Terrorangriffe wie jener in Solingen üben blinde Rache an zufälligen Opfern. Dabei handelt es sich nicht um vormodernen Atavismus, sondern die Täter sind auf der Höhe der Zeit: Die Symbolik ihrer Taten zielt auf die moderne Gesellschaft, die Anschläge sind auf maximale Wirkung kalkuliert.
Traditionell sucht Terrorismus seine Legitimation im Namen des Widerstands, der Befreiung von Unterdrückung. In diesem Sinn sind zum Beispiel die Attentate zu verstehen, die französische, italienische, russische, jugoslawische oder griechische Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzungsmacht verübten. Die Urheber der Gewalt sehen in ihr die einzig mögliche Reaktion auf unduldbare politische Verhältnisse, deren Legitimität sie in Frage stellen. Die Gewalt ist dabei nicht blind, sondern zielgerichtet. Sie kann sich in der Regel auf die Billigung der unterdrückten Bevölkerung berufen, und nicht selten wird sie als «moralisch» interpretiert. Nun hat seit dem Massaker von 9/11 ein neuer Terrortypus die Weltbühne betreten, in dem der Rachegedanken einen führenden Beweggrund liefert. Und das gibt zu denken.
Instrumentelle Vernunft der Grausamkeit
Der französische Ethnologe Marcel Hénaff hat sich mit der Rachejustiz in «primitiven» Gesellschaften beschäftigt. «In seiner traditionellen Form ist der Racheakt ein definiertes Ritual», schreibt er in einem vor über zehn Jahren publizierten, aber nach wie vor aktuellen Artikel: «Im Terrorakt ist er nicht mehr als ein technisches Tun mit dem Ziel, so viele Tote wie möglich zu produzieren.» (1)
Wir im Westen schauen mit Entsetzen auf die Gräueltaten und wir zeigen uns verstört und indigniert ob diesem Affront gegen die Zvilisiertheit, die doch eigentlich ein «Geschenk» der menschlichen Fortentwicklung ist. Wir sehen niedrigste Atavismen aktiviert, die wir längst überwunden glaubten. Nur stellt sich das spätestens heute als ein fataler Irrtum heraus, in doppelter Hinsicht. Erstens, und das wissen wir nicht erst seit den islamistischen Terrorattacken, lassen sich Atavismen vorzüglich politisch instrumentalisieren, weil sie, zweitens, auch in uns Zivilisierten weiterleben, und wir sie nicht überwinden, sondern bestenfalls zügeln und verdrängen. Der islamistische Terrorismus ist das Musterbeispiel moderner, fast möchte man sagen: rationaler Barbarei. Er setzt Atavismen als politisches Vehikel ein, er mobilisiert die instrumentelle Vernunft der Grausamkeit.
Symbolischer Terrorismus
Uns allen ist das Bild der Twin Towers unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Und hierin liegt der kalte Triumph des symbolischen Terrorismus. Er lädt die Gewalttat symbolisch auf. Das zeigt geradezu paradigmatisch das Massaker im Kibbuz Beeri am 7. Oktober 2023. So abscheulich die Tat der Hamas ist, sie zeigt sich als Symbol für die Unterdrückung der Palästinenser, generell der arabischen Bevölkerung im Nahen Osten, und für den «Kolonialismus» Israels. Den symbolischen Kampf haben die Hamas-Terroristen gewonnen, indem ihr Terror auf perverse Weise die Bevölkerung westlicher Gesellschaften immer mehr mit einem polarisierenden Denken ansteckt.
Der symbolische Terror infiziert auch den Alltag. Ein solch banaler Gegenstand wie ein Messer kann durch ein Attentat symbolisch aufgeladen werden. Natürlich konnte man ein Messer immer schon als Waffe gebrauchen. Die terroristische Verwendung macht es nun zu einem Objekt mit der beängstigenden Botschaft: Messer gibt es überall, also auch potenzielle Attentäter! Sie sind in deiner Nähe!
Binäres Denken
Der Terrorismus denkt binär: Gut oder Böse, Freund oder Feind, Gläubiger oder Ungläubiger. Das heisst erstens: Es gibt ein einziges höchstes Gut, ein einziges letztes Ziel, nur die eine absolute Wahrheit, meist in «heiligen» Worten oder Doktrinen geäussert. Und zweitens: Es gibt eine einzige Grundursache für das Übel in der Welt. Dieses Denken ist beherrscht von einem messianistischen Säuberungswillen.
Das binäre Muster des Terroristen verwendet oft die Unterscheidung von Unterdrückten und Unterdrückern. Daraus leitet er seine Tat als Befreiung ab. Dieser Terrorismus empfindet sich als hochmoralisch. Entscheidend an ihm ist, dass er den Unterschied zwischen Unterdrückern und Unterdrückten in der Regel postuliert. Er benutzt also den Begriff der Unterdrückung als Konstrukt, um zur «befreienden» Tat zu schreiten. Und wenn der Unterschied ein abstrakt-binärer ist, dann heisst das, dass der Terrorist seine von ihm definierten «Unterdrücker» unterschiedslos töten kann.
Aleatorik des Schreckens
Daraus resultiert eine Taktik, die man als Aleatorik des Schreckens bezeichnen könnte. Sie trifft zufällig einmal die Besucherinnen und Besucher eines Pariser Clubs, einmal Passantinnen und Passanten auf einer Rambla in Barcelona, einmal Reisende am Brüsseler Flufhafen. Der Terrorismus kennt keine Trennung zwischen Kombatanten und Zivilisten, also auch keinen «Kollateralschaden». Ist eine Person einmal der Klasse der Unterdücker zugeordnet, dann ist sie nicht mehr unschuldig. Jedermann soll sich als gefährdet empfinden, weil er «Komplize» des Systems ist, das der Terrorist attackiert.
Er kehrt die Schuldfrage um. Er bestraft das Opfer, weil es schuldig ist, Mitglied einer Klasse, einer Gesellschaft zu sein. Diesem Kollektiv bürdet der Terrorist die Schuld auf. Wie Marcel Hénaff schreibt:
«Aus der Sicht des Islamisten hat eine ganze Zivilisation bzw. eine ganze Reihe von Gesellschaften (…) die Traditionen und Glaubensüberzeugungen ihrer Religion ignoriert, misshandelt oder zurückgewiesen oder die Länder, in denen diese Religion verwurzelt ist, beherrscht und ausgebeutet (…) Dieser allgemeinen, unbestimmten, unpersönlichen ‘Kränkung’, die Ergebnis einer langen Geschichte ist, entspricht eine blinde Kollektivstrafe. Diese als notwendig bezeichnete ‘Rache’ wird als ein Akt der Gerechtigkeit (…) legitimiert». (2)
Rächender Terrorismus
In der terroristischen Rache, schreibt Hénaff weiter, «findet sich nicht nur nichts, was mit der Rachejustiz, verstanden als legitime Justiz nichtstaatlicher Gesellschaften, vergleichbar wäre, sondern wir haben es hier mit einem Handlungstypus zu tun, der selbst über die moderne Rache hinausgeht; letztere setzt nämlich einen präzise benannten Schuldigen voraus, den Urheber einer intentionalen Handlung, auf die ein gleichartiger Gewaltakt antwortet». Für den Terroristen wird der Schuldige zu einem Abstraktum. Wahrscheinlich sieht er in seinen Opfern gar keine konkreten Menschen.
Die Heimtücke des Terrorismus liegt darin, dass er in offenen Gesellschaften das Selbstverständnis torpediert, gewalttätigen Zeiten entronnen zu sein. Wir haben uns derart an die gewaltfreie Auseinandersetzung gewöhnt, dass uns der Preis dafür nicht mehr bewusst ist: ihre Verwundbarkeit. Natürlich kennen auch moderne Gesellschaften Gewalt, häusliche an Frauen und Kindern, Krawall auf der Strasse, Hooliganismus im Fussballstadion. Aber diese «normalen» Gewaltformen akzeptieren implizit immer noch die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols, während der Terror diese Legitimität explizit und fundamental attackiert und so das Nervenzentrum offener Gesellschaften trifft. Er verhöhnt die Idee der Gewaltlosigkeit, holt die Gewalt in neuem Massstab und neuer Gestalt auf die politische Bühne.
Solitärer Terrorismus
Es sind immer Minoritäten, die Terror ausüben. Sie bilden sektiererische Gruppen oder Gangs, die ihre Weltfremdheit durch Rituale und Exerzitien kultivieren. Das Bewusstsein ihrer Unterlegenheit kehren sie um in Dünkel und Grössenwahn. Zum Beispiel delirierte das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) Volker Speitel einen «neuen Menschen» herbei: «Der Eintritt in die Gruppe, das Aufsaugen ihrer Norm und die Knarre am Gürtel entwickeln ihn dann schon, den ‘neuen’ Menschen. Er ist Herr über Leben und Tod geworden, bestimmt was gut und böse ist, nimmt sich, was er braucht und von wem er es will; er ist Richter, Diktator und Gott in einer Person.»
Heute macht zunehmend der solitäre Gewalttäter von sich reden, der das zivile Leben – Konzert, Fest, Versammlung – durch «aleatorische» Bluttaten zersetzt. Das Internet spielt hier eine massgebliche Rolle. Viele dieser «einsamen Wölfe» werden in den sozialen Netzwerken rekrutiert. Sie erhalten von fundamentalistischen Influencern die Weihe des «Soldaten» im Rachefeldzug gegen die Ungläubigen. Man spricht bereits von Tiktok-Terroristen. Junge, unausgebildete, perspektivenlose Männer, die zumindest durch ihre Bluttat die berühmten Warholschen fünfzehn Minuten an öffentlicher Aufmerksamkeit erhalten.
Der Spektakel-Terrorist
Der Terrorist will als jemand gelten. Er strebt – auf seine umnachtete Art – immer auch nach Bedeutsamkeit und Aufmerksamkeit. Er will die internationale Öffentlichkeit beeindrucken. Gewalt, Massaker, Gräueltat sind seine Requisiten. Deshalb eignet ihm etwas Theatralisches. Der Terrorist sieht sich häufig als Akteur, der einem Drehbuch folgt – eines von Gott oder von der Geschichte oder von irgendwelchen metaphysischen Gespenstern geschriebenen. Fies daran ist, dass der Terrorist andere nötigt, in seinem zynischen Plot mitzuspielen.
Man erinnert sich hier unweigerlich an die «Gesellschaft des Spektakels» des französischen Schriftstellers, Filmers und «Situationisten» Guy Debord. Nach ihm sollte die künstlerische Avantgarde die Konsumgesellschaft mit «Terror» überziehen, das heisst, nicht Kunstwerke, sondern neue spektakuläre Situationen des Lebens schaffen: Verwirrung stiftende Aktionen gegen die bourgeoise Kultur, wie sie sich in Paris 1968 ereigneten; keineswegs nur harmlose, sondern an der Grenze zum wirklichen Terrorismus – wie etwa der Versuch, den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. Allerdings wurde dem Säufer und Wüterich Debord bald etwas mulmig zumute. In den 1970er Jahren warnte er vor dem «Spektakel des Terrors». Als hätte er geahnt, dass sich fünfzig Jahre später die Islamisten zu seinen gelehrigsten Schülern entwickeln würden. Auch sie sind «Situationisten». Aber sie verstehen keinen Spass. Bei ihnen kippt das Spektakel in blutigen Ernst.
Besonders der Spektakel-Terrorist braucht die Aleatorik des Schreckens – er schlägt mal hier, mal dort zu. Je weniger politische Gewalt in einer Gesellschaft herrscht, desto grösser die traumatisierende Wirkung einer punktuellen Gewalttat, die nicht vorauszusehen ist. Jede solche Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Wie gesagt, begründet sich der Terrorismus traditionellerweise als Widerstand gegen Gewaltverhältnisse. Nicht so der Spektakel-Terrorist. Er kämpft ja nicht gegen Widerstände, sondern nutzt schamlos die Verletzlichkeit anderer Menschen als Festivalbühne seiner blutigen Snuff-Show aus.
Leben in prekären Zuständen
Der Terrorist stirbt vielleicht, sein Denken überlebt ihn. Seine Tat ist immer Modell für eine weitere: ein Perpetuum mobile der Gewalt. Deshalb ist es äusserst wichtig, den Terrorismus primär nicht als Pathologie zivilen Lebens zu betrachten, sondern als Denksystem ernst zu nehmen und sich mit seiner «Logik» zu beschäftigen. Er ist kein Rückfall in barbarische Zeiten, sondern ein postmodernes Phänomen. Ein Symptom unseres Zustands in liberal-demokratischen Gesellschaften. Er zeigt uns an, wie metastabil dieser Zustand im Grunde ist. Er braucht die liberal-demokratische Gesellschaft. Er parasitiert sie.
Das spricht nicht gegen liberale Demokratie, sondern gegen deren Selbstverständlichkeit. Vor über dreissig Jahren triumphierte der Politikwissenschaftler Francis Fukujama mit dem Postulat, das Ende der Geschichte sei erreicht, also der flächendeckende Siegeszug der liberalen Demokratie – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit – auf Erden. Ein geradezu fahrlässiger Optimismus! Der Terrorismus zeigt, dass wir am Anfang einer neuen Geschichte stehen, in der das Rachemotiv keine unbedeutende Rolle spielen wird. Verdrängen wir bloss nicht im Hochmut der «Aufgeklärten» dieses Motiv! Denn gerade im Verdrängten entwickelt die Rache ihre diabolische Potenz.
(1) Marcel Hénaff: Terror und Rache; Lettre International, 2011
(2) Marcel Hénaff, op.cit.