Bereits während des neunwöchigen Wahlkampfs zeichnete es sich ab. Je näher der Wahltag rückte, um so deutlicher wurde, dass die von Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi angeführte Nationale Liga für Demokratie (NLD) die von den Streitkräften unterstützte Regierungspartei Union der Solidarität und Entwicklung (USDP) besiegen wird. Die Wahlbeteiligung war mit rund 80 Prozent hoch, der NLD-Sieg klar. Mit über 250 Sitzen verfügt die NLD im 440 Sitze zählenden Unterhaus über eine Mehrheit. Dies ist um so bemerkenswerter, als der Armee ohne Wahl qua Verfassung 25 Prozent oder 110 Sitze zustehen. Auch für die Parlamente in den von zum Teil rebellierenden Minderheiten bewohnten Randstaaten hat die NLD sehr gut abgeschnitten. Die Wahlen verliefen nach dem Urteil von Beobachtern der EU weitgehend ohne grössere Probleme, also frei und fair.
Zum dritten Mal
Es ist der dritte Anlauf zur Demokratie, seit die ehemalige britische Kronkolonie 1948 unabhängig wurde. Bis zum Militärputsch von General Ne Win 1962 – einem Kampfgefährten des 1947 ermordeten Vaters von Suu Kyi, General Aung San – regierten verschiedene Parteien, denen es im dauernden politischen Hickhack nicht gelang, das ökonomisch vielversprechende Burma zu entwickeln. Die einstige Reiskammer Ostasiens versank in Armut und Hunger. Der von den Generälen verordnete „buddhistische Sozialismus“ half nicht weiter.
1988 rebellierten die Studenten. Aung San Suu Kyi – aus dem Ausland zurückgekehrt, um ihrer alten Mutter beiszustehen – hielt ihre ersten flammenden Reden vor Studenten in der Shwedagon-Pagode. Die Rebellion wurde von den Militärs blutig unterdrückt, 3000 Menschen kamen ums Leben. Suu Kyi verbrachte die nächsten siebzehn Jahre entweder im Gefängnis oder unter Hausarrest.
Wohl in der Annahme, sie könnten das Wahlergebnis steuern, setzten die Militärs 1990 überraschend allgemeine Wahlen an. Die NLD errang einen Erdrutschsieg. Die Uniformierten jedoch dachten nicht daran, das Wahlergebnis zu validieren. Erst 2010 liess General Nummer eins, Diktator Than Shwe, wieder wählen nach der von den Militärs konzipierten politischen Strategie einer „disziplinierten Demokratie“. Die Militärpartei USDP gewann. Die NLD boykottierte auf Geheiss vonAung San Suu Kyi die Wahlen. Doch einige jüngere NLD-Mitglieder gründeten eine eigene Partei und konnten überraschend einige Sitze erobern.
2011 dann eine neue Überraschung: General Thein Sein, ein enger Vertrauter von Diktator Than Shwe, wurde Präsident. Aus der massgeschneiderten Uniform und in zivile Massanzüge geschlüpft, präsidierte er seither eine Regierung, die zügig reformierte. Neue Investitionsgesetze, Freilassung von politischen Gefangenen, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Schliesslich auch Freilassung Suu Kyis aus dem Hausarrest sowie Legalisierung der NLD und – dies vor allem – ein offenbar fruchtbarer Dialog mit dem ehemaligen politschen Häftling Numer eins.
Macht der Armee – Federstrich genügt
Ist somit in Burma-Myanmar der dritte Anlauf zur Demokratie seit 1948 gelungen? Noch ist es zu früh, diese Frage positiv zu beantworten. Die Armee verfügt nach wie vor über immense Macht. Es sind nicht nur die 25 Prozent der Sitze im Unterhaus, die der Armee zustehen und die eine Verfassungsänderung verhindern, denn dafür bräuchte es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Der Armeechef kann zudem, unter welchem Präsidenten auch immer, die wichtigsten Ressorts bestimmen, also den Innen- und den Verteidigungsminister sowie den Minister für Grenzsicherheit.
Unter gewissen Umständen können die Streitkräfte sogar kurzerhand die Regierung absetzen. Ein Federstrich genügt. Ausserdem sind die Uniformierten sehr stark in der legalen und illegalen Wirtschaft involviert. Kampflos werden die burmesischen Soldaten ihre während der 50jährigen Diktatur errungenen Privilegien nicht aufgeben.
Niederumgen der Realpolitik
Auch die siegreiche NLD muss sich wohl in den Niederungen der real existierenden Politik neu erfinden. Aung San Suu Kyi wird respektiert und im ganzen Land geliebt. Aber innerhalb der Partei gilt sie als autoritär, als kritikempfindlich und kritikresistent. So sind bei den Wahlen Repräsentanten der 88er-Rebellion übergangen worden. Auch hat die NLD keinen einzigen Muslim als Kandidaten portiert. Das ist derzeit in Myanmar ein ganz heikles Thema.
An den Wahlen zum Beispiel konnten die rund eine Million muslimischen Rohingyas im Rakhine-Staat an der Grenze zu Bangladesh nicht teilnehmen, weil sie als „bengalische Migranten“ gelten. Dies obwohl sie seit Generationen, zum Teil seit Jahrhunderten in Burma leben. Bei Progromen vor drei Jahren in Sittwe und andern Orten kamen Hunderte von Menschen ums Leben. Moscheen und Wohnhäuser wurden vom buddhistischen Mob abgefackelt, Tausend wurden verletzt. Die Sicherheitskräfte schauten zu und schritten nicht ein. Zehntausende Rohingyas wurden vertrieben oder in Lager gepfercht. Rohingyas sind keine burmesischen Staatsbürger, können kein Land erwerben, dürfen maximal zwei Kinder haben.
Hetze gegen Muslime – Suu Kyi schweigt
Im zu über 90 Prozent buddhistischen Burma stilisieren, seit wieder Meinungs- und Pressefreiheit gilt, buddhistische Mönche die Muslime als Gefahr. In übelster Weise wird auf dem Internet und auf Flugblättern gegen sie gehetzt, angeführt vom mittlerweile landesweit bekannten Mönch Wirathu. Auch in andern Landesteilen kam es inzwischen zu Ausschreitungen. Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aber schweigt. Nur einmal hat sie sich zu Wort gemeldet. Auf beiden Seiten sei es zu Gewalt gekommen, meinte sie ausweichend und hat damit die Rohingyas gleich nochmals ausgegrenzt und gedemütigt, denn die Gewalt ging eindeutig vom von Mönchen aufgehetzten Mob aus.
Die Demokratie-Ikone Suu Kyi ist in der politischen Realität angekommen. Ein Wort zu viel über die Rohingyas, und sie wäre in den Augen vieler Wähler diskreditiert gewesen. Allerdings wird jetzt Suu Kyi die moralische Autorität und Deutungshoheit nur wiedergewinnen, wenn sie Ungerechtigkeiten, wo und wie immer sie auftreten, eindeutig verurteilt. Der Südafrikaner Nelson Mandela könnte ein gutes Vorbild sein.
„Ich werde alle Entscheidungen treffen“
In den nächsten Wochen und Monaten jedoch muss die ehemalige politische Gefangene Daw Aung Suu Kyi erst einmal mit den Militärs zu Rande gekommen, gerade weil der NLD-Wahlsieg so deutlich ausgefallen ist. Wer künftig Präsident sein wird, ist die entscheidende Frage. Die NLD-Chefin sagte gegenüber dem britischen Fernsehen selbstbewusst: „Als Führerin der siegreichen Partei werde ich alle Entscheidungen treffen“.
Gegenüber Channel News Asia ging sie noch einen Schritt weiter: „Ich bin über dem Präsidenten.“ Aung San Suu Kyi kann qua Verfassung nicht Präsidentin werden, da ihr verstorbener Mann und ihre beiden Söhne britische Staatsbürger sind. Dieser Verfassungsgrundsatz wurde übrigens nicht, wie oft verbreitet, spezifisch für Suu Kyi formuliert. Vielmehr fand er sich bereits in jener Verfassung, die noch von ihrem Vater General Aung San mitverfasst worden ist.
Möglich ist, dass Suu Kyi als Vorsitzende des Unterhauses die politischen Fäden ziehen wird. Ein reiner Marionetten-Präsident von Suu Kyis Gnaden ist weniger wahrscheinlich, weil es den Widerstand der an den Wahlurnen besiegten Militärs provozieren könnte und überdies kaum verfassungskonform wäre. Burmesische Beobachter, welche das politische und militärische Gras wachsen hören, glauben noch an ein anderes mögliches Szenario. Reform-Präsident Thein Sein, der sich mit Aung San Suu Kyi gut versteht, tritt nochmals als Präsident an mit dem unausgesprochenen Versprechen an die NLD, schnell verfassungsmässige Reformen einzuleiten. So wäre auch ein langsamer, ordnungsgemässer und friedlicher Rückzug der Streitkräfte möglich.
Hohe Erwartungen
Die nahe Zukunft wird zeigen, wie auf der politischen Bühne und hinter den Kulissen das Schicksal Myanmars bestimmt werden wird. Die Erwartungen an die Nationale Liga für Demokratie, in Aung San Suu Kyi, aber auch in die Streitkräfte sind riesengross. Die Menschen in diesem bitterarmen Land hätten einen demokratischen Neuanfang verdient. Im Februar wird das Parlament in einem komplizierten Prozedere den neuen Präsident wählen.