Die wirkliche Signatur eines Zeitalters gibt sich mitunter an ganz unscheinbaren, alltäglich gewordenen Dingen und Gesten zu erkennen. Unser Zeitalter nennen wir das digitale: das Zeitalter des Fingers. Und was tut dieser Körperteil die ganze Zeit? Er schaltet ein und aus, er drückt Tasten und Knöpfe. Wir könnten das digitale Zeitalter füglich auch das Knopfdruck-Zeitalter nennen. Aus der Perspektive des Fingers sticht die Doppelbedeutung von „digital“ besonders hervor. Generell bezeichnet „digital“ binäre Computeroperationen. Speziell repräsentieren diese Operationen eben auch den physischen Akt des Fingers, der ein- und ausschaltet.
Das digitale Kommando
So gesehen beginnt die Digitalisierung nicht mit dem Computer, sondern viel früher, am Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich im Zuge eines Technikschubs ein neues Ideal der Maschinenbeherrschung Bahn brach. Steuerung, hiess die Losung. Die Steuerung der Maschine durch die Hand des Menschen erforderte nicht nur eine neue Art der Kontrolle, die im Knopf Gestalt annahm, sondern auch einen neuen Typus von Kontrolleur, dessen Finger Aufgaben an andere Menschen und Maschinen delegierten – eine Befehlsausgabe über die Tastatur. Auf diese Weise entstand eine Arbeitsteilung zwischen den Knopfdrückern und den „Knopfgedrückten“. Distanz und Differenz zwischen Management und manueller Arbeit, zwischen der Arbeit mit dem Finger und der Arbeit mit dem ganzen Körper wuchsen. Man könnte deshalb, weil die Steuerung der Arbeitsgänge vom Finger ausging, vom digitalen Kommando sprechen.
Bereits die frühen Vorstellungen des digitalen Kommandos lassen den späteren Computernutzer erahnen, dessen Finger über die Tastatur flitzen. Auch wecken die frühen Mensch-Maschine-Interaktionen Visionen der instantanen Wunscherfüllung per Tastendruck. Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass der Tastenbefehl ein gebieterischer Akt ist, der in einer materiellen Welt stattfindet. Wie sanft er auch sein mag, seine Wirkungen können unsanft ausfallen. Er übt Macht aus, ist autoritärer Beweger von Maschinen und Menschen. Die Souplesse und Diskretion des Knopfdrucks täuschen nicht darüber hinweg, dass die Beziehung zwischen „Drücker“ und „Gedrücktem“ ein Machtgefälle verbirgt, das sich auch physisch spürbar machen kann.
Der Knopf zeigt soziale Distinktion an
Der Knopf ist auch Indikator sozialer Distinktion. Ein gewisser Marquis de Castellane schrieb 1903 in der „Detroit Free Press“ über ein „Zeitalter der geringen Anstrengung“. „Meinen Sie nicht“, fragte er rhetorisch, „dass diese erstaunliche Verbreitung des Mechanismus die Welt eintöniger und verwöhnter machen wird?“ (...) „Nicht mehr mit Menschen umzugehen, sondern von Dingen abhängig zu sein!“ Im „Umgang mit Menschen“ darf man unschwer Klassendünkel vermuten: Umgang des Herrn mit seinem Diener.
Nun schiebt sich die Technik dazwischen. Der Knopf entzieht zwar den Diener der direkten Botmässigkeit des Herrn, aber immer noch empfängt er Befehle, nun als elektrisches Signal, das der Knopfdruck des Herrn ausgelöst hat.
In der Werbung der aufstrebenden Elektrizitätsunternehmen des frühen 20. Jahrhunderts dominiert eine Metapher: Elektrizität als „unsichtbarer Diener“. Eine Karikatur aus dem Jahre 1891, betitelt mit „A Luxurious Fellow“, zeigt einen im Bett liegenden Mann, der einen Botenjungen beauftragt, den Rufknopf nach dem Hausdiener zu drücken. Wähnen wir uns nicht vorschnell solchen Verhältnissen entrückt. Wer weiss schon, welche Kohorten an global verstreutem Dienstpersonal heute ein einziger Klick im Netz abruft und in Bewegung setzt?
Die Fingerspitze als Beherrscherin der Welt
Man kann den Knopf als Emblem der jüngeren Moderne seit dem Zweiten Weltkrieg ansehen, vom „roten Knopf“ im Kreml und Weissen Haus bis zum Like-Button von Facebook. Der Knopf gehört zum kollektiven Unbewussten unserer technisierten Zivilisation. Wir haben eine magische Beziehung zu ihm.
Magie bedeutet Kurzschluss zwischen Wunsch und Wunscherfüllung. Genau das verspricht der Knopf. Ein Druck genügt – er schaltet Licht und Heizung ein, bestellt Produkte und Personen, schliesst Transaktionen ab, hebt uns im Lift Hunderte von Metern hoch, bringt ganze Fabrikationsprozesse in Gang, lässt eine Bombe explodieren. Handlungsaufwand und -ertrag stehen in einer überwältigenden Asymmetrie: Eine minimale manuelle Geste setzt maximale Energien frei, aktiviert unsichtbare Kräfte. Die Fingerspitze als Beherrscherin der Welt: „So much at your fingertips“ lockt BMW. Oder man denke an die geradezu demiurgischen Machbarkeitsvisionen, die sich um den 3D-Drucker ranken.
Dialektik des Knopfdrückens
Technikgeschichte ist auch eine Geschichte unserer Fingertätigkeiten: Vom Greifen und Klammern des Werkzeugs über das Umlegen von Hebeln und Drehen von Rädern an Maschinen, das Drücken von Knöpfen und Tasten an Automaten, bis zum Führen der Maus und zum flüchtigen Streifen über das tastsensible Touchpad.
Und genau hier zeigt uns diese Geschichte ihre Dialektik: Technikgeschichte ist auch eine Geschichte des Schwunds unserer Fingerfertigkeiten, unserer manuellen Kompetenzen generell. Wie Marx im Kommunistischen Manifest feststellt: „Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein blosses Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird.“ Der Mensch ist gerade noch gut genug, mit einigen rudimentären Fähigkeiten den Produktionsprozess in Gang zu halten. Der knopfdrückende Finger kann beides bedeuten: Potenz und Impotenz; Macht über die Maschine wie auch Ausgeliefertsein an sie.
Vorläufig letztes Stadium markiert das Interface Design: die Wisch-, Streich- und Gleitbewegung über eine glatte Oberfläche als neuer Befehlsgestus im Umgang mit dem Gerät. Kein Schalter, kein Knopf, keine Tasten. Kein Druck mehr, kein Widerstand. Keine materielle Welt? Generell assoziieren wir mit dem Knopfdruck das Simplifizieren, Distanzieren, Reduzieren, also auch das „Entmenschlichen“ der Aktion. Besonders krass heute natürlich in Kriegshandlungen, wenn Drohnen eingesetzt werden. Der Knopfdruck wird zum Inbegriff des von der realen, physischen Welt abgeschotteten Menschen: des Menschen, der keine Berührung mehr hat zur Welt. Eine atrophierte Menschheit?
Die Maschine steht still
Schon in den frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts malte der englische Schriftstelle Edward Morgan Forster dieses Szenario zu einer beklemmenden Science-Fiction-Dystopie aus: „Die Maschine steht still“ (1909). Die Erdoberfläche ist unbewohnbar geworden, die Menschheit lebt unterirdisch, isoliert in wabenartigen Zellen, wo alles per Knopfdruck abrufbar ist. Man bewegt sich kaum mehr, verkehrt miteinander über Knöpfe und Schalter, das Bedürfnis nach direktem Kontakt ist nahezu erloschen. Eine nicht näher definierte Megamaschine sorgt für das Funktionieren dieses buchstäblich höllischen Komforts. Sie wird verehrt wie ein Gott. Der Mensch ist zu einem Appendix der Maschine degeneriert.
Kuno, der Protagonist der Geschichte, rebelliert gegen diese Existenzweise, er möchte ausbrechen auf die Erdoberfläche, um zu sehen, ob ein maschinenunabhängiges Dasein möglich ist. Dort leben die letzten Unabhängigen, die sogenannten „Heimatlosen“, dem Tod Geweihten. Kuno gelingt die Flucht nicht. Zurück in der Unterwelt registriert er, wie die Maschine zu versagen beginnt, ohne dass die Menschen dies bemerken oder einzugestehen bereit sind. Ein zunehmend beschleunigtes Hinabgleiten in die apokalyptische Katastrophe. „Niemand wollte zugeben, dass die Maschine ausser Kontrolle geraten war. Jahr für Jahr wurde ihr mit zunehmender Effizienz und abnehmendem Verständnis gedient. Je besser ein Mensch seine eigenen Pflichten ihr gegenüber kannte, desto weniger verstand er die Pflichten seines Nachbarn, und auf der ganzen Welt gab es keinen einzigen Menschen, der das Monstrum als Ganzes verstand.“ Eine perfekte Allegorie des Internets?
Potenzphantasien um den roten Knopf
Wenn ich von der instantanen Wunscherfüllung per Knopfdruck sprach, dann sollte eine pikante Form nicht unerwähnt bleiben. Knopf und Macht pflegen ein intimes Verhältnis zueinander. Der Infantilismus, der daraus spriesst, nimmt oft unglaubliche Züge an. Hier ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte. 2018 twitterte Präsident Trump: „Der nordkoreanische Führer Kim Jong Un sagte gerade: ‚Der Nuklearknopf ist jederzeit auf meinem Schreibtisch’. Möchte ihn jemand in diesem verarmten und ausgehungerten Land darüber informieren, dass auch ich einen Nuklearknopf habe, einen weitaus grösseren und stärkeren, und er funktioniert erst noch.“
Schnell sickerte aus dem Weissen Haus ein Detail an die Öffentlichkeit: Der einzige Knopf auf Trumps Schreibtisch diene dazu, eine Cola zu bestellen. Der Nuklearknopf, einst Symbol eines potenten Drohmittels im Kalten Krieg, wird zur Requisite einer Schmierennummer, in der sich der Präsident des mächtigsten Landes der Welt mit kaum verdeckter erektiler Prahlerei verlustiert. Nun ja, vielleicht ist der Knopf auf Trumps Schreibtisch der Geopolitik dienlicher. Er zündet höchstens Lachbomben.