Sie agierten unter dem Banner der Religion, als im 7. Jahrhundert A. D. die Araber des Hejaz in wenigen Jahrzehnten Palästina, Syrien und Nordafrika eroberten. In noch tieferem Dunkel als die Quellen der Verkündigung ihres Propheten Mohammed liegen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Kernlanden an der Ostküste des Roten Meers.
Erst seit der Jahrtausendwende fällt etwas mehr Licht der Forschung auf diese spärlich bevölkerte Weltgegend. Ein führender Kopf mit brillanter Feder ist Glen W. Bowersock (*1936), 1980 bis 2006 Professor am Institute for Advanced Study in Princeton und in den letzten Jahren regelmässig in der «New York Review of Books» zu lesen.
Dieses Jahr ist bei C. H. Beck – was täten Nahostinteressierte ohne diesen wunderbaren Münchner Verlag! – erstmals eines seiner Bücher in deutscher Übersetzung erschienen: «Die Wiege des Islam. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen» (im Orginal «The Crucible of Islam», Oxford 2017), eine äusserst lehrreiche und nicht weniger schön zu lesende Exkursion auf knappstem Raum von 160 Seiten. Meisterhaft zeichnet Bowersock mit wenigen Strichen die massgebenden weltpolitischen Fronten im 6. Jahrhundert nach, das dem Auftritt Mohammeds (*um 1570) in Mekka vorausging.
Die arabische Halbinsel umgaben in bitterer Rivalität die Grossmächte des Vorderen Orients: das Oströmische Reich von Byzanz zur Zeit seiner grössten Ausdehnung unter Justinian (527–565), die Perser im Machtzenit der bald darauf überdehnten, ihrem abrupten Ende entgegengehenden Herrschaft der Sassaniden und jenseits des Roten Meers in Äthiopien das christliche Axumiter-Reich.
Gegen die Perser paktierten die Byzantiner mit ihren christlichen Glaubensgenossen in Äthiopien, die bereits im 3. und 4. Jahrhundert aufwendige Anstrengungen unternommen hatten, ihre Herrschaft auf die Arabische Halbinsel auszuweiten, sich aber nur im südlichen Himyar, heute Jemen, über längere Zeiträume (200–270 und 330–380) zu halten vermochten. (Dazu ebenfalls G. W. Bowersock: «The Throne of Adulis. Red Sea Wars on the Eve of Islam», Oxford 2013.)
525 folgte noch einmal eine äthiopische Invasion, gerichtet nunmehr gegen das mittlerweile jüdische Königreich in Himyar, dessen fanatischer König Yusuf zwei Jahre zuvor im Asir (heute die saudische Südwestprovinz) für ein blutiges Massaker an der Christengemeinschaft von Najran verantwortlich war.
Damit war dieses Königreich liquidiert und die Herrschaft der Juden in Himyar beendet. Seit Jahrhunderten in Teilen der Halbinsel heimisch, galten die Juden als Zöglinge der Sassaniden. Nebst den von Äthiopien unterstützten christianisierten Stämmen standen ihnen die Polytheisten der Volksgruppe gegenüber, welcher mit dem Stamm der Quraisch die Väter Mohammeds und seiner frühen Gefährten angehörten. Ihr Zentrum war Mekka, bereits in vorislamischer Zeit eine stark frequentierte Pilgerdestination und dank ihren Heiligtümern ein Pool von Pfründen mit Konfliktpotential.
Den Propheten – um 610 angetreten, seinen Landsleuten den Monotheismus zu bringen – hatte dieser Ruf nicht als einzigen erreicht. Im Exil in Yathrib (622–630), das später den Namen Medina erhielt, soll sein gewichtigster Rivale mit dem Angebot, sich in die Führung der neuen Bewegung zu teilen, von Mohammed eine Abfuhr erlitten haben.
Im Spiel der Mächte war von Bedeutung, dass bereits vor der Hijra, Mohammeds erzwungenem Auszug aus Mekka, ein Gruppe seiner Gefährten beim äthiopischen König in Axum Zuflucht suchten und fanden. Vor dem Hintergrund dieses über das Rote Meer gespannten Bündnisses wurden die Araber von den Byzantinern in der Folge als zweitrangige Gefahr wahrgenommen. Diesen Feinden des grossen, jahrhundertalten Feindes, der Perser, die 614 für 15 Jahre Jerusalem an sich gebracht hatten, sollte der Jerusalemer Patriarch von Kaiser Heraklios 637 die heilige Stadt so gut wie kampflos überlassen.
Auch bei deren Bevölkerung sollen sie, so die Resultate der neueren Forschung, nicht unwillkommen gewesen sein. Ähnliches gilt für Ägypten, 619–630 okkupiert von den Persern, 640–642 von den Arabern erobert. Dass das Heer der Byzantiner 636 in der Schlacht am Yarmuk in Syrien von den Arabern aufgerieben wurde, war wohl ein einschneidendes Ereignis, aber von geringerer Bedeutung, als dass diese eineinhalb Jahre später in der Schlacht von al-Qadisiyyah die Perser vernichtend schlugen und dem Sassaniden-Reich ein Ende bereiteten.
Diese Geschichte erzählt Bowersock im Abriss, ausgehend von den Machtkonstellationen im 6. Jahrhundert bis zur Errichtung des Felsendoms in Jerusalem um das Jahr 690. Nebst der fatalen Grossmächterivalität der Gegner kannten die Araber und Muslime ein zweites Erfolgsrezept: Der jahrhundertealte religiöse Pluralismus der unterworfenen Gesellschaften, allenthalben auf uraltem Kulturboden ansässig, blieb bis auf Weiteres weitgehend unangetastet.
Die Eroberer, die noch im selben Jahrhundert bis nach Zentralasien, nach Somalia und 711 auf die iberische Halbinsel vordrangen, liessen sich von anderen Prioritäten leiten. Wer darüber mehr als die 160 Seiten von Bowersock lesen will, sei an den angehenden Klassiker von Aziz al-Azmeh verwiesen: «The Emergence of Islam in Late Antiquity. Allah and His People» (Cambridge 2014, 634 S).
Den rasanten Vormarsch der Araber durch die Ruinen der antiken Reiche auf deutsch nachvollziehen kann man mit Lutz Berger: «Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen» (ebenfalls C. H. Beck, München 2016, 334 S.).
Zum folgenden halben Jahrtausend politischer Geschichte des Islam sticht ein neueres Standardwerk der dänischen Arabistin Patricia Crone heraus: «God’s Rule. Government and Islam. Six Centuries of Medieval Islamic Political Thought» (New York 2004, 462 S.). Die forcierten Anstrengungen der Forschung zur Erschliessung der Spätantike finden ihren Niederschlag in Grossprojekten jüngsten Datums, so z. B. in der von der Universität Zürich aus dirigierten Neubearbeitung von Friedrich Ueberwegs «Grundriss der Geschichte der Philosophie». Von dem auf über 40 Bände angelegten Grossunternehmen sind seit 1983 17 Bände erschienen, zuletzt im Oktober 2018 von der Reihe «Philosophie der Antike» der Band 5: «Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike», 3 Teilbände von insgesamt über 2500 S. (Schwabe Verlag, Basel 2018, pro Band CHF 135.–).
Der Ueberweg, wie das Editionsprojekt kurz genannt wird, umfasst auch eine Reihe «Philosophie in der islamischen Welt», deren Band 1: «8.–10. Jahrhundert» seit 2012 vorliegt (612 S., CHF 200.–).
Diesen Band gibt es auch in englischer Sprache: «Philosophy in the Islamic World. Vol. I: 8th–10th Centuries» (Brill, Leiden 2016, 850 S., € 246.–).
In etwas bescheidenerem Rahmen konnte ich unlängst antiquarisch (für 80 statt 260 Euro) ein tadelloses gebundenes Exemplar des «Oxford Handbook of Late Antiquity» erstehen (Oxford 2012, 1247 S. farbig illustriert, Paperback € 54.–), ein fabelhaftes Werk, das entschieden über die Geistesgeschichte des Abendlandes hinausgreift, die gesamte mediterrane Welt einschliesst und über Armenien und Persien bis nach Zentralasien ausfliegt. Ein Schatz fürwahr.