Madeleine Albright, Amerikas erste Aussenministerin, ist im Alter von 84 Jahren an Krebs gestorben. Sie sah die USA als unverzichtbare Nation und plädierte für einen durchsetzungsfähigen Multilateralismus. Ihr besonderes Interesse galt Autokraten wie Wladimir Putin oder Donald Trump.
«Putin macht einen historischen Fehler», schrieb Madeleine Albright in einem Kommentar für die «New York Times» einen Tag vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine. Sie war im Jahr 2000 die erste amerikanische Regierungsvertreterin gewesen, die den neuen russischen Präsidenten in Moskau traf. Im Kreml sass Albright Putin an einem kleinen Tisch gegenüber und war während des fast dreistündigen Gesprächs von Anfang an überrascht, wie stark sich der damals 48-Jährige von seinem bombastischen Vorgänger Boris Jelzin unterschied.
Auf dem Rückflug nach Washington DC notierte Madeleine Albright ihre Eindrücke des Treffens. «Putin ist klein und bleich», hielt sie fest, und «so kalt, als wäre er fast ein Reptil». Er sagte ihr, er verstehe, weshalb die Berliner Mauer habe fallen müssen, habe aber nicht erwartet, dass die ganze Sowjetunion kollabieren würde: «Putin schämt sich dafür, was seinem Land widerfahren ist, und ist entschlossen, dessen Grösse wiederherzustellen.» Sollte der russische Präsident die Ukraine überfallen, wäre das ein historischer Irrtum, schrieb sie am 23. Februar 2022.
Ein anti-demokratischer Präsident
Denn statt Russlands Weg zu alter Grösse zu ebnen, so die frühere Aussenministerin, würde die Invasion Wladimir Putins Infamie verfestigen, weil er sein Land angesichts einer stärkeren, geeinteren Allianz diplomatisch isoliere, wirtschaftlich behindere und strategisch verwundbarer zurückliesse: «Obwohl Mr. Putin aufgrund meiner Erfahrung nie zugeben wird, dass er Fehler macht, hat er doch bewiesen, dass er sowohl geduldig als auch pragmatisch sein kann. Es ist ihm sicher bewusst, dass ihn die aktuelle Konfrontation von China abhängiger macht; er weiss auch, dass Russland ohne gewisse Beziehungen zum Westen nicht gedeihen kann.»
Madeleine Albright war früher auch nicht davor zurückgescheut, Donald Trump in die Nähe eines Faschisten zu rücken: «Wenn wir an Faschismus denken wie eine Wunde aus der Vergangenheit, die beinahe geheilt ist, dann gleicht der Einzug Donald Trumps ins Weisse Haus dem Wegreissen eines Heftpflasters und dem Kratzen an der Narbe.» Amerikas Ex-Präsident bediene sich ähnlicher Methoden und Mittel wie die Diktatoren der 1930er Jahre, so zum Beispiel des Aufhetzens der Bevölkerung gegen «Feinde» oder der Schwächung, Diskriminierung und Eliminierung liberaler Institutionen: «Donald Trump ist der erste anti-demokratische Präsident der modernen US-Geschichte.»
Eine Helferin Hillary Clintons
Wie nahe Madeleine Albright den Verlauf des Krieges in der Ukraine vor ihrem Tod noch hat verfolgen können, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie auch nach ihrem Rücktritt als Aussenministerin an Politik und aktuellem Zeitgeschehen äusserst interessiert geblieben ist. 2016 unterstützte sie aktiv Hillary Clintons Präsidentschaftskampagne, weil sie überzeugt war, dass die frühere First Lady eine bemerkenswerte Präsidentin geworden wäre. Von Anhängerinnen Bernie Sanders’ ist damals Albrights Ausspruch als frauenfeindlich missverstanden worden, wonach in der Hölle ein besonderer Platz für Frauen reserviert sei, «die einander nicht helfen».
Doch Amerika, hat sie in einem Interview mit dem Londoner «Guardian» gesagt, habe leider Probleme mit Frauen in der Politik, was sie als Aussenministerin und zuvor als Uno-Botschafterin wiederholt zu spüren bekommen habe: «Wir sind gut darin, in vielen Dingen die Nummer eins zu sein, aber in dieser Beziehung sind wir es nicht, und ich weiss nicht warum. Denn an äusserst qualifizierten Frauen mangelt es bestimmt nicht.»
Flüchtling und Emigrantin
Madeleine Albright gründete nach 2000 eine Beratungsfirma und ein Managementunternehmen, dozierte an der Georgetown University und schrieb mehrere Bücher, unter ihnen «Prague Winter» (2013), ihre Kindheitsmemoiren, sowie «Facism: A Warning» (2018), eine Analyse, deren eines Kapitel Waldimir Putin gewidmet ist und in der sie einräumt, der Westen habe die Demütigung Russlands nach dem Ende des Kalten Kriegen und die Anfälligkeit des Landes für die Versprechen eines nationalistischen starken Mannes unterschätzt. 2020 erschien ihr letztes Werk «Hell and Other Destinations: A 21st-Century Memoir».
Madeleine Albrights fünfköpfige Familie emigrierte 1948 nach der Machtübernahme durch die Stalinisten aus der Tschechoslowakei in die USA, nachdem sie 1938 ein erstes Mal vor den Nazis aus Prag in die Schweiz geflohen und während des Zweiten Weltkriegs nach London umgezogen war. In der Schweiz besuchte Madeleine, als Marie Jana geboren, das Préalpina Institut pour Jeunes Filles am Genfersee. Dass ihre Familie, die zwischenzeitlich zum Katholizismus konvertiert hatte, jüdisch war, hat sie nach eigenem Bekunden erst 1997 aufgrund eines Porträts der «Washington Post» erfahren.
Jüdische Herkunft
Kritiker wunderten sich, wie eine ausgewiesene Kennerin der tschechischen Geschichte das nicht habe wissen können. «Wir haben das nie diskutiert. Meine Eltern waren fabelhafte Menschen, die alles für ihre Kinder taten, was sie tun konnten (…) ich mag ihre Motivation nicht hinterfragen», antwortete sie seinerzeit auf eine entsprechende Frage der «Post». Ihr Vater, der Diplomat Josef Korbel, unterrichtete nach Ankunft der Familie in Denver an der University of Colorado internationale Beziehungen. Eine seiner Studentinnen war Condoleezza Rice, die als Nachfolgerin Madeleine Albrights unter George W. Bush Aussenministerin wurde.
Madeleine Albright traf Bill Clinton, als sie 1988 im Präsidentschaftswahlkampf Michael Dukakis, den Gouverneur von Massachusetts, in aussenpolitischen Fragen beriet. Zuvor hatte sie an der Columbia University in «Öffentliches Recht und Regierung» promoviert. Ihr Doktorvater in New York war Professor Zbigniew Brzezinski, wie sie ein Flüchtling aus Osteuropa und von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter.
Als Clinton dann 1992 ins Weisse Haus einzog, ernannte er Albright zur Uno-Botschafterin in New York. Ihre Motivation, dem Staat zu dienen, sagte sie später, sei es gewesen, «für den Umstand zurückzuzahlen, dass ich eine freie Person war». Ihre Vita hätte auch ganz anders aussehen können.
Befürworterin von Militäreinsätzen
Als Uno-Botschafterin machte sich Madeleine Albright gegen den anfänglichen Widerstand Bill Clintons und der internationalen Gemeinschaft für eine Militäraktion im Jugoslawien-Krieg stark. Die Szenen ultranationalistischer serbischer Milizionäre, die bosnische Muslime in Eisenbahnwagen zwangen, erinnerten sie an den Holocaust. Sie machte sich für Luftangriffe auf serbische Stellungen stark und schockierte US-Generalstabschef Colin Powell, der eine bewaffnete Intervention ablehnte, mit der Frage: «Was bringt es, diese tolle Armee zu haben, über die Sie stets sprechen, wenn wir sie nicht einsetzen können?» Powells Reaktion, in seinen Memoiren beschrieben: «Ich dachte, ich hätte ein Aneurysma.»
Die Zurückhaltung der Regierung Clinton hatte mit dem Umstand zu tun, dass 1992 Truppen eines somalischen Warlords 18 amerikanische Soldaten getötet hatten und am Fernsehen zu sehen gewesen war, wie die Leiche eines US-Helikopterpiloten durch die Strassen der Hauptstadt Mogadishu geschleift wurde. Folglich griffen die USA auch nicht auf Seiten einer kleinen Uno-Friedenstruppe ein, als es in Ruanda 1994 zu Massenmorden an Tutsis und Vergewaltigungen kam. Für Amerikas Passivität in Ostafrika hat sich Madeleine Albright in ihren 2003 erschienenen Memoiren «»Madam Secretary» ausdrücklich entschuldigt.
Fokus Osteuropa
Auf jeden Fall schwenkte das Weisse Haus erst nach dem Massaker in Srebrenica im Sommer 1995 auf Albrights harte Linie ein; im September flog die Nato erste Luftangriffe und zwang die bosnischen Serben an den Verhandlungstisch. Der Krieg endete zwei Monate später mit dem Friedensabkommen von Dayton, das der amerikanische Abgesandte Richard C. Holbrooke vermittelte. Endlich wurden die USA Madeleine Albrights Vorstellung gerecht, wonach Amerika in internationalen Konflikten ein Leuchtturm der Moral und eine «unverzichtbare Nation» sein müsse. Die Vereinigten Staaten, forderte sie, dürften sich nicht isolieren, sondern müssten sich für einen «durchsetzungsfähigen Multilateralismus» engagieren.
Nach seiner Wiederwahl 1996 ernannte Bill Clinton Madeleine Albright zu seiner Aussenministerin, eine Nomination, die der US-Senat – tempi passati – mit 99 zu 0 Stimmen absegnete. Im neuen Amt beschäftigte sie sich vor allem mit Osteuropa und setzte sich für ein hartes Vorgehen gegenüber dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević ein.
Ferneres Asien
Sie rügte dessen Verletzungen der Menschenrechte in Kosovo, was Milošević bei einem Treffen zur Bemerkung veranlasste, sie kenne ja Serbien gar nicht. Worauf Albright antwortete: «Nennen Sie mich nicht uninformiert – ich habe hier gelebt.» Ihr Vater war tschechischer Botschafter in Belgrad gewesen.
Kritiker bemängelten nach ihrem Abgang aus dem State Department, sie habe sich in ihrem Amt zu sehr auf Europa und die Osterweiterung der Nato fokussiert und dabei Asien, d. h. vor allem China vernachlässigt und die Initiative in Sachen Volksrepublik der Wirtschaft überlassen. Auch hiess es, sie sei an der Spitze des State Department eher eine Art Torfrau als eine grosse Strategin gewesen.
Als Barack Obama Madeleine Albright 2012 mit der Presidential Medal of Freedom ehrte, erinnerte die frühere Aussenministerin an eine Einbürgerungszeremonie, an der sie einst teilgenommen hatte. Ein Äthiopier habe sie angesprochen und gesagt: «Nur in Amerika kann ein Flüchtling die Aussenministerin treffen.» Worauf sie geantwortet habe: «Nur in Amerika kann ein Flüchtling Aussenminister werden.»
Ein umstrittenes Interview
Unschön in Erinnerung bleibt dagegen ein Interview, das Albright 1996 gegenüber dem Newsmagazin «60 Minutes» des Fernsehsenders CBS gegeben hat. Angesprochen auf die Wirkung der Sanktionen gegenüber Saddam Husseins Irak, wo als Folge der strikten Strafmassnahmen laut Hörensagen «mehr Kinder als in Hiroshima» gestorben seien, antwortete die Uno-Botschafterin: «Ich denke, das ist eine äusserst schwierige Entscheidung, aber der Preis dafür – wir glauben, dass der Preis es wert ist.» Zwei Jahre vor ihrem Tod nahm Albright in einem Gespräch mit der «New York Times» ihre Bemerkungen von damals als «vollständig stupid» zurück und entschuldigte sich.
Madeleine Albright hinterlässt drei Töchter, eine Schwester, einen Bruder und sechs Grosskinder. Ihren Mann hatte sie während eines Sommerpraktikums auf der Redaktion der «Denver Post» kennengelernt. Er war der Zeitungserbe Joseph Medill Patterson Albright, Enkel des Gründers der «New York Daily News» und Neffe der Gründerin und Chefredaktorin von «Newsday» auf Long Island. Die Ehe wurde nach über zwanzig Jahren Dauer geschieden, als er sie für eine andere Frau verliess, und Madeleine Albright wurde vermögend. Sie erhielt das Haus in Washingtons Nobelviertel Georgetown, eine grosse Farm in der Nähe des Washington Dulles International Airport und ein Aktienportfolio, das 1992 rund 3,5 Millionen Dollar wert war.
Eine besorgte Optimistin
Madeleine Albright hatte trotz ihrer geringen Körpergrösse von 1,50 Metern stets eine starke Präsenz und viel Stil. Sie war bekannt dafür, stets elegant gekleidet zu sein und exquisite Anstecknadeln und Broschen zu tragen, die teils ihre Befindlichkeit signalisierten. Oft umspielte ein wissendes Lächeln ihre Lippen und ihren wachen Augen entging nichts. Als Diplomatin war sie standfest, aber auch flexibel, und fürchtete sich nicht, ihre Gegenüber direkt anzusprechen. Dem französischen Aussenminister Hubert Védrine sagte sie nach einem Disput: «Wenn ich Sie nicht so schätzte, würde ich sagen, das war ein schreckliches Treffen.»
Diplomatisch hat sie in einem Interview einst auch auf die Frage geantwortet, wie sie die Zukunft der Demokratie sehe, einer Staatsform, für die sie sich als Professorin, Botschafterin, Aussenministerin und Geschäftsfrau ein Leben lang eingesetzt hatte: «Sie fragen, ob ich eine Optimistin oder eine Pessimistin bin. Ich bin eine Optimistin, die sich viele Sorgen macht.»
Quellen: «The Washington Post», «The New York Times», «The Guardian», «The New Yorker»