Die Gesellschaft verlangt von der (Volks-)Schule ständig neue Dienste. Das Kennzeichen der Schulentwicklung der vergangenen Jahre ist die Addition. Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde wenig. Die Subtraktion bleibt als Schuloperation inexistent.
Schule ist kein Input-Output-Automat
Die Schule hat viele Aufgaben übernommen, sehr viele, vermutlich zu viele. Sie muss integrieren und individualisieren, sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren, die hochdeutsche Sprache schulen und mathematische Fähigkeiten entwickeln. Sie soll in Themen von Mensch und Umwelt einführen, Musisches und Kreatives fördern, ethisches Verhalten stärken und die Kinder zur Freude an der Bewegung ermutigen. Und überdies das Lernen lehren. Dazu noch manches mehr. Alles ist irgendwie wichtig geworden.
Bleiben bei dieser Fülle auch Raum zum Nachdenken und Zeit zum Üben, zum Vertiefen?
Und am Ende ist nichts da
Das Hirn ist kein Datenrucksack, das Arbeitsgedächtnis behält Neues nur kurz. Darum verflüchtigen sich viele Informationen dramatisch schnell. Das wissen wir alle. Die uralte klassische „Vergessenskurve“ von Hermann Ebbinghaus belegt eindrücklich, dass neu erworbene Lerninhalte zuerst sehr rasch, allmählich jedoch langsamer aus dem Bereich aktiv verfügbaren Wissens fallen. Ohne Repetitionen und ohne vernetzendes Üben in angemessenen Intervallen ist am Ende nichts da.
Neues muss aus dem Arbeitsgedächtnis ans „intermediäre“ Gedächtnis weitergleitet, später im Langzeitgedächtnis vernetzt und gesichert werden. Das braucht Zeit. Und die fehlt in der Schule nicht selten. Hausaufgaben als vertiefendes Wiederholen helfen. Sie bremsen oder verhindern den Behaltensverlust und fördern das Können.
Üben, Repetieren, Automatisieren
Darum bilden Üben, Repetieren von Gelerntem und Automatisieren die wichtigste Grundform von Hausaufgaben und die am meisten verbreitete. Das Wiederholen ist konstitutiv für wirksame Lernprozesse; darum auch muss es Bestandteil des Unterrichts sein. Ohne fleissiges und kontinuierliches Üben geht es nicht. Das hat jede junge Geigerin verinnerlicht, das kennt jeder Junioren-Fussballer. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Repetitio est mater studiorum, wissen wir seit den Römern. Wiederholung ist die Mutter der Studien.
Eltern sind keine Nachhilfeinstanz
Doch Hausaufgaben kommen unter Druck. Der Bestsellerautor Remo Largo, der zwar viel von Kindern versteht, aber wenig vom System Schule, meint apodiktisch: „Hausaufgaben bringen gar nichts. Schüler und Eltern werden damit nur schikaniert.“ Basta.
Mag sein, wenn Lehrpersonen im Zuge des selbstgesteuerten Lernens ganze Vorträge an ihre Schüler delegieren – und dabei die Eltern als Lernhilfe missbrauchen. Eine solche Praxis greift ins familiäre Leben ein: Eltern recherchieren, unterstützen und verfertigen Power-Point-Präsentationen oder schreiben gar ganze Texte. Das ist nicht der Sinn von Hausaufgaben, sondern deren Perversion. Nicht umsonst nennt sich eine aktuelle Kampfschrift „Hausaufgaben – Nein Danke!“ Allzu oft verkommen sie leider zum Ersatz für fehlende Übungsphasen oder zum Nachholen, was der Unterricht aus didaktischem Unvermögen versäumt hat. Das geht nicht.
Reflektierte Hausaufgabenpraxis
Dennoch sind Hausaufgaben mehr als ein „pädagogisches Ritual“, wie Gabriel Romano, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern, sie dünkelhaft bezeichnet. Jede erfahrene Lehrerin, jeder pflichtbewusste Lehrer weiss: Hausaufgaben gehen organisch aus dem Unterricht hervor. Die Effekte sind stärker, wenn der Auftragsinhalt weder komplex noch neu ist. Hausaufgaben dürfen nicht zu umfangreich und müssen individuell erfüllbar sein – wenn immer möglich auch anregend. Zu wirksamen Hausaufgaben gehören Hinweise zum möglichen lernmethodischen Vorgehen ebenso wie die Kontrolle und das Feedback der Lehrperson. Dann sind sie sinnvoll und helfen weiter.
Diese Ziele zu erreichen ist anspruchsvoll. Sie gehören aber zum unterrichtlich-erzieherischen Planen und Handeln und basieren auf einem unverzichtbaren Teil beruflich-pädagogischen Könnens. Allerdings erschweren zu viele Fachlehrer die Koordination. Die Aufgabenfülle führt nicht selten zu einer Überforderung der Kinder. Reduktion und Konzentration auf wenige Kernfächer, zum Beispiel auf Mathematik und Deutsch, helfen weiter, dazu der Grundsatz: lieber verteilt als massiert; lieber kurze, dafür regelmässige Hausaufgaben.
Hausaufgaben mit moderatem Lerneffekt
Die grosse Studie des renommierten neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie (1) ordnet Hausaufgaben eine moderate Effektstärke zu. Auch wenn der Lernwert der Hausaufgaben nur mässig positiv ausfällt (2), ist das kein Grund, sie abzuschaffen, wohl aber, sie präzis und dosiert zu erteilen, sie zu kontrollieren und zu kommentieren. Auch das fördert die Autonomie der Kinder.
Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab. Im Gegenteil. Kinder aus bildungsfreundlichen Milieus werden nach wie vor auf elterliche Hilfe zählen können. Studien aus Deutschland zeigen – und das schockiert –, dass der Schulerfolg in unserer Zeit sehr viel stärker von der sozialen Schicht abhängt als noch in den siebziger Jahren. Neue Unterrichtsformen wie das selbstorientierte Lernen SOL oder das Lernen ohne Lehrer LOL verstärken diese Tendenz. Ob das Abschaffen von Hausaufgaben der Chancengleichheit dient, wäre zumindest zu hinterfragen.
Hausaufgaben als Bestandteil des Lernweges
Vom Durchnehmen des Inhaltes zum Verstehen und Können ist ein weiter Weg. Es ist keine asphaltierte Schnellstrasse. Im Gegenteil: ein verschlungener, nicht selten dorniger Pfad bergauf. Üben und Vertiefen gehören zum Lernweg. An ihnen kommt niemand vorbei. Hausaufgaben sind unverzichtbare Stationen dieses Prozesses – je älter die Schüler sind, desto wichtiger werden sie. Darum haben Hausaufgaben ihren Wert, sagt John Hattie – gute Lehrpersonen geben ihnen den Wert, lehrt die Erfahrung.
(1) Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Die Studie gilt international als Referenz.
(2) Im Vergleich dazu: Individualisierender oder webbasierter Unterricht und altersdurchmischtes Lernen AdL weisen praktisch keinen signifikanten Lerneffekt aus.