Das nie abgeschlossene Lexikon, das „das globales Wissen der Menschheit sammeln und allen frei zugänglich machen“ will, gibt es heute bereits in 260 Sprachen, darunter so ausgefallenen wie SiSwati, Sranantango oder isiZulu. In Mode kommen auch Dialekt-Ausgaben: Bayrisch, Kölsch, Plattdeutsch. Wikipedia auf Deutsch enthält beispielsweise gegen 1,2 Millionen, die (meistbesuchte) englische Version rund 3 Millionen Artikel. Jeder Internetbenutzer kann aber Wikipedia nicht nur lesen, sondern auch als Autor mitwirken – mehr als 6700 Autorinnen und Autoren arbeiten regelmässig allein für die deutschsprachige Ausgabe.
Am 15. Januar 2001 aufgeschaltet
Wikipedia feiert zurzeit den 10. Geburtstag. Es gab zwar mit dem Portal Nupedia bereits ein Vorgänger-Projekt, aber richtig in Fahrt kam die Idee einer allumfassenden Enzyklopädie den beiden Gründern Jimmy Donald Wales und Larry Sanger erst im Jahr 2000, aufgeschaltet wurde Wikipedia am 15. Januar 2001. Dieses Datum gilt deshalb als eigentliche Geburtsstunde. Wikipedia setzt sich aus „wiki“ (auf hawaiianisch „schnell“) und „pedia“ (engl. encyclopedia) zusammen.
Während Larry Sanger kurz später das Projekt verliess, baute Jimmy Wales – von seinen Freunden liebevoll Jimbo genannt – sein Lebenswerk immer mehr und mehr aus. Betreiberin des Portals ist offiziell die Stiftung Wikimedia mit Sitz in San Francisco, bei welcher Wales Ehrenvorsitzender geblieben ist.
Jimmy Wales (44) wurde in Huntsville/Alabama (USA) als Sohn eines Gemüsehändlers und einer Privatlehrerin geboren, die ihm Privatunterricht gab. Jimmy besuchte nie die öffentliche Schule und konnte bereits mit vier Jahren lesen – er blätterte angeblich am liebsten bereits damals im „World Book Encyclopedia“ herum… An einer Privatschule lernte er 1968 die ersten Computer kennen. Er studierte an der Auburn University Finanz- und Wirtschaftswissenschaften und bildete sich anschliessend an der Alabama und Indiana University weiter.
Ohne Werbung, ohne Profit
Sein finanzielles Polster verdiente der junge Amerikaner dann als Börsenhändler in Chicago, und obwohl er sich heute als „nicht reich“ bezeichnet, leistet er seinen ganzen Einsatz für Wikipedia ohne etwas daran zu verdienen. Er soll sogar seine Flugreisen zu den Stiftungsratssitzungen immer aus dem eigenen Sack bezahlen. Dies ganz nach seinem Wikipedia-Grundsatz „Ohne Werbung, ohne Profit, ohne Hintergedanken“. Wales erhielt im Lauf der letzten Jahre eine ganze Reihe von Preisen und Auszeichnungen – am 26. Januar verleiht ihm das GDI in Rüschlikon den Gottlieb-Duttweiler-Preis 2011 in der Höhe von 100'000 Franken.
Wikipedia hat immer auch Kritik und Eifersüchteleien ausgelöst. So wird dem Online-Nachschlagwerk etwa nachgesagt, es sei gutgläubig-naiv, vermische Fachwissen mit Banalwissen, öffne Eigeninteressen und Weltverbesserern Tür und Tor oder werde eines Tages doch noch über Werbung zum grossen Geschäft mutieren.
Wales weist all diese Kritiken entschieden zurück, indem er z.B. das Portal von www.wikipedia.com in -.org umwandelte oder die ganze Benützung und Weiterverwendung der Inhalte urheberrechtliche offen abgesichert hat und somit allen frei zur Verfügung stellt. „Um es vorsichtig zu formulieren“, meint Jimbo, „haben besonders Geschäftsleute skeptisch auf die Idee reagiert, dass Menschen aus aller Welt in ihrer Freizeit das Wissen der Welt zusammen tragen würden“.
Wikipedia scheint ihm bis jetzt recht zu geben: In zahlreichen Ländern sind eigenständige Vereine entstanden, so auch in der Schweiz. Eine neue Wikimedia in einer anderen Sprache kann jederzeit gegründet werden, sobald sich genügend Interessierte finden. Diese Communities sind weitgehend selbständig, müssen sich allerdings an die Spielregeln der internationalen Stiftung halten, die als Usenet-Netiquette festgeschrieben sind. Diese beinhalten das Gebot des neutralen Standpunkts (neutral point of view NPOV), der Nachprüfbarkeit und das etwas unklar formulierte Postulat „keine Theoriefindung“.
Dass Ehrenkodex und angestrebte Qualität der Artikel eingehalten werden, darüber wachen in allen Ländern sogenannte Administratoren, die von der Benutzergemeinde gewählt werden. In der Schweiz gibt es über 25 solcher Administratoren – einer davon ist Marcel Zumstein aus Thun. Der Informatiker wendet jede Woche mehrere Stunden an Frewilligenarbeit auf, neu ins Netz gestellte Beiträge zu überwachen und allenfalls zu korrigieren.
Ein Administrator: Marcel Zumstein aus Thun
Zumstein kann dabei willentlich falsche und verzerrte Artikel - oder sogenannte „Vandalenakte“ - vorübergehend oder ganz sperren, einzelne Bearbeiter, die grob oder wiederholt gegen die Grundregeln verstossen, auch ausschliessen. Es ist dann an der Gemeinschaft zu bestimmen, welche Version zulässig bleibt. Damit soll bewusst falschen, bösartigen oder gar rassistischen Texten der Riegel geschoben werden.
„Ich verstehe meinen Einsatz als Dienst an der Allgemeinheit und im Interesse der Wissensvermittlung“, umschreibt der Thuner sein Engagement als Wikipedia-Administrator. „Ich habe Freude, anderen Wissen zu vermitteln“. Ist er im Innersten ein Weltverbesserer? „Etwas leicht Missionarisches ist wahrscheinlich immer dabei“, schmunzelt er. Er will seine Tätigkeit für Wikipedia aber nach wie vor als Hobby verstanden wissen.
Angewiesen auf Spenden
Am Hauptsitz der Stiftung arbeiten rund 30 Angestellte fürs Funktionieren der grossen Idee. Sowohl interne Verlinkungen wie ganze Logistik sind beeindruckend: Zurzeit sind nicht weniger als 370 Server in den USA, den Niederlanden und in Asien aktiv. Sie verarbeiten zwischen 25'000 und 60'000 Zugriffen pro Sekunde.
Das alles funktioniert natürlich nicht ohne Geld. So ruft Jimmy Wales immer zum Jahresbeginn – wie auch jetzt wieder - die Wiki-BenutzerInnen zu Spenden auf. Das gegenwärtige Jahresbudget beläuft sich auf 9,4 Millionen. Mit 2 Mio Dollar ist Google zurzeit der grösste Spender. Das meiste Geld kommt jedoch durch kleine Spenden von durchschnittlich etwa 35 Franken zustande.
Nichts zu tun mit WikiLeaks
Mittlerweile hat Wikipedia spezialisierte Ableger gefunden: Wikitionary (Rückgriff auf Wörterbücher), Wikibooks (Lern- und Lehrmaterialien), Wikiquote (Zitate), Wikisource (Rückgriff auf Originalquellen), Wikispecies (Artenverzeichnis), Wikinews (freie Nachrichtenquellen) oder Wikiversity (Studien- und Forschungsplattform). Spassvögel haben bereits Parodien auf Wikipedia kreiert wie Kamelopedia, Uncyclopedia oder Stupidedia. Die umstrittene Enthüllungsplattform WikiLeaks von Julian Assange hat mitWikimedia nichts zu tun.
Gerade bei diesen Parodien schwingt eine weitere Kritik mit: verlernen junge Leute durch Wikipedia nicht die Fähigkeit, selber zu recherchieren, zu forschen und nachzudenken?
Werden künftig Prüfungs- oder Abschlussarbeiten nicht ganz einfach abgekupfert oder gar telquel kopiert? Jimbo warnt Schülerinnen und Schüler: “Bei Wikipedia abzuschreiben ist nicht sehr schlau – auch Lehrer lesen diese Seiten“. Und zur Lernzukunft meint er: „Frontalunterricht durch Lehrer, die vorgeschriebenen Stoff in die Hirne unserer Kinder hämmern, hat mit der Art, wie junge Menschen heute lernen, nichts mehr zu tun. Sie werden die Welt zunehmend selbst entdecken und ihren eigenen Interessen folgen“.