessen kindlicher Inkarnation. Er braucht daher einen Vormund, in Form des Tempelpriesters.
Diese theologisch-monetären Verrenkungen kümmern den Bombaywallah natürlich nicht, wenn er, auf seiner langen Fahrt zur Arbeit im berstend vollen Vorortszug, das Luftschloss Antilia aus dem Getümmel der Stadt in die Höhe ragen sieht. Aber er tröstet sich mit Humor über den ökonomischen Graben hinweg. Etwa diesem Witz: Mukesh Ambani steht morgens im 15. Stockwerk auf, er macht ein paar Schwimmübungen im Pool (17.Stock), isst im 19. das Frühstück, zieht sich im 14. an, sammelt im 21. Stock seine Papiere zusammen, gibt Neetabhabhi im 16. einen Goodbye-Schmatz, den Kindern einen im 13., und fährt in die Parkgarage zum 3. Stock hinunter, um in seinen Maybach zu steigen. Oh Schreck – er hat den Autoschlüssel vergessen. Doch in welchem Stock nur?