„Eine Kleinstadt, in der die Leute alle stillschweigend Widerstandskämpfer waren, passiv zwar, aber trotzdem. Und alle wussten Bescheid, aber keiner hat je etwas gesagt.“
Mit diesen Worten umreisst der Filmhistoriker und Übersetzer Bernard Eisenschitz vor einer seiner Bücherwände in der Pariser Rue de Rivoli die Besonderheit der Geschichte der 3‘000-Seelengemeinde Dieulefit während der Zeit des Vichy-Regimes und der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs. Bernard Eisenschitz ist der Enkel des in Wien geborenen Malers jüdischer Abstammung , Willy Eisenschitz , der 1937 die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und einer unter den rund 1‘500 Schutzsuchenden war , der in Dieulefit Aufnahme fand, in seinem Fall ab Ende 1942.
Die Gemeinde liegt 30 Kilometer östlich der Rhône und der Nougatstadt Montélimar, in einer ausgedehnten Mulde am Ende eines Tals, umgeben von knapp 1‘000 Meter hohen Bergen. Der Einfluss des Voralpengebiets, des Dauphiné und sein eher raues Klimas sind hier, besonders im Winter, noch zu spüren, gleichzeitig überwiegen aber schon die Farben der Provence, das Licht des Südens und der vom Mistral gereinigte Himmel.
“Die Zeit vergeht, verbring sie gut“
Die Bergkuppen sind zumeist von Krüppeleichen bedeckt, weiter unten, an den verstreut besiedelten Hängen und im Tal setzen Pappeln und Zypressen ihre Akzente. Der alte Ortskern von Dieulefit, den sie hier „Viale“ nennen, geht auf das 13. Jahrhundert zurück, im neueren Teil, aus dem 18. Jahrhundert, führt die hell gepflasterte, enge Hauptstrasse von der katholischen Kirche auf der einen Seite zur evangelischen Kirche am Hauptplatz auf der anderen Seite des Zentrums. Neben dem stolzen Rathaus steht ein mächtiger Glockenturm aus dem 16. Jahrhundert mit einer Sonnenuhr, unter der der provenzalische Satz zu lesen ist: „Lou tems passo, passo lou ben“ . Die Zeit vergeht, verbring sie gut - ein einladendes Motto.
Dieu – le – fit - wörtlich: Gott hat's gemacht, ist seit den Religionskriegen eine Hochburg der protestantischen Minderheit Frankreichs und war ab dem 19. Jahrhundert berühmt für sein blühendes Töpferhandwerk und seine Textilindustrie, die einst der wichtigste Arbeitgeber am Ort war.
Niemand wurde denunziert
Nach dem ersten Weltkrieg hatte hier ganz langsam auch der Tourismus eingesetzt und gleichzeitig wurde Dieulefit bekannt als Luftkurort für Lungenkranke. Zeitweise gab es hier ein halbes Dutzend Heime und Sanatorien, sowie ein Krankenhaus - Einrichtungen, die in den dunklen Zeiten der 40-er Jahre durchaus ihre Bedeutung bekommen sollten. Wenn einer erst mal als schwindsüchtig erklärt war, schauten auch die Miliz des Vichy-Regimes oder die deutschen Besatzer nicht mehr so genau, ob er nicht vielleicht einen falschen Namen trug.
Zwischen 1940 und 45 war ein Drittel der Bevölkerung von Dieulefit Menschen, die von auswärts gekommen, hierher geflüchtet waren. Die Gemeinde hat dieses Drittel all die Jahre ernährt, beschützt und letztlich gerettet. Kein einziger der Schutzsuchenden und Gefährdeten ist in dieser Zeit bei den Behörden des Vichy-Regimes oder bei der Gestapo denunziert worden. Hunderte stille Helden haben in diesem rüden und zugleich malerischen Landstrich auf ihre Art den kriminellen Plänen des Vichy-Regimes und der nationalsozialistischen Besatzer getrotzt.
“Wir haben getan, was zu tun war“
Françoise Meyer, bis zu ihrer Pensionierung vor einigen Jahren eine renommierte Psychoanalytikerin in Paris und Mutter des Filmregisseurs Cédric Klapisch, war 10 Jahre alt, als sie 1942 an einem Sonntag unbedingt bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Dieulefit bleiben wollte, während ihre Eltern mit dem Bus nach Montélimar ins Rhônetal zurückfuhren. Ihr kindlicher Eigensinn hat ihr das Leben gerettet, ihre Eltern, Juden und im Widerstand engagiert, hat sie nie mehr wieder gesehen. „Mein Onkel“, erinnert sie sich heute in ihrem Pariser Salon unweit des Pantheon ,“ Simon Abramovic, der sich damals als Lehrer über Wasser hielt, erzählte eines Abends, dass Pol Arcens, der Schulleiter des Gymnasiums „La Roseraie“ in Dieulefit, von den Behörden den schriftlichen Befehl bekommen hatte, keine jüdischen Lehrer mehr zu beschäftigen und dass er diesen Befehl vor den Augen meines Onkels einfach zerrissen hat. Wir haben uns damals viele Dinge gar nicht richtig klar gemacht. Die Menschen in Dieulefit haben ja auch Wohnungen und Häuser an uns Juden vermietet. Das schien uns damals ganz selbstverständlich, dabei war das für sie doch ziemlich gefährlich.“
Doch darum haben die Menschen in Dieulefit in den Jahrzehnten nach dem Krieg nie viel Aufhebens gemacht. „Für sie war das ganz normal. Wen sie hier auch fragen“, sagt Anne Lachens, die Enkeltochter einer der zentralen Persönlichkeiten Dieulefits in jener Zeit. „Die Antwort lautet stets: wir haben getan, was zu tun war. Auch meine Großmütter sagten immer: wir haben nichts Besonderes, nichts Aussergewöhnliches gemacht.
“Das Wunder des Schweigens“
Entsprechend war über 60 Jahre lang die ungewöhnliche Geschichte von Dieulefit während der deutschen Besatzung auch der französischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen geblieben, bis die Autorin Anne Vallaeys 2008 ein Buch herausbrachte unter dem Titel : „Dieulefit oder das Wunder des Schweigens“.
Insgesamt 9 Bürger aus der Stadt sind für ihren zivilen Widerstand und für die Rettung von Juden unter dem Einsatz ihres Lebens von der Gedenkstätte Yad Vashem und dem Staat Israel zu Gerechten unter den Nationen ernannt worden . Erst seit 5 Jahren erinnert eine diskrete Tafel mit den Namen der Retter in der Eingangshalle des Rathauses daran: Emmeline Abel, Elie Abel, Pol Arcens, Madeleine Arcens, Catherine Krafft, Jeanne Barnier, Simone Monnier, Marguerite Soubeyran und Henri Morin.
Henri Morins Sohn, Jean, ist heute einer der Honoratioren von Dieulefit , Spross einer der grossen protestantischen Familien der Stadt, die damals den Flüchtlingen ihre Häuser geöffnet haben. Eine Familie, die, wie es für viele Protestanten in dieser Region in den vergangenen Jahrhunderten üblich war, heute sogar noch über ihren privaten Friedhof verfügt. Der 86-Jährige, gross gewachsene, elegante alte Herr, der eine gewisse Güte ausstrahlt, hat in den 60-er Jahren die Tuchmacherfabrik seiner Familie schliessen müssen, die seit mehr als 200 Jahren bestanden hatte. Geblieben ist das herrschaftliche Haus in einem Park ähnlichen Anwesen entlang der stolzen Platanenallee am Eingang des Ortes.
Berufsverbot für Juden
Jean Morin war während des Kriegs Schüler im Gymnasium „La Roseraie“ und Françoise Meyers Onkel , Simon Abramovic, sein Französischlehrer. Auch „La Roseraie“ wurde ab Frühjahr 1940, nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich und dem Exodus von Millionen Franzosen in die Südhälfte des Landes, zur Anlaufstelle für Dutzende Verfolgte - Jugendliche wie Erwachsene. Ein erheblicher Teil des Lehrkörpers bestand schon bald aus Juden, die vom Vichy-Regime Berufsverbot erhalten hatten.
„ Normalerweise“, sagt Jean Morin, „hätten alle diese Leute vom Bürgermeister denunziert werden müssen. Er hätte sie bei der Präfektur in Valence anzeigen müssen, gemäß der Bestimmungen der Vichy-Regierung. Er hat das aber nie getan. Auf meinen alten Schulzeugnissen fand ich die Unterschrift von Monsieur Abramovic , unserem Französischlehrer . Dieses Zeugnis ist vom Bürgermeister gegengezeichnet, neben der Unterschrift eines jüdischen Lehrers. Das hätte er im Grunde nie tun dürfen.“
Jean Morin war in seinem behüteten, grossbürgerlichen Zuhause sehr früh mit den konkreten Folgen der politischen Ereignisse im Europa der 30-er Jahre konfrontiert worden. 1938 schon, als er 11 war, erlebte er mit, wie sich seine Mutter, die Vorsitzende des örtlichen Roten Kreuzes, Wochen lang darum kümmerte, einige Dutzend spanische Frauen und Kinder, die vor Franco geflüchtet waren, unterzubringen und zu versorgen. Im Herbst 1939 nach Hitlers Überfall auf Polen und der Kriegserklärung kamen dann zahlreiche Lothringer und Elsässer nach Dieulefit - das Netzwerk der protestantischen Familien, von denen es gerade im Elsass sehr viele gab, hat dabei seine Rolle gespielt. In Jean Morins grosszügigen Wohnzimmer sind in einem Regal noch Spuren davon zu sehen: einer, der hier aufgenommen wurde, hat sich damals die Zeit damit vertrieben, elsässische Interieurs und Personen in Miniaturformat zu basteln. Eines Tages, im Oktober 1942, kam dann noch ein weiterer Mitbewohner ins Elternhaus von Jean Morin.
Seine Eltern sah er nie wieder
„Durch die Vermittlung der protestantischen Gemeinde hier ist ein Junge zu uns gekommen, der war 10 ½ und hieß Isaac Fabrykant. Unsere Eltern haben ihn uns als einen jungen Juden vorgestellt, der aus Belgien kam und gesagt, seine Eltern seien die Hausmeister der Synagoge in Antwerpen. Meine Eltern haben sich dann darum gekümmert, dass er Ausweispapiere bekam. Wir haben ihn François Fabricant genannt – mit der französischen Schreibweise. Er ging dann ganz normal hier in die öffentliche Schule und ganz natürlich mit uns auch in die so genannte Sonntagsschule, in die Bibelstunde der protestantischen Gemeinde“.
Isaac Fabrykant lebt heute in Israel. Vor zwei Jahren hat er alles daran gesetzt, seinen Kindern und Enkeln den Ort zu zeigen, wo er als Kind überlebt hatte. Für drei Tage ist er nach Dieulefit zurückgekommen und hat noch einmal im Haus der Morins geschlafen. Er war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass Jean Morins Vater, Henri, nach dem Krieg als erster Bürger von Dieulefit zum Gerechten unter den Nationen erklärt wurde.
Ein anderer mit einem ähnlichen Schicksal wie Isaac Fabrykant lebt heute noch in Dieulefit. Max Tutreltaub ist ein rüstiger 83-Jähriger, den sie hier alle nur Marcel nennen. Sein Haus aus den 70-er Jahren, in dem er alleine mit seinem Hund lebt, steht am Südhang oberhalb des Städtchens lichtgeschützt in den Eichenwäldern. Das videoüberwachte Gartentor öffnet sich automatisch, der Hausherr mit noch dunklen Haaren bittet in die grosse aufgeräumte Küche an den Resopaltisch. Dort liegt ein altes Foto, das er herausgekramt hat und das den kleinen Max Turteltaub mit der Schultüte vor dem Kölner Dom zeigt. Unmittelbar nach der Pogromnacht waren die Turteltaubs damals aus Deutschland geflüchtet, zunächst nach Belgien, wo sie später erneut zur Flucht gezwungen waren. Am Ende landete die Familie in einem Internierungslager für unerwünschte Ausländer im südfranzösischen Agde. Der damals 12-jährige Max Turteltaub konnte von dort mit Hilfe des Verbands der Jüdischen Pfadfinder und anderer Hilfsorganisationen entkommen und wurde nach Dieulefit gebracht. Seine Eltern sollte er niemals wiedersehen.
Falsche Identität, falsche Geschichte
„An einem Sonntag, so hat man mir das jedenfalls erzählt“, sagt Max Turteltaub , „hat der Pastor damals in der Predigt die Frage gestellt: gibt es unter euch welche, die bereit sind, protestantische Waisenkinder aufzunehmen? Er hat nicht gesagt, dass es sich um Juden handelte. Madame Rostaing hat daraufhin mit dem Pastor Kontakt aufgenommen und so bin ich bei den Rostaings gelandet, die natürlich genau wussten, dass ich kein Protestant war. Ich hatte einen falschen Namen, hiess Marcel Turneau und war, glaub' ich, offiziell in Aix-en-Provence geboren und meine Eltern waren verstorben. Ich hatte also eine falsche Identität und eine falsche Geschichte. Bei den Rostaings war ich einfach der Sohn der Familie. Sie hatten selbst einen Sohn, der war fünf Jahre älter und arbeitete auf dem Hof und eine Tochter, die jünger war und dann eben mich. Ich wurde nicht anders behandelt, als die beiden anderen. Das war dann eben einfach meine Familie.“
Der jetzt in Dieulefit ansässige Historiker, Bernard Delpal, früher Professor am Nationalen Forschungszentrum CNRS in Lyon, arbeitet seit 15 Jahren über die Geschichte des Rettungswiderstands in dieser Region. Er hat einen Verein gegründet, der „Patrimoine, Mémoire , Histoire“ heisst und sich um die Aufarbeitung der besonderen Geschichte von Dieulefit in jenen Jahren kümmert, Tagebücher, Fotos, Briefe und Dokumente aus jener Zeit zusammenträgt und regelmässig auch Ausstellungen organisiert.
„Neben dem klassischen, bewaffneten Widerstand“ , resümiert Delpal, „gab es, vor allem hier im Südosten Frankreichs, einen beutenden zivilen Widerstand. Dazu gehörten Menschen, die nicht zu den Waffen griffen, sich aber sagten: ich kann die Deutschen zwar nicht verjagen, aber ich werde ihnen die Arbeit erschweren und so viele Menschen wie möglich verstecken und retten. Dazu kam, besonders ab Sommer 1942, bei vielen der Wille, die Kollaborationspolitik der Vichy-Regierung scheitern zu lassen.“
Auch wenn Blut fliesst, ein gerechter Kampf
Von dieser Haltung der Menschen in der Region proftierten in Dieulefit damals auch aussergewöhnlich viele Künstler und Intellektuelle. Im schon erwähnten Privatgymnasium „La Roseraie“ unterrichtete zum Beispiel ein 25-Jähriger das Fach Französisch, der sich als Dichter bereits einen kleinen Namen gemacht hatte: Noël Mathieu. Später wurde er unter dem Namen Pierre Emmanuel bekannt und in den 60-er Jahren sogar Mitglied der Académie Francaise. In seiner feierlichen Antrittsrede unter der Kuppel der Akademie verneigte er sich ausdrücklich vor Dieulefit mit den Worten:
„In Dieulefit ist jeder dem anderen der Nächste. Jener, der dort ankommt, gerädert von einer furchtbaren Busfahrt, ausgehungert, vielleicht verfolgt und terrorisiert von den Blicken, die auf ihn gerichtet wurden, darf hier aufatmen, der Frieden wird ihm endlich die Hand reichen. Er wird sich unter seinesgleichen fühlen, denn er ist hier einfach der Nächste, für den der Tisch immer gedeckt ist. Meine Anhänglichkeit an Dieulefit ist stets dieselbe geblieben, meine Dankbarkeit gegenüber denen, die zwischen 1940 und August 44 der Gerechtigkeit und der Freiheit die Treue gehalten haben, bleibt unverändert. Ich habe in Dieulefit meine schönsten Stunden erlebt. Ich bin glücklich darüber, dass mich dort einige immer noch als ihren Mitbürger und Freund betrachten.“
Man nannte den gläubigen Katholiken Pierre Emmanuel damals den „katholischen Paul Eluard“, dessen Poesie 1938/39 noch die eines puren Ästheten war. In Dieulefit hat sie sich dann in eine Poesie des Widerstands gewandelt. Hier schrieb er das Gedicht „Les dents serrées“ - „Mit zusammengebissenen Zähnen“, das damals epochemachend war und dank eines Schweizer Verlags auch gedruckt und illegal wieder nach Frankreich zurück kam. Grob gesprochen sagt Pierre Emmanuel darin: Wenn nötig, wird Blut fliessen. Mein katholischer Glaube, schön und gut, aber dieser Kampf, auch wenn Gewalt angewendet werden muss, ist ein gerechter Kampf.
Drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit
Neben Pierre Emmanuel verbrachten auch die Schriftsteller Pierre -Jean Jouve, René Char und Pierre Leyris, sowie der Verleger Pierre Seghers jeweils einige Monate in Dieulefit. Vor den Toren der Kleinstadt überlebte neben dem bereits erwähnten Willy Eisenschitz ein anderer Maler: WOLS, mit richtigem Namen Alfred Otto Wolfgang Schulze aus Berlin. Beiden hatte man eine Hütte in der freien Natur überlassen. Frankreichs berühmteste Pianistin, Yvonne Lefébure, die sich weigerte unter deutscher Besatzung Konzerte zu geben, bewohnte eine Villa am südlichen Stadtrand. Und auch der grosse Historiker, Pierre Vidal-Naquet, hat damals als Jugendlicher zahlreiche Wochen bei Verwandten in der Pension „Les Brises“ verbracht, die heute ein Restaurant ist und später den Satz geprägt: „Während der deutschen Besatzung gab es in Frankreich drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit.“
(Fortsetzung am nächsten Montag, 12. August. Teil 2: Das Internat Beauvallon )
Die Hörfunkfassung dieser vierteiligen Serie „ Dieulefit – Refugium in Zeiten der Barbarei“ läuft im DEUTSCHLANDFUNK, Dienstag 27. August 2013, „Das Feature“ - 19.15 – 20.00 Uhr