Absolut notwendig, tönt es von bürgerlicher Seite. Ein viel zu teures Spielzeug für Militärköpfe, hallt es von Links-Grün zurück. Es ist, wie es immer war.
Was das jeweilige Arsenal an Argumenten betrifft, hatte es die Linke einst zumindest in einer Hinsicht einfacher: Sie konnte vor der Kulisse eines militärischen Monstrums gegen teure Beschaffungen ankämpfen. „Die Schweiz hat nicht eine Armee, sie ist eine Armee“ lautete im Kalten Krieg ein Slogan, den die Repräsentanten des Bürgerblocks durchaus ernst meinten und welcher der Realität tatsächlich sehr nahe kam. Denn die „heilige Kuh“, wie ihre Kritiker sie auch nannten, prägte und rhythmisierte das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben tiefgreifend.
Verfilzungen
Für viele junge Erwachsene war es, namentlich in ländlichen Gegenden, eine Selbstverständlichkeit, dass man den Jungschützenkurs („vormilitärischen Unterricht“) besuchte. Ein auf Treffsicherheit hinweisendes Standblatt erfüllte den angehenden Wehrmann mit Stolz, ein „Untauglich“ bei der Rekrutierung (zu kleiner Brustumfang, Plattfüsse) mit Scham.
Wer aber bald schon in einer schnittigen Leutnantsuniform herumstolzierte, so schien es wenigstens, hatte die Welt im Sack. Das feine Tuch war jedenfalls karrierefördernd. Zwischen beruflichen und militärischen Laufbahnen entfalteten sich wirkungsvolle Synergien. Solid verknüpfte Seilschaften führten dazu, dass die oberen Kader von Banken, Versicherungen oder Industriebetrieben nicht selten identisch waren mit den oberen Kadern von Regimentern oder Divisionen. Und diese sogenannten Eliten wiederum empfahlen jenen, die die militärische Allgegenwart kritisierten oder für einen Zivildienst einstanden: Moskau einfach!
Die Hybris militärischen Denkens erreichte ihren Höhepunkt 1958, als der Bundesrat die Erklärung abgab, die Schweiz brauche für ihre Verteidigung die besten Waffen: „Dazu gehören auch Atomwaffen.“ Das Monströse unserer Armee manifestierte sich aber auch in ihren Beständen (rund 700’000 Mann) und im Anteil, den ihr der gut geölte Bürgerblock bei den Budgetberatungen zuhielt. 1960 waren dies 37,3 Prozent des gesamten Bundesbudgets, mit riesigem Abstand das grösste Kuchenstück. Auf die soziale Wohlfahrt entfielen damals 12,5 Prozent.
Die Entheiligung der „heiligen Kuh“
In den folgenden Jahren verschoben sich die Gewichtungen sukzessive und, nach den historischen Umbrüchen zwischen1989 und 1991 (Mauerfall, Untergang der Sowjetunion), markant. Heute steht die soziale Wohlfahrt mit Abstand an der Spitze der grossen Ausgabenposten (32,2 Prozent), während das Militär auf Rang 5 zurückfiel und noch rund 7 Prozent der Gesamtausgaben in Anspruch nimmt.
Im Prinzip bewegte sich die Armee in den vergangenen Jahrzehnten auf ähnlichem Pfade wie die Kirche. Die Divisionäre wie die Kleriker genossen einst Einfluss und Ansehen, ihr Wort hatte Gewicht, ihre Uniformen und Talare machten dem breiten Publikum Eindruck. Der gesellschaftliche Wandel und die zahlreichen neuen Probleme aber drängten den Einfluss der alten und nicht immer über alle Zweifel erhabenen Autoritäten zurück – mit dem Effekt, dass die Armee, ähnlich wie die einst mächtige Geistlichkeit, auf ein Mass schrumpfte, das jedenfalls erträglicher ist als einst. Die „heilige Kuh“ hat ihre Heiligkeit verloren, und das ist gut so.
Europa, ein kriegerischer Kontinent
Wenn die Gegner der Kampfjet-Vorlage, über die am 27. September abgestimmt wird, erklären, im Hier und Jetzt gebe es Gefährdungen, deren Bekämpfung dringender sei als irgendwelche militärische, haben sie durchaus Recht. Klimawandel, Corona-Viren, Cyber- und Terrorangriffe stellen reale Gefahren dar. Die Prophetie aber, in Europa sei ein militärischer Konflikt höchst unwahrscheinlich und kaum vorstellbar, entbehrt nicht einer gewissen Blindheit.
Europa war während Jahrhunderten ein ausgesprochen kriegerischer Kontinent. Und jeder Krieg trug stets den Keim für den nächsten in sich. Nehmen wir die vergangenen hundert Jahre. Der Erste Weltkrieg führte, trotz aller Friedensparolen und der „Nie wieder Krieg“-Bewegung, eine Generation später direkt in den Zweiten, und dieser Zweite in die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre (siehe zum Beispiel Slavko Goldsteins Buch „1941 – The Year That Keeps Returning“).
Bei allen Kriegen und Konflikten war der Nationalismus ein massgeblicher Treiber. Zwar erlebte der Kontinent – dank Europäischer Union und Nato – eine lange Friedensperiode. Nur: Eine Garantie für deren Ewigkeit gibt es nicht. Das offenbar nicht zu tilgende Gift des Nationalismus ist in unseren Breitengraden wieder höchst virulent, und die Populisten werden nicht müde, in der bewegten Geschichte alle tatsächlichen oder vermeintlichen Ungerechtigkeiten hervorzukramen, die ihren Ländern widerfahren sind, und mit ihrem Ruf nach Revanche oder zumindest Revision ihre Gefolgschaften zu mobilisieren. Viktor Orban beispielsweise träumt von der Wiederherstellung Grossungarns, dem türkischen Präsidenten schwebt die Wiederherstellung des Osmanischen Reiches vor, Putin trauert dem Sowjetreich nach.
Auch anderswo schlummern im Untergrund des einst kriegerischen Kontinents unverdaute Konflikte und Ressentiments, der zivilisatorische Firnis, das hat sich in Jugoslawien gezeigt, ist dünn, und das „Ende der Geschichte“, das Professor Fukuyama nach dem Zerfall der UdSSR ausrief, hat längst ihr eigenes Ende gefunden: Die Demokratien stehen weniger als strahlende (und stabilisierende) Sieger da, sie sind selber zahlreichen Anfechtungen ausgesetzt.
Embedded Switzerland
Was hat dies alles mit der Schweiz zu tun? Eigentlich nichts, wie die Gegner der anstehenden Beschaffung meinen. Unser Land, sagen sie, sei eingebettet in einen „cordon sanitaire“ aus Ländern, von denen sich niemand vorstellen könne, dass sie kriegerische Absichten hegten. Das ist richtig, wir profitieren von diesem hauptsächlich aus Nato-Staaten gebildeten Schutzgürtel. Alle diese Länder stehen derzeit unter massivem Druck des US-Präsidenten, ihre Verteidigungsausgaben auf mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen. Einzelne tun das bereits, etwa die kleinen baltischen Staaten, die immer noch Rekonvaleszenten ihrer Sowjetzeit sind, oder Polen und Griechenland. Die Deutschen investieren in die Verteidigung 1,3, die Franzosen 1,9 Prozent ihres BIP.
Mit ihrer jährlichen Budgettranche von rund 5-Milliarden-Franken (aus der auch die beantragten Kampfjets finanziert werden sollen) setzt die Schweiz 0,7 Prozent ihres BIP für das Militär ein. Das ist, gemessen an der Wirtschaftskraft, deutlicher weniger als in den meisten andern Ländern Europas. „Embedded Switzerland“ profitiert von der Sicherheit, die wirtschaftlich bedeutend schwächere Länder herstellen. Man kann sich fragen, ob diese Länder dem reichen Kleinstaat eines Tages nicht ihre Rechnung dafür präsentieren könnten – analog zur „Kohäsionsmilliarde“? Es gab auch schon Stimmen, die Schweiz könnte Sicherheit auswärts „einkaufen“. Solche Entwicklungen wären der Handlungsfähigkeit unseres Landes kaum förderlich, abgesehen davon, dass sich knifflige Fragen zur Neutralität stellten.
Das Problem des Übertreibens
Neue Kampfjets; ja oder nein? Viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dürften (wie der Verfasser dieser Zeilen) eher überfordert sein, wenn sie sich ihre Antwort zurechtlegen und dabei nicht einfach einer Ideologie, einer Parteiparole oder der letzten Stammtischrunde folgen mögen. Wie soll der Laie beurteilen können, was für unser Land optimal ist? Die SP und die Grünen, die das Referendum ergriffen haben, lehnen „Luxuskampfjets“ dezidiert ab, erklären aber gleichzeitig, man wolle durchaus eine Luftverteidigung bzw. eine Luftpolizei, allerdings eine andere. Das SP-Parteiprogramm postuliert allerdings klar die Abschaffung der Armee und, bis das Ziel erreicht ist, massive Kürzungen ihres Budgets. Ähnlich ist das Programm der Grünen ausgelegt. Beide wollen Sicherheit mittels „aktiver Friedenspolitik“ erreichen.
Während Jahrzehnten übertrieb es die Schweiz mit ihrem militärischen Monster. Heute stellt sich die Frage, ob nicht in die andere Richtung übertrieben wird. So gesehen ist die bevorstehende Abstimmung auch ein Plebiszit: Ist die Zeit reif, die Streitkräfte sukzessive zu entsorgen? Oder macht es mehr Sinn, wenn sich das kleine, bündnisfreie Land notfalls auch mittels einer auf ein vernünftiges Mass reduzierten Armee schützen kann?
Die zahlreichen Verwerfungen politischer und gesellschaftlicher Art, die die Welt verdüstern, sprechen eher für die zweite Variante.