Regelmässig gerasterte Fassaden waren als Gestaltungsprinzip bei wichtigen Vertretern der Gegenwartsarchitektur eigentlich fast schon tabu. Nun aber scheint sich der Raster als mächtiger Trend zu behaupten. Nicht unbedingt zum Vorteil der Stadtbilder.
Die Region Luzern ist ein Beispiel von vielen: Gleich vier grössere, soeben vollendete Gebäude zeigen gerasterte Fassaden, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz eine Art Standard waren. Dabei werden die Schauseiten mit einem regelmässigen Raster überzogen, der die Flächen optisch aufbricht. Die Luzerner Beispiele illustrieren ein globales Phänomen.
- Entlang der Geleise des Bahnhofes Luzern erstreckt sich ein rund 220 Meter langer Rechteckkörper, der auf allen vier Seiten mit einem Gitter aus sechseckigen Pfeilern eingekleidet ist. Das Projekt von Rolf Mühlethaler wurde schon 2016 anlässlich einer ihm gewidmeten Ausstellung der Architekturgalerie Luzern gezeigt und in der Begleitschrift beschrieben.
- Ein ähnliches Gitter, wenn auch nur auf einer Längsseite angewandt, findet man am Wohnkomplex (Scheitlin Syfrig Architekten), der sich leicht gebogen zwischen Reuss und Bahntrassee zwängt.
- Bei zwei weiteren massiven turmartigen Blöcken – einer am Seetalplatz in Emmenbrücke (Lussi+Partner AG), einer im neuen Quartier Am Mattenhof in Kriens (Scheitlin Syfrig Architekten) – wird der Raster als eine Art Blendfolie kenntlich gemacht.
Wird damit ein neuer Trend eingeläutet? Denken wir an die Gebäude der Europaallee in Zürich, die ebenfalls fast durchwegs eine Rasterstruktur aufweisen. Oder ist diese Häufung eher zufällig entstanden?
Form follows function
Der Gestaltung von Fassaden sind heute kaum Grenzen gesetzt. Die architektonische Moderne stellt hierfür eine Vielzahl von Formen bereit:
- Ein Beispiel moderner Fassadengestaltung sind die Mies’schen Curtain Walls, diese reinen Glasmembranen.
- Ihnen stehen die skulpturalen Verformungen eines Antoni Gaudí gegenüber, dessen Spuren man auch in den Werken von Zaha Hadid erkennen kann.
- Beliebt sind ferner technoide Lösungen, wie sie erstmals beim Pariser Centre Pompidou von Renzo Piano und Richard Rogers umgesetzt wurden, und die danach eine eigene Richtung vorgaben, so in den Projekten von Norman Forster und Jean Nouvel.
- Oder man verzichtet gänzlich auf eine nachvollziehbare Ordnung und fragmentiert unter Vermeidung des Rechten Winkels Inneres wie Äusseres. Als Beispiel sei auf die Arbeiten von Daniel Libeskind verwiesen.
- Es gibt zudem die vordergründig chaotische Komposition mit gegeneinander versetzten Kuben und gestapelten Haussilhouetten. Meister dieser Strategie ist das Team um Herzog & deMeuron. – Die Liste bleibt unvollständig.
Im Grunde steht eine Rasterfassade für grösstmögliche Ehrlichkeit. Wenn normierte Raumeinheiten aneinandergereiht und aufgeschichtet werden müssen, dann entspricht der Raster einer solchen Tektonik am besten im Sinne von «form follows function». Auf der anderen Seite ist die Gefahr der Monotonie nicht zu übersehen, wenn ein Gebäude mit Rasterfassaden kein Solitär bleibt. Dazu kommt, dass die gerasterten Gebäude oft etwas schwerfällig wirken.
Klassizistische Vorbilder
Stilistisch lassen sich solche Gebäude auf klassizistische Vorbilder mit den Säulenordnungen, Blendpfeilern und ausgeprägten Gesimsen zurückführen. In der frühen Hochhausarchitektur, gefördert von Louis Sullivan, wurden die nichttragenden Fassaden durch ein ausgeprägtes Rahmenwerk derart gestaltet, dass sie in die Höhe gestreckten Renaissancepalazzi glichen.
Deutsche Architekten des Expressionismus, so etwa Fritz Höger beispielhaft im Chilehaus in Hamburg, gliederten die Schauseiten aus Klinker mit einem regelmässigen Muster, bestehend aus Lisenen, Bändern und Fensteröffnungen. Heute spricht man bei diesen Bauten von Beispielen einer moderaten Moderne; damals jedoch opponierten Vertreter der Avantgarde, allen voran Le Corbusier, gegen solche Kompromisse und votierten für schmucklose Fassaden, in Weiss gekleidet und mit rahmenlosen Fenstern.
Europaweit propagierte man diese minimalistische Sprache mit Mustersiedlungen, angefangen mit der Weissenhofsiedlung in Stuttgart. In diesem Stil liessen sich finanziell bestens situierte Auftraggeber aufwändige Villen bauen, die heute zu den Inkunabeln der frühen Moderne gelten. Auf ungeteilte Liebe stiessen diese Manifeste der Moderne jedoch nicht, zumal im aufkommenden Nationalsozialismus vehement eine monumental klassizistische Architektursprache propagiert wurde. Während des Zweiten Weltkrieges hatten die Befürworter des Neuen Bauens keine Chance mehr, sie mussten sich anpassen oder sich mit anderen Arbeiten über Wasser halten.
Rasterung versus Neues Bauen
Und hier spielt die Schweiz eine im Rückblick eigenartige Rolle. Die grosse Landesausstellung «Landi 39» in Zürich war für den Chefarchitekten Hans Hofmann eine Gelegenheit, eine Alternative zum Neuen Bauen anzubieten, ohne sich dem neoklassizistischen Pomp zu unterwerfen. Entscheidend war die Ausgestaltung des so genannten Höhenweges, einer Holzkonstruktion, deren Brüstungen mit rasterartigen Lattungen versehen wurden. Hans Hofmann und mit ihm befreundete Baumeister entwickelten diese Art der Flächengestaltung weiter und realisierten insbesondere bei öffentlichen Bauten Schauseiten mit auffälliger Rasterung. Dies wurde explizit als Alternative zum Neuen Bauen propagiert, worauf dessen Adepten – unter ihnen Max Bill – mit verbitterten Kommentaren reagierten.
Die Rasterfassade galt in den 1950er Jahren als Schweizer Beitrag zur Nachkriegsarchitektur und wurde dementsprechend an internationalen Ausstellungen gewürdigt. Erst in den 1960ern machte sich eine junge Generation auf sich aufmerksam, die an die Phase des Neuen Bauens anknüpfte. In diesem Zusammenhang ist die Solothurner Schule zu nennen, oder auch die epochemachende Schulanlage Freudenberg von Jacques Schader, wo man vergebens nach Rasterfassaden sucht.
Es wurde still um die Rasterfassade, die erst wieder im Dunstkreis der Postmoderne – Hans Kollhoff sei hier speziell erwähnt – neues Interesse fand. Nachdem diese Stilperiode etwa ab 1990 aus der Mode kam, scheinen gerasterte Fassaden sich im gegenwärtigen Bauen zurückzumelden. Ob diese Wiederkehr von Dauer ist oder ob es sich nur um ein kurzfristiges Revival handelt, wird man sehen.