Die erste Revolution hatte ein klares Ziel: den Sturz Mubaraks. Die zweite hat viele diffuse Ziele. Ihre Träger sind die gleichen revolutionären Jugendlichen, die auch die erste durchgefochten haben. Sie sind bitter enttäuscht darüber, dass der Sturz Mubaraks nicht zum Sturz seines Regimes geführt hat. Mubarak symbolisierte das Regime, Er schien es zu sein. Deshalb ist der Irrtum der friedlichen Revolutionäre vom Tahrir Platz verständlich.
Das Regime ist mehr als Mubarak
Doch es zeigte sich, dass es ein Irrtum war. Das Regime ist immer noch da. Wie es ja auch nicht anders sein konnte. In den dreissig Jahren seiner Herrschaft und in den vielen Tausend Jahren ägyptischer Herrschaftstraditionen zuvor, haben sich jeweils unter dem Einmann- Herrscher, dem "Pharao", dicke Schichten von Trägern des Regimes herausgebildet, die stets auch seine Nutzniesser waren.
Sie haben sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens angesiedelt: In der Bürokratie eines jeden Ministeriums; in den leitenden Gremien der Wirtschaft; im Gerichtswesen und im Erziehungswesen, in der Staatspartei NDP und natürlich auch in der Polizei, mit ihren vielfältigen Geheimpolizeiapparaten, in den oberen Rängen der Armee; wie auch in der staatlich gelenkten Information und Kultur.
Die Diener des "Pharao"
Sie alle sind weiterhin da und werden weiter gebraucht in den staatlichen und wirtschaftlichen Apparaten, die sie bevölkern und bisher schlecht und recht vorwärts bewegten. Sie bilden gewissermassen den Humus, aus dem ein neuer "Pharao" aufkeimen wird, wenn dieser Humus nicht rechtzeitig sterilisiert werden kann.
Viele von ihnen waren vielleicht nicht besonders begeistert über ihren alternden Machthaber. Doch sie dienten ihm alle. Sie kannten Zeit ihres Lebens nichts anderes als dem Staat zu dienen, und der Staat war Mubarak. Ihr Dienst wurde formell schlecht, aber informell gut belohnt, weil sie zwar bescheidene Löhne erhielten - in den unteren Rängen, solche die ihnen kaum zu leben erlaubten, weil sie aber durch ihre Stellung und das Prestige, das damit verbunden war, Gelegenheiten erhielten, etwas Weniges, oder auch Beträchtliches, dazu zu verdienen.
Das ganze Regime war "korrupt"
"Korruption!" ruft die Revolutionsjugend. Ja, gewiss! Doch sie gehörte als Wagenschmiere zum ächzenden Gefährt des Staates. Ein anderes System kannte Ägypten nicht. Natürlich konnte dieses System in erträglichen Grenzen funktionieren, aber es konnte sich auch immer extremer entwickeln, bis es unerträglich geworden war. Die Unerträglichkeit kam unter Mubarak schrittweise zustande. Sie galt für die Dutzenden von Millionen, die nicht am Regime Teil hatten, und sie war die Ursache des Ausbruchs der Revolution.
Die fünf Monate, die seither verflossen sind, haben den Revolutionären gezeigt, dass sich nichts wirklich verändert hat. Die alten Mächte bestehen weiter, von der Armee über die Wirtschaftsbarone bis zur Polizei und dem für seine Schwerfälligkeit und personelle Überdotierung besonders berühmten Landwirtschaftsministerium. Geändert hat sich einzig, dass diesen Mächten der pharaonischen Machtpyramide nun erstmals Gegenmächte gegenüber getreten sind: Die Jugendgruppen der Revolution mit ihrer Fähigkeit, die Bevölkerung für Demonstrationen zu mobilisieren.
Echter Wechsel gefordert
"Alles soll anders werden!" proklamieren sie. Doch wie und auf welche Weise, darüber wird diskutiert. "Alle sollen sie weg, die verantwortlich für die heutigen Zustände sind", darüber herrscht Übereinstimmung. Doch wer ist dies genau und durch wen soll er ersetzt werden? Gibt es überhaupt genügend Qualifizierte, die frei wären von Korruption, auch wenn sie einmal auf Posten befördert würden, die bisher mit viel Korruption verbunden waren? Wer soll diese Leute auswählen, falls sie sich überhaupt finden lassen?
Der Instinkt der Revolutionäre ist, bei den Oberhäuptern zu beginnen. Viele fordern den Rücktritt der ganzen Regierung Emam Sharaf, obwohl dies ein Kabinett ist, das nach dem Sturz Mubaraks gebildet wurde und zunächst als eine pro-revolutionäre oder doch der Revolution nahe stehende Regierung gesehen worden war. "Sie hat sich trotz dem guten Willen des Ministerpräsidenten als unfähig erwiesen, die Dinge zu verändern," lautet das Urteil über sie.
Ist SCAF das Haupthindernis?
Manche gehen noch weiter. Hinter der Regierung steht ja der "herrschende Militärrat" SCAF (für Supreme Council of Armed Forces), der die Macht provisorisch von Mubarak übernommen hat. Er hat damit die „pharaonische“ Position übernommen, die einst Mubarak einnahm. "Die Vollmachten von SCAF müssen beschränkt werden," sagen viele. Denn sie glauben zu erkennen, dass SCAF absichtlich am Ort trete.
Schliesslich besteht der Rat ja aus den Offiziersspitzen, die Mubarak eingesetzt hat und die ihm Jahrzehnte lang dienten. Namentlich sein Vorsitzender, Marschall Tantawi, eine Person von höchst konservativem Temperament, gilt ihnen als ersetzungsbedürftig.
Einschränkung der neuen Allmächtigen?
Wie aber wäre SCAF einzuschränken? Ein Vorschlag lautet, eine politische Kommission sollte "ausgewählt" werden, um in den politischen Belangen von SCAF beigezogen zu werden. Doch wer soll die Auswahl übernehmen? Und was heisst genau "beiziehen"? Wer wird bei Meinungsverschiedenheiten entscheiden, SCAF oder die zu ernennende politische Kommission?
SCAF selbst hat angeregt, man könne Richtlinien aufstellen, wie die künftige Verfassungsversammlung des Landes aus dem noch zu wählenden Parlament auszuwählen sein werde. Doch der Vorschlag fand nur bei einigen der Revolutionsgruppen und der neu entstehenden Parteien Anklang.
SCAF konsultiert, aber entscheidet autoritär
Wie es heute steht, konsultiert SCAF die "revolutionäre Jugend", doch wer ist das genau? Nachher entscheidet SCAF, nach eigenem Ermessen. Kürzlich hat SCAF mitgeteilt, die Wahlen würden verschoben. Dies geschah mit Hilfe der indirekten Formulierung, die Wahlvorbereitungen würden im September beginnen, die Wahlen kämen dann im Oktober oder November zur Durchführung. Im Plebiszit vom vergangenen März waren Wahlen auf den September vorgesehen gewesen.
Über die Gründe dieses Entscheids hat sich SCAF nicht geäussert. Vielleicht wollten die Offiziere nachträglich auf die Forderungen der Revolutionäre eingehen, die immer erklärten, bis zum September sei nicht genug Zeit, um repräsentative Parteien zu schaffen, zwischen denen dann wohlinformierte Wähler entscheiden könnten.
Doch falls dies der wirkliche Beweggrund war, hat SCAF nur einem sehr eng gefassten Kompromiss zugestimmt. Die Revolutionäre hatten ein Jahr gefordert, um ihre Parteien zu bilden; die Verschiebung um einen oder zwei Monate macht keinen entscheidenden Unterschied.
Sharaf ordnet Entlassung von Polizeigenerälen an
Auch Ministerpräsident Emam Sharaf macht den Revolutionären Zugeständnisse. Die zweite Revolutionswelle brach aus, weil die Machthaber in den Augen der Revolutionäre den Vorgang der Bestrafung der Schuldigen für den Tod von gegen 800 Demonstranten absichtlich verzögerten und weil die Polizei erneut zu Gewaltmitteln griff, um die Demonstrationen für die Bestrafung der Schuldigen niederzuhalten.
Nun hat sich Sharaf entschlossen, 505 Polizeigeneräle und 164 Polizeioffiziere auf den 1. August zu entlassen, wie Innenminister Essawi mitteilte. (Das gesamte Sicherheitspersonal wird auf 1,5 Millionen Personen gerschätzt.) Der Innenminister sagte auch, 4000 Polizeioffiziere, die das Gesetz nicht zu entlassen erlaube, seien auf Posten versetzt worden, auf denen sie nichts mit dem Publikum zu tun hätten.
Dem Vernehmen nach hatte der Ministerpräsident die Entlassungen schon zuvor vom Innenministerium gefordert, doch sei er dabei auf Widerstand des Innenministers gestossen. Nun habe er seinen Innenminister gezwungen, die Entlassungen vorzunehmen. Einige der Revolutionäre stimmten diesen Massnahmen zu, befanden jedoch, Entlassungen und Umbesetzungen "bedeuten noch keine Reform". Eine solche sei für das Innenministerium unbedingt nötig.
Ein Schauprozess gegen Mubarak?
Ein weiteres Zugeständnis des Ministerpräsidenten an die Demonstranten dürfte sein, dass er sich bereit erklärt hat, die Regierung umzubilden. Ihre neue Zusammensetzung werde er in der kommenden Woche ankünden. Unter den jetzigen Ministern hatten die Revolutionäre einige gefunden, die sie als zu nahe am Regime Mubaraks einstuften.
Vielleicht zur Beruhigung der Lage wurde auch die Möglichkeit diskutiert, ob die Gerichtsverhandlung gegen Mubarak, die am 3. August beginnen soll, auf Bildschirme übertragen werde. Der Oberste Justizrat hat diesen Schritt gebilligt, und das staatliche Fernsehen hat sich bereit erklärt, mitzuwirken. Doch ob die Richter und hinter ihnen SCAF dies wirklich zulassen werden, ist noch ungewiss. Die Richter sind keine Revolutionsrichter, eher solche die in der Vergangenheit taten, was sie konnten, um dem Regime Mubarak behilflich zu sein.
SCAF kann auch drohen
Neben derartigen Konzessionen an di e Revolution gibt es aber auch immerwinder Drohungen gegen sie. SCAF liess einen General in Uniform am Fernsehen auftreten, der erklärte, die Militärs würden mit harter Hand gegen alle Ruhestörungen und Behinderungen der staatlichen Institutionen vorgehen. Dies löste verbale Gegenangriffe aus, die Sprecher der Revolutionsgruppen antworteten, solche Reden erinnerten an jene Mubaraks. SCAF sei überhaupt der Diener des ägyptischen Volkes nicht umgekehrt. Die Armee sei vom Volk und habe ihm zu gehorchen. Doch ein angekündigter Millionen Marsch auf den Sitz der Regierung in Kairo wurde abgeblasen.
Forderungen von revolutionären Gruppierungen
Am 10. Juli fanden sich einige der bekannteren Revolutionsgruppierungen zusammen, um ihre Begehren öffentlich vorzulegen. Diese lauten wie folg: 1)Befreiung aller Zivilisten die von Militärgerichten verurteilt wurden und Ende der Militärgerichte für Zivilpersonen. 2) Sondergerichte für alle Verantwortlichen für die Tötungen. 3) Entlassung des Innenministers und seine Ersetzung durch einen Nicht-Militär gefolgt von einem Plan zur Reform und Sanierung des Ministeriums. 4) Entlassung des gegenwärtigen Generalstaatsanwalts und Einstellung einer respektierten Person an seiner Stelle. 5) Gerichtsverfahren gegen Mubarak und seine Clique. 6) Aufgabe des gegenwärtigen Budgets und Entwurf eines neuen, das mutig für die Armen der Nation eintritt, sowie eine öffentliche Debatte über diesen Budgetentwurf. 7) Klare und öffentliche Umschreibung der Vollmachten von SCAF, so dass diese nicht mit jenen der Regierung und ihrer Minister kollidieren.
Die Unterschreibenden sind bis jetzt: Revolutionäre Jugend Koalition, Sozialdemokratische Partei Ägyptens, Demokratische Frontpartei, Jugend für Gerechtigkeit und Freiheit, Sozialistische Allianz Partei, Partei des Bewusstseins. Weitere Signatare werden gesucht.
“Freitag der letzten Warnung“
Am Freitag. dem 15. Juli waren Hunderttausende im Namen des "Freitags der letzten Warnung" auf den Tahrir Platz gezogen und die dortigen "Sit-ins" sollen andauern, bis die Verlangen der Revolutionsgruppen umgesetzt würden. Nicht alle Revolutionsgruppen haben sich hinter die erwähnte Plattform gestellt. Unter anderen fehlte die einflussreiche Föderation der Revolutionären Jugend. Auch die Muslimbrüder, die sich im letzten Moment entschlossen, an den Massendemonstrationen teilzunehmen, unterschrieben die Forderungen der Revolutionäre nicht. Sie wollten nicht am „Sit-in“ teilnehmen und zogen ihre Militanten am Freitagabend vom Tahrir Platz zurück.
Alexandria und Suez wirken mit
Neben Kairo finden auch Demonstrationen und "Sit-ins" in Alexandria und in Suez statt. In Alexandria trat der Gouverneur unter dem Druck der Demonstranten zurück. In Suez, am südlichen Ausgang des Kanals, spielen militante Gewerkschafter eine entscheidende Rolle. Die Stadt hatte schon in der ersten Phase der Revolution besonders viele Todesopfer zu beklagen. Sie fordert nun Rechenschaft für die Polizeimorde.
Dabei hat ein besonderes Gewicht, dass die dortigen Arbeiter drohen, den Kanal zu sperren, wenn sie kein Gehör fänden. Der Betrieb des Kanals hat ungestört die ganze bisherige Revolution hindurch angedauert. Er ist nach dem Ausfall der Tourismusgelder die wichtigste Devisenquelle Ägyptens und bringt einen gewichtigen Teil des Staatseinkommens hervor.