„All jene, die mit den USA und ihren Verbündeten in Afghanistan zusammengearbeitet haben, werden amnestiert.“ Dies sagte der afghanische Ministerpräsident Mullah Mohammad Hassan Akhund in einem Exklusiv-Interview mit dem katarischen Fernsehsender „Al Jazeera“.
„Die Phase des Blutvergiessens, des Tötens und der Verachtung der Menschen in Afghanistan ist vorbei“, sagte Akhund.
Afghanische Beamte, die vor den Taliban geflohen sind, ruft er auf, ins Land zurückzukehren. „Wir werden ihre Sicherheit garantieren.“
Keine Rache
Auch Diplomaten, Botschaften und humanitäre Organisationen hätten nichts zu befürchten. Die Taliban strebten „positive, starke Beziehungen“ zu den Ländern in der Region „und darüber hinaus“ an.
Akhund war ein enger Vertrauter und politischer Berater des verstorbenen Mullah Omar, des Gründers der Taliban.
Die Taliban seien „diszipliniert“ und hätten „ihre Bewaffneten unter Kontrolle“, sagte er. „Wir haben niemandem wegen seiner früheren Taten Schaden zugefügt.“
Keine „inklusive“ Regierung
Am Tag vor dem Interview mit Al Jazeera hatten die Taliban ihre Übergangsregierung vorgestellt. Sie besteht vor allem aus der alten Garde der Radikalislamisten.
Von der versprochenen „inklusiven“ Regierung kann keine Rede sein. Frauen und andere politische Gruppierungen sind nicht dabei. Ebenso wenig Vertreter religiöser und ethnischer Minderheiten, wie der schiitischen Hazara. Die Mehrheit der Regierungsmitglieder sind Paschtunen.
Von den 33 Ministern sind 14 ehemalige Taliban-Funktionäre aus der Zeit ihrer früheren Herrschaft von 1996 bis 2001, fünf sind ehemalige Guantanamo-Häftlinge, und die übrigen zwölf sind Funktionäre der zweiten Generation der Bewegung.
Ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar
Innenminister ist Sirajuddin Haqqani, ein Hardliner. Er ist der Anführer des Haqqani-Netzwerkes, das seit Jahren grossen Einfluss auf die Bewegung hat und durch Hunderte Morde und Selbstmordanschläge auf sich aufmerksam gemacht hat. Die USA haben ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Zudem steht er auf der Terrorliste der Uno. Die Taliban erklärten am Donnerstag, die USA würden gegen das Abkommen von Doha verstossen, indem sie die Haqqani-Familie weiterhin auf ihrer Terrorliste führten.
In weiten Kreisen Afghanistans und im Westen wurde die Bekanntgabe der Übergangsregierung mit grosser Enttäuschung aufgenommen. Im Vorfeld hatten viele gehofft, die Taliban hätten „sich neu erfunden“, „dazu gelernt“, seien „moderater und dem Westen gegenüber freundlich gesinnt“ geworden. Von dem ist nichts zu spüren.
Die Bekanntgabe der Regierung hatte sich um Tage verzögert. Im Hintergrund fand ein hartes Ringen zwischen den einzelnen Fraktionen statt. Ziel war es dann, die wichtigen Strömungen der Bewegung in der Regierung einzubinden. Und zu diesen wichtigen Strömungen gehören eben brutale Clans wie das Haqqani-Netzwerk.
Erst einmal Ruhe schaffen?
Die Bewegung stand vor der Frage: Will man dem Westen gefallen und einige einflussreiche, brutale Strömungen ausschliessen – auf die Gefahr hin, dass diese dann der Regierung in den Rücken fallen? Oder will man die Radikalen einbeziehen und so den Westen enttäuschen?
In erster Linie ging es den Taliban jetzt darum, erst einmal im eigenen Lager Ruhe zu schaffen – und das gelingt nur unter Einbezug aller.
Die Tür zugeschlagen
Mit der Ernennung von Sirajuddin Haqqani haben die Taliban dem Westen die Tür vorerst zugeschlagen. Es ist nicht denkbar, dass die USA mit einer Regierung Kontakt pflegen, deren Innenminister auf der Terrorliste steht. Washington hat bereits erklärt, die neue Regierung verspreche wenig Gutes.
Es gibt jedoch Stimmen, die sagen, die Taliban müssten sich nun erst einmal etablieren. Später sei es dann durchaus möglich, dass sie – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen – zu einer vernünftigen Politik finden. Ob das nur Illusionen sind, wird sich zeigen.
Ein Land am Abgrund
Die sanften Töne, die der Regierungschef gegenüber Al Jazeera jetzt von sich gibt, haben einen Hintergrund. Afghanistan steht wirtschaftlich am Abgrund. Neunzig Prozent der Bevölkerung leben unter oder nahe der Armutsgrenze. Das Land wird von einer schweren Dürre heimgesucht.
Eine Regierung braucht Personal, damit sie funktioniert. Doch die meisten Beamten sind geflohen. Die Armee, oder das, was von ihr übrigblieb, fürchtet Repressalien der neuen Machthaber. Das Gesundheitswesen steht vor dem Zusammenbruch. Es fehlt an Polizisten und Sicherheitskräften. In Kabul kam es zu ersten Demonstrationen.
Ein „gesegnetes Projekt“
Ziel von Mullah Mohammad Hassan Akhund war es offensichtlich, die Bevölkerung zu beruhigen und die Beamten zurückzuholen, damit das Land nicht ganz im Chaos versinkt.
„Ich versichere der islamischen Nation und insbesondere dem afghanischen Volk, dass wir alles Gute, Erfolg und Wohlergehen wollen und dass wir ein islamisches System errichten wollen“, sagte Akund. Er forderte alle auf, „sich mit uns an diesem gesegneten Projekt zu beteiligen“.
Oberster religiöser Führer?
Ins gleiche Horn stiess auch der mysteriöse Talibanführer Haibatullah Akhundzada. Er erscheint nicht auf der Regierungsliste. Welche Funktion und welchen Einfluss er im Staat hat, ist unklar. Beobachter vermuten, dass er als eine Art oberster religiöser Führer amtieren könnte – so, wie Ali Chamenei in Iran. Die Agentur Reuters nennt ihn „Shadowy Taliban supreme leader“. (Das Bild ist vermutlich drei Jahre alt.)
In einer ersten schriftlichen Erklärung sagte er, die Taliban würden alle internationalen Gesetze einhalten, ebenso Verträge und Verpflichtungen, „die nicht im Widerspruch zum islamischen Recht stehen“.
Arbeitende Frauen steinigen
„Ich versichere allen Landsleuten, dass die Taliban hart daran arbeiten, die islamischen Regeln und die Scharia im Land aufrechtzuerhalten.“ Und er fügte bei: Die Menschen sollten „nicht versuchen, das Land zu verlassen“.
Akhundzada gilt als Hardliner. Man weiss wenig über ihn. Selbst sein Alter ist nicht bekannt. Man nimmt an, dass er etwa 60 Jahre alt ist. Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 war er unter anderem Richter und machte mit einer überaus strengen Auslegung der Scharia von sich reden. Arbeitende Frauen bestrafte er mit Steinigung. Einer seiner Söhne, Abdur Rahman, starb bei einem Selbstmordanschlag auf einen afghanischen Militärstützpunkt in Helmand im Juli 2017.
„Mit niemandem Probleme“
2016 wurde Akhundzada Nachfolger von Mullah Akhtar Mansoor, der von einer amerikanischen Drohne getötet worden war. Die meiste Zeit seiner Amtszeit blieb Akhundzada im Verborgenen. Auch die „Friedensgespräche“ in Doha überliess er anderen. Im Gegensatz zu anderen Taliban-Führern steht Akhundzada nicht auf der Terrorliste der Uno, obwohl er enge Beziehungen zu al-Qaida hat.
Akhundzada erklärte jetzt, die neue Führung werde „dauerhaften Frieden, Wohlstand und Entwicklung“ gewährleisten, und fügte hinzu, dass „die Menschen nicht versuchen sollten, das Land zu verlassen“. „Das Islamische Emirat hat mit niemandem ein Problem“, sagte Akhunzada.
Aber andere mit dem Islamischen Emirat vielleicht schon.