Der Video-Clip war keine zwei Minuten lang, aber er bereitete mir stundenlange Schlaflosigkeit. Durch das verwackelte Objektiv eines Smartphones sah ich Touristen, die zwischen Wasserlachen über ein sonst trockenes Flussbett hüpften, nachdem sie wahrscheinlich über den Abgrund geschaut und gefilmt hatten, der sich auf einer Seite auftat. Nun hören sie das näherkommende Rauschen von Wasser und springen über Steine in Sicherheit, während sich die Pfützen bereits zu einem fliessenden Gewässer verbinden.
Horror-Szene
Vier Männer und Frauen schaffen es nicht sofort ans Ufer, warten bei einem grossen Stein auf den günstigen Augenblick, um die letzten drei Meter zu durchwaten. Doch dieser Augenblick kommt nie. Bevor sie richtig Fuss fassen, wogt rundherum bereits ein Wildwasser, sie versuchen, einander Halt zu geben, klammern sich gegenseitig fest. Ein Mann gleitet aus, bringt den nächsten zum Ausrutschen, dieser den dritten, und schon werden sie alle weggerissen. Sie tauchen noch einmal kurz auf, dann spült sie die Wucht der Welle über den Abgrund. Ein paar Schreie der unsichtbaren Zuschauer, dann nur noch das Donnern der Flut und die schäumende Gischt weit unten.
Ähnlich muss es vielen der mehreren Millionen Pilger ergangen sein, die am 16.Juni in die Garhwal-Region des indischen Himalaya-Staats Uttaranchal geströmt waren. Der Regen kommt hier normalerweise frühestens Ende anfangs Juli, und das Ganga-Dassehra-Fest am 18. Juni hatte den Zweck, der Flussgöttin Ganga zu danken. Denn wenn in der nordindischen Ebene noch Hitze und Trockenheit herrscht, fliesst sie besonders reichlich. Was wir auf die Schneeschmelze in den Bergen zurückführen, ist für den Volksglauben ein Gottesgeschenk in grosser Not.
Tausend Tote, dreitausend Vermisste
Doch diesmal donnerte die Göttin mit Gewalt zu Tal. Ausgiebige, anhaltende Regenfälle lösten Geröll-Lawinen aus, diese stauten die Flüsse, und als in höheren Regionen Bergseen wegen den Erdrutschen überliefen, stürzten die Wasser-und Gesteinsmassen zu Tal, rissen Dämme und Strassen ein, trugen Brücken fort, donnerten durch die Pilgerorte, die alle nahe an den heiligen Wassern liegen. Hundertzehntausend Pilger waren in den drei Quellgebieten des Ganges - Gangotri, Kerdarnath, Badrinath - bald einmal von der Umwelt abgeschnitten.
Viele, die sich auf diesen dreitausend Metern Höhe vor dem Wasser gerade noch gerettet hatten, starben den Erkältungstod. Dank dem vorbildlichen Einsatz von Armee und Luftwaffe konnten viele ausgeflogen werden – ausser den rund eintausend Menschen, die als Leichen geborgen wurden, sowie die dreitausend, die weiterhin vermisst werden. Sie werden die Opferstatistik weiter ansteigen lassen, ebenso wie viele Opfer unter den Bewohnern abgelegener Dörfer, die noch gar nicht erreicht wurden.
Acts of God
Versicherungsgesellschaften nennen solche Naturkatastrophen ‚Acts of God‘, um menschliche Institutionen der Verantwortung zu entheben. Doch hier, im Quellgebiet der hinduistischen Zivilisation, trieft diese Bezeichnung von religiöser Bedeutungsschwere. Ein Agenturbild wurde, nimmt man die Häufigkeit seiner Reproduktion in indischen Zeitungen als Richtgrösse, zu einem ikonischen Sinnbild dafür. Es zeigt die Wassermassen, die sich um eine grosse weisse Shiva-Statue aufbäumen, die etwas schief mitten im Fliuss steht. Shivas Gesicht hat einen Anflug von Lächeln, doch in seinem Haupthaar sitzt eine kleine weibliche Figur, der kein Lächeln zu entlocken ist – Ganga, die zornige Flussgöttin.
Jeder Hindu denkt dabei an den Mythos, der sich um den Fluss und seine Göttin rankt. Dessen Schöpfungsgeschichte berichtet von einem König namens Sagara, den die Hybris blind macht und ihn verführt, die Götter herauszufordern. Darauf überflutet Ganga die Welt mit solcher Gewalt, dass der König und seine 60‘000 Söhne zugrundegehen. Erst als Sagaras Nachkomme, der weise Bhagiratha, die Götter um Verzeihung bittet und ihnen verspricht, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, leitet Shiva die Gewalt des Flusses durch sein Haupthaar und bricht damit dessen zerstörerische Wucht.
Acts of Man
Es ist diese Hybris, die bei diesem ‚Act of God‘ der Naturkatastrophe auch die vielen ‚Acts of Man‘ wachruft. Sie haben, wenn nicht die Flutwelle, so doch dessen zerstörerischen Folgen zu verantworten. Das beginnt beim Wildwuchs der korrupten Bauspekulation entlang der Pilgerrouten, die ungeachtet der Vorschriften und den Warnungen von Alteingesessenen weder Hochwasser noch Bodenstabilität beachtet.
Dann ist die Politik des Staats zu nennen, die im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung die Balance mit der Umwelt aus den Fugen gebracht hat. Im Zug der Liberalisierung wurde vor fünf Jahren der (Religions-) Tourismus in der Region Garhwal zum Schlüsselfaktor erklärt. Statt die wichtigsten Pilgerstätten nur während vier Monaten zu öffnen, wurden sie ganzjährig freigegeben. Die Besucherzahl von 10 Millionen schwoll letztes Jahr auf 28 Millionen an – und dies bei einer Bevölkerungszahl von 11 Millionen Einwohnern. Diese allein stellt bereits eine schwere ökologische Belastung dar, ersichtlich in der Bevölkerungsdichte von 189 Personen/qkm, und dies auf einer Fläche kleiner als die Schweiz, die zudem zu drei Vierteln aus Hochgebirge besteht.
Hybris der Technokratie
Die Besucherflut erforderte den Ausbau der Infrastruktur. Nicht weniger als 73 Wasserkraftwerke wurden in den letzten fünf Jahren begonnen, und 4200 Kilometer Strassen wurden in eine Gebirgslandschaft geschnitten, die geologisch viel jünger als die Alpen ist, mit lockerem Gestein und tiefen Taleinschnitten. Wo die Trassen früher mit Maschinen und Menschen in die Flanken gezogen wurden, sprengt man den Weg heute mit Dynamit frei, damit die Pilger möglichst rasch ins Quellgebiet der drei Ganges-Zuflüsse gebracht werden können. Seit 2006 hat sich der Taxiverkehr dorthin um das Zehnfache erhöht.
Die Hybris der Technokratie brach sich auch bei den Rettungsarbeiten Bahn, und dies weniger bei den Suchmannschaften der Armee als bei den Politikern. Sie gleichen darin eher dem König Sagara als dem achtsamen Bhagiratha. Dieses und nächstes Jahr finden in Indien Regional- und Nationalwahlen statt. Da die gestrandeten Pilger aus ganz Indien stammten, wurde das Katastrophengebiet zu einer Bühne, wo Politiker ihre Hilfsbereitschaft medienwirksam zur Schau stellen konnten.
Die Selektion des Politikers
Viele Politiker verfügen heute über Helikopter, und auf dem Flughafen von Dehra Dhun, der Hauptstadt von Uttaranchal, stritten Politiker vor laufenden Kameras, wessen Helikopter nun zuerst in die Täler fliegen durfte. Den Vogel schoss einmal mehr der medienschlaue Regierungschef von Gujerat ab. Narendra Modi, der nächstes Jahr Premierminister des Landes werden will, rückte nicht nur mit Helikoptern, vier Charter-Flugzeugen, Bussen und einer Flotte von Autos an. Er brachte gleich einen Stab von Beratern mit Kommunikationsausrüstung mit. Innert zwei Tagen habe er, berichtete die ‚Times of India‘, 15‘000 Pilger aus Gujerat in Sicherheit gebracht.
Doch der mediale Böllerschuss ging für einmal hinten hinaus. Denn plötzlich stand die Frage im Raum: Was ist das für ein Mann, der Premierminister werden will und gleichzeitig gestrandete Opfer nach ihrer Herkunft selektioniert, bevor sie in die wartenden Rettungshubschrauber einsteigen dürfen?