Die Lage in Libyen spitzte sich zu, weil am 20.Oktober das Mandat derinternational anerkannten libyschen Regierung von Tobruk zu Ende geht.Die Legitimität dieser Regierung beruht auf einem Parlament, das auf zwei Jahre als Übergangsparlament gewählt worden war. Es war nach seiner Wahl gezwungen, Tripolis zu verlassen und sich in den fernen Osten Libyens, nach Tobruk, zurückzuziehen, weil in der Hauptstadt eine Allianz von Milizen, die sich die "Morgenröte" Allianz(arabisch: Fajr) nennt, die gewählten Abgeordneten vertrieb und nachihrer fluchtartigen Abreise das vorherige Parlament wiederbelebte und zum rechtmässigen Parlament erklärte.
Umstrittenes Gerichtsurteil
Die Rechtsmässigkeit des Parlaments von Tripolis wurde später vomObersten Gerichtshof bestätigt. Er befand, das frühere Parlament seizu Unrecht aufgelöst worden. Doch Tobruk lehnte es ab, dieses Urteilgelten zu lassen, weil das Gericht unter dem Druck der Bewaffneten vonTripolis tagte.
Die internationalen Vermittler
Die Internationale Schlichtungskommission, die mit demSondergesandten des Sicherheitsrates, Bernardino Leon,zusammenarbeitet, versuchte seither eine Einheitsregierung für Libyenzustande zu bringen, die ihrerseits künftige Wahlen für das ganze Landbeaufsichtigen und auf diesem Wege Libyen eine legitime Regierung fürdas ganze Land verschaffen sollte. Doch die beiden streitendenMachtzentren liessen sich schwer dazu bringen, der Bildung einerEinheitsregierung zuzustimmen. Benardino Leon setzte mehrmals Endtermine fest, bis zu denen ein Übereinkommen erreicht werdensollte. Doch sie wurden einer nach dem anderen überholt, ohne dasseine Zustimmung der beiden Parlamente zu einem Vereinigungskompromiss zu erreichen war.
Die wahre Macht liegt bei den Waffenträgern
Die Hauptschwierigkeit bei den Vermittlungsgesprächen, die in Genf und in Skhirat bei Rabat geführt wurden, war der Umstand, dass es inWirklichkeit nicht die beiden Parlamente waren, welche die Macht inihren Landesteilen ausübten, sondern vielmehr die bewaffneten Milizen,die beiderseits Macht über "ihre" Parlamente ausüben und nichtzulassen wollen, dass ihre Machtpositionen, in Tripolitanien und inder Cyrenaika, geschmälert werden.
Zwei "Armeen"
In Tipolis ist dies die erwähnte "Morgenröte Libyens"; in derCyrenaika die sogenannte Libysche Armee, die General Khalifa Haftarkommandiert. Haftar wurde zwar offiziell von dem internationalanerkannten Parlament als Armeeoberkommandant eingesetzt, doch er istheute in der Lage, dem Ministerpräsidenten "seiner" Regierung, al-Thinni, die Ausreise ins Ausland zu verbieten, wenn er dies tun will, und er tat es gelegentlich.
Haftar war einst Generalstabschef Ghadhafis, doch er überwarf sichspäter mit dem Diktator und lebte lange Zeit in den USA, wo die CIA ihn stützte. Für Tripolis ist Haftar ein "zweiter Ghadhafi", der angeblich danach strebe, zum Diktator Libyens zu werden. Mit Präsident al-Sisi im benachbarten Ägypten unterhält Haftar persönlich gute Beziehungen.
Vereinigungsentwurf des Vermittlers
Das herannahende Ende des Mandates der international anerkanntenRegierung von Tobruk und ihres Parlamentes diente derSchlichtungskommission als ein endgültiger und letzter Termin, bis zu dem das Einverständnis beider Regierungen zur Bildung einer Einheitsregierung notwendig zustande kommen müsse. Einvorausgegangener Schlusstermin war Ende September resultatlosvorbeigegangen. Er war vor den Beginn der muslimischen Festtage angesetzt worden, welche das Ende der Pilgerfahrt nach Mekkamarkieren. Nach den Festtagen, am 5. Oktober, traten die Unterhändler der beiden rivalisierenden Regierungen und zahlreiche andere Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, die Leon auch zur Mitwirkung anregte, erneut in Skhirat zusammen. Der Vermittler legte ihnen einen von ihm selbst entworfenen Kompromissvorschlag vor und suchte ihre Zustimmung dazu zu erlangen.
In dem Vorschlag war bereits der Namen des künftigenMinisterpräsidenten festgelegt. Er wäre Fayez Sarraj, ein Mitglied des "Parlamentes" von Tripolis. Ebenso suchte der Vermittler auch die Namen von drei Stellvertretenden Ministerpräsidenten zu bestimmen, die für die drei Regionen Libyens vorgesehen wären, für Tripolitanien, Cyrenaika und Fezzan. Der Vorschlag sah auch die Bildung eines Nationalen Rates vor, der als eine Art von Senat zur Austarierung der Macht des Ministerpräsidenten und seiner Stellvertreter dienen sollte.
Die überaus heikle und letztlich entscheidende Frage des Kommandos der künftigen Streitkräfte Libyens zu lösen, überliess der Vermittler den künftig zu bildenden Einheitsbehörden.
Doch Tripolis machte klar, dass es Haftar auf keinen Fall alsArmeechef dulden werde, und Haftar erklärte seinerseits die bewaffneten Milizen und ihre Anführer der "Morgenröte" Allianz zu Terroristen, die zu entmachten seien.
Abwinken der Parlamentarier
Sprecher der beiden Rivalenparlamente reagierten ablehnend auf denVorschlag des Vermittlers. Sie unterstrichen, dass sie und die Ihrenüber ihn nicht befragt worden seien. Um Gültigkeit zu erlangen, müsste der Plan des Vermittlers von beiden Parlamenten angenommen werden. Beide stehen jedoch im Schatten "ihrer" Bewaffneten, und diese sind offensichtlich noch weniger bereit als die Politiker, ihre Machtaufzugeben.
Tobruk verlängert seine eigene Lebensdauer
Das Parlament von Tobruk stimmte am 5. Oktober einem Vorschlag zu,nach dem es selbst seine Lebensdauer als Parlament zu verlängerngedenkt, bis ein Einheitsparlament und eine Einheitsregierung in Libyen zustande kommen. Durch diesen Schachzug hofft die Versammlung von Tobruk ihre Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft als das legale Palament Libyens aufrecht zu erhalten, sogar nach der Zeit, in der ihr Mandat nach der bisherigen Regelung ablaufen wird. Ihre Massnahme zeigt, dass sie nicht daran glaubt, dass der Vorschlag des Uno-Vermittlers verwirklicht wird.
Köder und Druckversuche der Vermittler
Der Uno Vermittler, der Generalsekretär des Sicherheitsrates selbst,und die Botschafter der USA und der grösseren europäischen Staaten wandten sich in Person oder in Botschaften an die Unterhändler von Skhirat und unterstrichen alle die gefährliche Lage, in der sich Libyen befindet. Sie sagten 2,4 Millionen der Bevölkerung von rund 6 Millionen des eigentlich schwer reichen Landes sei hilfsbedürftig geworden. 435 000 Menschen hätten infolge der Kriegshandlungen ihre Wohnungen verloren, und 100 000 von diesen lebten im Freien, in Lagern oder in Notunterkünften wie zerstörten Häusern.
Die Vermittler versprachen, wenn eine Einheitsregierung zustande komme, würden ihre Staaten mithelfen, die Lage in Libyen zu normalisieren. Allerdings konkretisierten sie nicht, mit welchen Mitteln, sie dies bewerkstelligen wollten.
Das Waffenembargo als Druckmittel
Sie machten auch deutlich, dass das Waffenembargo der Uno gegenüber beiden Regierungen bestehen bleibe, bis eine Einheitsregierung zustande komme. Beide Regierungen hatten mehrmals versucht, die Aufhebung dieses Embargos für ihre Seite zu erlangen. Da sie dies nicht erreichten, richteten beide sich ein, um unter der Hand doch Waffen und Munition zu erhalten. Die Regierung von Tripolis soll heimliche Unterstützung von Katar und aus der Türkei erhalten; jene von Tobruk aus Ägypten.
Die Gefahr der radikalen Islamisten
Die ausländischen Vermittler verfehlten auch nicht darauf hinzuweisen,dass die radikalen islamistischen Gruppen, IS und Qaeda in erster Linie, von dem Dauerzwist der Rivalenregierungen profitierten. Und die Europäer räumten ein, dass die unkontrollierten Küsten Libyens, von denen aus die Hauptmasse der Mittelmeer Migranten ihre gefährliche Fahrt antreten, den nördlichen Mittelmeeranrainern Sorge bereiten.
Die Politiker als Knechte der Waffenträger
Doch all diese Argumente, die den Libyern altbekannt sind, konntennicht bewirken, dass der Plan für die erhoffte Einheitsregierung verwirklicht wurde. Der wahre Grund für den Aufschub und immererneuerte Einwände gegen das Projekt der Uno liegt, um es zu wiederholen, darin, dass die bewaffneten Gruppen wissen, wenn es
zustande kommt, wird ihre Macht in Frage gestellt und bekämpft werden mit dem Ziel eine staatliche Armee aufzustellen, die den politischen Machthabern gehorcht und nicht umgekehrt, wie es heute ist: Gruppen von Bewaffneten, die "ihren" Politikern klar machen, was zu geschehen habe.
Drei bewaffnete Machtzentren
Die Hauptmächte, deren Auflösung notwendig wäre, wenn ein libyscherStaat wiedergeboren werden soll, sind:
1. Die Allianz der "Morgenröte", Milizen von Tripolis und Misrata. In ihr sind die Misrata-Milizen die stärksten Bestandteile, hinter ihnen stehen die Interessen der Hafensatdt Misrata, der drittgrössten StadtLibyens. Misrata hatte ihre Milizen im Überlebenskampf gegen dieTruppen Ghadhafis aufgestellt und ausgebaut. Weil Misrata inTripolitanien liegt, der Region in der Ghadhafi zunächst seine MachtAufrecht erhalten konnte, hatte die Hafenstadt den härtesten aller Abwehrkämpfe zu bestehen, bis Ghadhafi zu Fall kam. Aus diesem Grunde siehtsich Misrata bis heute als die Stadt der "revolutionären Kräfte", dieunbedingt verhindern wollen, dass einstige Mitarbeiter Ghadhafis, wieGeneral Haftar von Tobruk, an die Macht zurückkehren.
Die Misrata- Milizen sind verbündet mit Bewaffneten von Tripolis, die der Ideologie der Muslimbrüder zuneigen. Mit ihnen zusammen bilden sie die "Morgenröte Libyens" -Allianz.
2. Auf der Gegenseite in Tobruk steht "die libysche Armee" unterHaftar als Oberkommandant. Sie ist zusammengesetzt aus Überresten der Armee Ghadhafis, die zur Zeit der Erhebung gegen den Diktator (im Februar 2011) in Bengasi standen, der von Ghadhafi benachteiligten zweiten Stadt Libyens. Sie schlossen sich dort dem Aufstand an, und ihre Offiziere suchten die Bürger der Cyrenaika, die zu den Waffen gegriffen hatten, zu einigermassen kampftüchtigen Einheiten zu formieren. Diese Armeeüberreste wurden verschmolzen mit persönlichen Anhängern Haftars, unter den libyschen Offizieren und Soldaten, die sich ihm unterstellt hatten, weil sie an seiner im Februar 201 begonnenen "Operation Würde" teilnehmen wollten.
Die "Würde"- Aktion war eine Erhebung gegen alle islamistischen Kräfte, die es in Libyen gab, Muslimbrüder so gut wie Gruppen radikaler Islamisten, die sich später entweder IS oder al-Kaida anschlossen. Haftars Soldaten stehen bis heute in einem Dauerkampf um die Stadt und den Hafen Bengasi, der damals begann und heute noch andauert. Die Truppen Haftars versuchen Bengasi von Islamistischen Kämpfern zu reinigen, ohne dies je voll erreicht zu haben. Die Islamisten können sich halten in der umkämpften Stadt, weil es eine Verbindungslinie zur See mit der Stadt Misrata gibt, die nie unterbrochen wurde.
Auch in anderen Städten der Cyrenaika haben sich islamistische Waffenträger, "Jihadisten", an der Macht gehalten, trotz Haftar. Die Stadt Derna befand sich in der Gewalt von IS, doch im vergangenen Frühling erhoben sich bewaffnete islamistische Rivalen gegen sie und vertrieben die IS Kämpfer aus der Stadt. Dann erklärten sie, dass sie sich der Kaida anschlössen. Die IS Leute behielten jedoch Positionen in der Umgebung von Derna.
Umgekehrt verliefen die Dinge in der Stadt Sirte. Dort gewannen die IS Kämpfer die Oberhand und erklärten die Stadt zu einem Teil des "Emirates Cyrenaika", das seinerseits zum "Kalifat" des IS gehöre. Die Pro-Kaida-Milizen wurden vertrieben.
Die Truppen von Misrata suchten Sirte zu erobern. Sie zogen bis vor die Stadt, gaben dann aber auf, ohne grosse Kämpfe zu liefern. Ihr Kommandant erklärte, der Nachschub an Munition und auch das Geld zur Bezahlung der Truppen sei nicht eingetroffen.
Das Erdöl der Sirte als Einsatz
Nördlich von Sirte liegt ein bedeutender Teil der libyschenErdölquellen. Die IS Kämpfer versuchen sich ihrer zu bemächtigen,zunächst um sie still zu legen, so dass keine der beiden Regierungenvon ihnen profitiert. Später hoffen sie ohne Zweifel, sie für sichselbst auszubeuten, wie IS dies weiterhin ziemlich erfolgreich in Nordsyrien und Nordmesopotamien tut. Das dortige Erdöl gelangt auf einen Schwarzmarkt, den die Amerikaner bisher erstaunlicherweise nicht unterbinden konnten - oder vielleicht gar nicht still legen wollten.
3. Zu den entscheidenden Machthabern in Libyen gehört weiter die "Edle Stammesmiliz von Zintan". Sie beherrscht die Berbersiedlungen in den süd-westlichen Teilen Tripolitaniens, nah an der tunesischen Grenze. Ihre Hauptstadt, Zintan, ist mit der "Morgenröte" von Tripolis und Misrata verfeindet. Die Morgenröte Allianz hatte die Zintan-Milizen nach langen Kämpfen, die bis zum August 2014 andauerten, aus dem Flughafen von Tripolis vertrieben.
Die Zintan-Milizen sind locker mit der "Armee" Haftars im fernen Tobruk verbündet. Doch die Stammesältesten von Zintan stehen zurzeit auch in Verhandlungen mit "Morgenröte" über einen möglichen Waffenstillstand.
Haftars Plan B
Für den Augenblick dürften die internationalen Vermittler in Libyen noch hoffen, dass die beiden Parlamente den Plan Bernardino Leons zu ihrer Verschmelzung zu einem Einheitsparlament und einer Einheitsregierung doch noch annehmen könnten. Doch die Aussichten, dass dies geschehen könnte, stehen schlecht. Wenn die Vermittlung endgültig zusammenbricht, könnte es vielleicht zu Plan B kommen, vondem es heisst, dass Haftar ihn bereits vorbereite. Er bestünde aus einer Trennung der beiden hauptsächlichen Landesteile, Tripolitanien und Cyrenaika, die sich ja nicht unbedingt bekämpfen müssten. In beiden würden die Milizchefs die informale Obermacht weiter ausüben, die sie schon heute innehaben. Die Parlamente würden als Vorzeige- und Prestigeversammlungen beibehalten, vielleicht jedes mit seiner Regierung.
Beide Landesteile würden versuchen, die IS und Kaida-Kräfte in der Sirte und in Cyrenaika zu bekämpfen. Sie würden dabei auf Mithilfe aus dem Ausland hoffen - zum mindesten in der Form eines Endes des Waffenembargos. Dies könnte über Zeit zu zwei funktionierenden Erdöl-Kleinstaaten führen, ein jeder mit seinen Bewaffneten. Sie würden im besten Fall Scheindemokratien. Doch dies wäre für alle Beteiligten, und besonders für die Bevölkerung Libyens, dem gegenwärtigen blutigen Chaos des völligen Staatszerfalls vorzuziehen.
Vorbedingung für eine jede Lösung wäre allerdings, dass im Falle Libyen die Amerikaner und die Russen sich dazu entschlössen, zusammenzuarbeiten statt gegeneinander. Wenn sie dies nicht tun und stattdessen eine jede der Supermächte für eine der Seiten im libyschen Ringen Partei ergriffe, wie dies nun in Syrien der Fall ist - dann wäre Libyen mit all seinem Erdöl endgültig verloren. IS und Kaida würden am Ende möglicherweise endgültig triumphieren.