Es ist eigentlich ein Film über verschiedene Zeiten, über Geschichte und Geschichtslosigkeit: Er erzählt Ursulas Lebensgeschichte und diejenige ihrer Pflegemutter Anita Utzinger, er zeigt Institutions- und Gesellschaftsgeschichte, Filmgeschichte, und schliesslich eine Zeit, die historisch nicht fassbar ist: die Zeitlosigkeit, die im Kontakt mit Ursula spürbar werden kann.
Lebensgeschichten
Kaum war Ursula Bodmer 1951 geboren, hat ihre Mutter sie verlassen. Acht Monate später zeigte sich eine Entwicklungsstörung – die Ärzte fanden einen schweren Defekt des Gehirns, eine Taubblindheit, eine Epilepsie und kamen zum Schluss, sie werde nicht lange leben. Später wurden ihr eine Idiotie und Bildungsunfähigkeit attestiert. Der Vormund gab sie in ein Heim, aber dort drohte sie die Nerven der Hausmutter zu ruinieren, indem sie stundenlang schrie, bei Tag und bei Nacht.
Als schwieriger Pflegefall wurde sie weitergegeben. Etwa ein Dutzend Heime habe sie im Lauf der folgenden drei Jahre durchwandert, erzählt Anita Utzinger, ihre spätere Pflegemutter. Diese, ursprünglich Lehrerin in Zürich, hatte eine Klasse mit seh- und hörbehinderten sowie sprachgestörten Kindern geführt, hatte sich in den USA heilpädagogisch fortgebildet und an der„Perkins School for the Blind“ in Boston ein Praktikum gemacht.
An dieser ersten derartigen Schule hat die seinerzeit hochberühmte taubblinde Helen Keller (1880-1968) das Werkzeug bekommen, das sie befähigen sollte, ein College zu absolvieren, Fremdsprachen zu lernen, Bücher zu schreiben und Vorträge zu halten – sie hat sich für die Rechte der Schwarzen eingesetzt und war Mitglied der sozialistischen Partei Amerikas.
Durch die Vermittlung des Direktors von Perkins hat Utzinger auch Ursula kennengelernt. Sie bezweifelte deren „Bildungsunfähigkeit“. „Das ist damals um die IV gegangen“, erzählt sie – in den 60er Jahren habe die IV nur bekommen, wer bildungsfähig war. Sie brachte Ursula aus Zürich nach Perkins, Boston, wo ihr eine gewisse Bildungsfähigkeit attestiert wurde. Ihr Fall wurde zum Thema in der Presse und eben: im Film.
Später nahm Frau Utzinger, unterstützt von ihren Eltern, Ursula zu sich in Pflege, ein lebensentscheidender Entschluss, infolge dessen sich Ursulas Leben von dem ihrer Pflegemutter nicht mehr ablösen lässt. Denn Ursula hat sich nicht wie Helen Keller zu weitgehender Selbständigkeit entwickelt, sie ist schwerbehindert geblieben. Als Mutter eines solchen Menschen sollte man nicht alt werden, sagt Frau Utzinger im Interview – sie hat Ursula vor einiger Zeit in die Schweizerische Stiftung für Taubblinde in Langnau a/A gegeben und nimmt sie nur noch zeitweise zu sich.
Von dieser Geschichte und dem aktuellen Stand der Dinge berichtet Lyssy in seinem Film.
Institutions- und Gesellschaftsgeschichte
Schon die Titel der beiden Filme zum Fall Ursula weisen auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Stellung Taubblinder - behinderter Menschen überhaupt - hin. Der Untertitel: „… oder das unwerte Leben“ zitierte die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von 1920, die der späteren nationalsozialistischen Ökonomie in Form der Tötung der Schwächsten eine wissenschaftliche und ethische Basis liefern sollte – ihre Autoren waren der hochangesehene Rechtslehrer Karl Binding und Alfred Hoche, Ordinarius für Psychiatrie.
Der Missachtung der Behinderten wollten Reni Mertens und Walter Marti etwas entgegenstellen, als sie die Arbeit der angesehenen Pionierin der heilpädagogischen Rhythmik, Mimi Scheiblauer, mit behinderten Kindern – unter ihnen Ursula – dokumentierten. Dabei ging es um den Nachweis der Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kinder. Denn 1960 ist das Bundesgesetz für die Invalidenversicherung in Kraft getreten, das Hilfe für entwicklungsfähige Kinder vorsah. Scharf haben die Filmer auf diesem Hintergrund auch das Ungenügen der für Behinderte zur Verfügung stehenden Institutionen kritisiert und auf diese Weise wohl deren Verbesserungen mit angestossen.
Der Untertitel von Rolf Lyssys Ursula-Film: „Leben in Anderswo“ legt den Akzent anders. Er fokussiert auf Ursula, auf ihre mit dem Leben der Pflegemutter verwobene Geschichte und ihr jetziges Leben. Er betont nicht Ursulas vorhandene oder fehlende Entwicklungsmöglichkeiten, sondern ihre Art, tastend, riechend, schmeckend in der Welt zu sein. Der erste Film über sie war schwarz-weiss; Lyssi filmt in Farben. Aufmerksam, sinnen- und emotionsnah beschreibt er deren Alltag mit ihrer Pflegemutter und in der „Tanne“ Langnau.
Auf intelligente Weise meditativ wirken seine Bilder von Ursulas Gang, der Bewegungen ihrer Hände, ihres Gesichts und der grundsätzlich liebevollen, sorgenden Beziehung ihrer Pflegemutter zu ihr. Frau Scheiblauer sei streng gewesen mit Ursula, bemerkt diese, sie habe sie zum Sehen und zur Autonomie erziehen wollen. Man müsse sie aber liebhaben, sonst gehe nichts. Lyssys Film schafft es, sein Publikum dieses Liebhaben teilen zu lassen.
Filmgeschichte
Autoren des „Ursula“-Films von 1966 waren Reni Mertens und Walter Marti, ein Ahnenpaar des Schweizer Films. Leidenschaftlich links- und sozialengagiert, befreundet etwa mit Bertolt Brecht, Benno Besson, Therese Giehse, auch mit der Kinderärztin Marie („Meiti“) Meierhofer, der Mitbegründerin des 1944 eröffneten Kinderdorfes Pestalozzi in Trogen, haben Mertens und Marti 1953 ihre Firma ‘Teleproduction’ gestartet, die u.a. die ersten langen Filme von Alain Tanner und Rolf Lyssy produzierte. 1962 haben sie, zusammen mit u.a. Claude Goretta, Alexander J. Seiler und Alain Tanner, den Verband der Schweizer Filmgestalter gegründet. An die 20 kürzeren und längeren Filme haben die beiden selber realisiert, sie gehören zu den PionierInnen und Förderern des Schweizer Dokumentarfilms. 1997 amtierte Reni Mertens als Präsidentin der ersten Jury für den Schweizer Filmpreis.
„Ursula“ ist das bekannteste Werk von Marti und Mertens, die 1999/2000 kurz nacheinander gestorben sind. Der Film hat seinerzeit einige Aufmerksamkeit erregt und ist mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Behinderung auf die Leinwand zu bringen, war ein Novum – andere Dokumentarfilme zum Thema folgten später. Auch ich selber habe ihn übrigens seinerzeit rezensiert ("Reformatio" 1966), als Film „von einer ungewöhnlichen künstlerischen Tapferkeit“.
Rolf Lyssy (1936), später Mitbegründer des neueren Schweizer Spielfilms, hat als Kameramann und Cutter an Mertens’ und Martis Film über Mimi Scheiblauers musikalisch-rhythmische Heilpädagogik mitgearbeitet. Dort lernte er die 14-jährige Ursula kennen, die aussah wie vier, „ein rätselhaftes menschliches Wesen, das mich sofort in seinen Bann zog“. „Zusammen mit Reni Mertens und Walter Marti entschlossen wir uns, mit ihr und ihrer Pflegemutter zusätzliche Aufnahmen zu drehen und diese mit dem bestehenden Material zu einem Dokumentarfilm zu montieren.“
Als sich dann im Frühling 2009 Anita Utzinger bei Lyssy nach einer DVD dieses Films erkundigte, brachte ihr dieser rasch das Gewünschte „und es gab eine erste Wiederbegegnung mit der bald 60-jährigen Ursula“ – die jetzt etwa so gross ist wie eine Neunjährige.
Geschichtsloses Da-Sein
„Damals wie heute ein grosses Rätsel“, schreibt Lyssy über sie, „das auch ein Geheimnis in sich schliesst, etwas Traumwandlerisches, dem nur menschliche Zuwendung folgen kann. Davon berichtet ‘Ursula – Leben in Anderswo’.“ Ursulas Anderswo ist auch ein Anderswann, ein Leben ausserhalb der Geschichte, der Ereignisse, der Entwicklung – in einer Anderen Zeit, die nicht gemessen, die aber im Umgang mit einer Ursula vielleicht erlebt, erahnt, ermessen werden kann. Kein Zufall in diesem Zusammenhang, dass es vorwiegend Frauen sind, die dieses Leben mit ihr teilen – und mit Rolf Lyssy ein Mann, der es zu einem Stück Geschichte macht.
Coda: Geld und Liebe
Lyssy ebnet seinem Publikum den Weg, Ursula liebzuhaben, wie Anita Utzinger und er selbst sie offenkundig liebhaben. Er stellt auch klar, wieviel Zeit, Anstrengung und Geld es braucht für dieses Werk – und dass es der Liebesmühe wert ist. Sie würde es wieder so machen, sagt Frau Utzinger. Sie bekomme für ihre Menschlichkeit gegenüber Ursula etwas zurück, „das auch nur in Menschlichkeit zu bemessen“ sei, kommentiert Lyssy. Vielleicht ist es richtig, dass zwischenmenschliche Knochenarbeit im Allgemeinen nicht publiziert und geehrt wird. Ungut hingegen ist zweifellos, wie sehr der Wert von Menschen und ihrer Arbeit sich dieser Zeiten nach öffentlichem Einfluss und Ansehen bemisst. Geld und Menschlichkeit, Geld und Liebe sind zweierlei, inkommensurabel, doch kann man keinesfalls sagen, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Es sind empfindliche und tabuisierte, aber auch lebenswichtige Bereiche, die man mit Fragen nach dem Verhältnis von Geld und Liebe betritt.
Der Film startet zwischen 12. und 19. Januar 2012 in Zürich, Luzern, Wil, Bern, Brugg, Baden und Basel.