Diese Produkte animieren uns zu freudigem Konsum, aber im Hintergrund errichten sie perfekte unsichtbare Laborbedingungen, unter denen unser Verhalten immer besser voraussehbar wird.
Die Skinner-Box
In der Mitte des letzten Jahrhunderts erregte ein Psychologe in Harvard die Gemüter mit seinen Tauben-, Ratten- und Hundeexperimenten. Burrhus Frederic Skinner sperrte die Versuchstiere in einen transparenten Kasten – die sogenannte „Skinner-Box“ -, der von möglichst vielen störenden Umwelteinflüssen abgeschirmt war. Durch ein bestimmtes Verhalten konnten sich die Tiere eine Belohnung erwirken (Essen oder Trinken). Das Lernverhalten wurde minutiös dokumentiert und galt als empirisches Beweismaterial für Skinners Ansicht, dass sich mittels dieser „operanten Konditionierung“ im Grunde jedes Verhalten antrainieren liesse. Es war freilich nicht so sehr dieser kühne Anspruch, der Anstoss erregte, sondern das radikale Verständnis des Innenlebens von Tier und Mensch. Skinner suchte nämlich deren Verhalten zu erklären, ohne Bezug auf mentale Zustände. Zu sagen, dass der Hund winselt, weil er Schmerzen hat, ist keine Erklärung. Schmerzen haben und Winseln sind im Grunde dasselbe. „Der Mensch ist wesentlich mehr als ein Hund, aber ebenso wie der Hund ist auch er durch wissenschaftliche Analyse erfassbar.“ Das heisst, das Innenleben kann für den Behavioristen bleiben, wo es will.
Weight Watching
Skinners Ideen leben heute wieder auf, quasi inkognito. Schon in den 1970er Jahren sah sich seine Theorie bestätigt in einer von vielen Zeitgenossen heiss angestrebten Verhaltensänderung: Gewichtsabnahme. Weight-Watching arbeitet mit Methoden, die wie eine Skinner-Box funktionieren: Sie definieren für Teilnehmer eine Umwelt und Lebensweise, die streng kontrolliert wird, und auch verlässlich gute Resultate liefert, wenn diese Kontrollen über eine gewisse Zeit hinweg eingehalten werden. Nur stellt sich die eigentlich Herausforderung erst ausserhalb der „Box“, im realen Leben mit seinen kalorischen Verführungen. „Kick the habit or the habit kicks you“ - schnell fällt man in alte Gewohnheiten zurück, wenn ein individueller Coach und häufige, persönliche Gruppengespräche fehlen.
Gamification
Das beginnt sich im Internet der smarten Dinge, zu ändern. Web-basierte Programme, Apps, Tools, Social Media ersetzen persönliche Betreuung, Gruppensitzungen, die Mitteilung positiver Feedbacks. Eine ganze Armatur ambulanter Hilfsmittel ermöglicht uns heute, unser Verhalten rund um die Uhr zu beobachten, zu kontrollieren, zu datifizieren. „Self-Tracking“ nennt sich diese neue um sich greifende Technologie des Selbst. Ein in den USA populäres Helfer-App ist z.B. Lose It!. Der Nutzer wählt als Zielvorgabe ein gewünschtes Gewicht. Das Programm errechnet den entsprechenden täglichen Energiebedarf; es empfiehlt bestimmte Nahrungsmittel; der Nutzer tippt Anfangs- und Endzeit einer Aktivität ein (das App offeriert diverse Kategorien von Aktivitäten, z.B. Joggen, Gitarre spielen, sich im Haus bewegen, Sex). Lose It! analysiert und verwertet alle diese Daten und erstellt eine Graphik der täglichen oder wöchentlichen Fortschritte. Über die Social Media kann man seine „Erfolge“ auch andern mitteilen und sich so die unerlässliche „positive Verstärkung“ im Handumdrehen verschaffen. Entscheidend ist aber ein weiterer verstärkender Faktor. Im Englischen wird er „Gamification“ genannt: aus einer Aktivität oder Transaktion ein Spiel machen. Dass Gewichtsabnahme meist eine selbstauferlegte Fron bedeutet, ist notorisch. Hier helfen kleine „gamifizierende“ Anreize, welche diese Last in die Lust des Spiels verwandeln, wo man den sprichwörtlichen „Blumentopf“ gewinnen kann: Belohnung durch Punkte, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Aufstieg in einen höheren Rang, Spielgeld, ja, sogar echtes Geld.
Jenseits von Freiheit und Würde
Der Markt dieser „little helpers“ boomt. So dass sich die Frage stellt: Was ist eigentlich so skandalös an Skinners Theorie? Eine Antwort gibt der Titel seines wohl umstrittensten Buchs: „Jenseits von Freiheit und Würde“, vor genau vierzig Jahren publiziert. Skinner attackiert darin einen in der Psychologie gängigen Unterschied zwischen zwei Arten der Motivation: der intrinsischen und extrinsischen. Ich tue etwas, weil ich überzeugt bin, das Richtige zu tun; und ich tue etwas, weil mir dafür eine Belohnung angeboten wird. Skinner räumte mit der intrinischen Motivation radikal auf. In diesem Sinn muss man seine Worte über den „autonomen Menschen“ lesen: „Seine Abschaffung ist seit langem überfällig. Der ‚autonome Mensch’ ist ein Mittel, dessen wir uns bei der Erklärung jener Dinge bedienen, die wir nicht anders erklären können. Er ist ein Produkt unserer Unwissenheit. Wir können froh sein, wenn wir uns von diesem Menschen im Menschen befreit haben“. Wenn wir hier unter „autonom“ all das zusammenfassen, was sich einer völligen Analyse und Einflussnahme „von aussen“ entzieht, dann bedeutet dies nach Skinners Logik: Je mehr wir über uns wissen, desto weniger autonom sind wir; je weniger autonom, desto befreiter sind wir. Und die Wissenschafter sind unsere Befreier.
Motivation und Manipulation
In der Tat bewegen wir uns genau in Richtung dieser „Befreiung“. All die elektronischen Stupser, die wir von den immer smarteren Apps erhalten, um unser Verhalten zu ändern und zu verbessern, sind vom Zweck her gesehen im Grunde das digitale Raffinement der alten Skinner-Box. Wenn es keinen Unterschied mehr gibt zwischen „inneren“ und „äusseren“ Beweggründen, dann verwischt sich auch die Grenze zwischen Motivation und Manipulation auf subtile Weise. Und ihr arbeitet die Ludifizierung unseres Lebens zu. Vom Zähneputzen bis zum Kriegführen – machen wir einfach ein Spiel daraus! Die Hohepriesterin der Gamification, Jane McConigal, sieht im Spiel nichts weniger als ein Allheilmittel gegen Krebs, Klimaänderung, Krieg, Armut. Auch aus ihrer positiven Verstärkeranlage tönt das Echo Skinners: „Befriedigende Arbeit beginnt immer mit zwei Dingen: einem klarem Ziel und verfolgbaren nächsten Schritten in Richtung dieses Ziels. Ein klares Ziel motiviert uns zum Handeln: wir wissen, was wir zu tun haben. Und verfolgbare nächste Schritte versichern uns, dass wir uns auf das Ziel zu bewegen.“ Wie die Karotte vor der Nase des Esels, die ihn zu einem weiteren Schritt „motiviert“.
Schillers Spiel
Aber was soll man eigentlich dagegen einwenden, sein Verhalten zu beobachten und zu kontrollieren und „spielend“ zum Guten hin zu korrigieren? Erinnern wir uns an Schiller: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Für Schiller war das Spiel befreiend, weil er von so etwas wie einem Gegenteil des Spiels ausging: der Existenz unter den Zwängen der Arbeit, wo der Mensch nur „Bruchstück des Ganzen“ ist. Das Spiel erlaubte die Flucht aus der Monotonie des Alltags. Es vermittelte eine andere Perspektive auf die gewöhnliche Realität und dadurch setzte es kreative Kräfte frei, erzog es uns zu jenem „autonomen Menschen“, den Skinner verabschiedet sehen wollte.
Exploitationware
Gewiss, Online-Games können durchaus in diesem Sinne erziehen. Dennoch, die Ludifizierung des Alltags bringt ein heimliches Problem mit sich. Die Infrastruktur unserer Umwelt ist über all die smarte Technologie weitgehend geprägt von den Interessen der Softwaregiganten, die nur zu gern Einblicks- und Eingriffsmöglichkeiten in unser Verhalten haben möchten – immer zu unserem „Besten“, versteht sich. Unser Verhalten ist ihr Rohstoff. Und um an diesen Rohstoff zu gelangen, ködern sie uns am leichtesten mit „Spielen“.
Dazu müssen wir einiges über uns selbst preisgeben: Biografisches, Gewohnheiten, Interessen. Zeig mir, was du spielst, und ich sag dir, wer du bist! Wir nähern uns dadurch unweigerlich Skinners Menschenbild an: Das Selbst ist ein Verhaltensrepetoire, gemodelt von seiner Geschichte und seinen Folgen. Vor allem Online lässt sich dieses Repertoire vorzüglich exploitieren, d.h. die Geschichte lässt sich aufzeichnen und die Folgen immer besser voraussehen. Der Medientheoretiker Ian Bogost prägte den Ausdruck „Exploitationware“. Das „Spielerische“ ist das Heimtückische. Man bemerkt es nicht. Denn zum definierenden Merkmal der Skinner-Box gehört, nicht zu wissen, dass man in einer steckt. Man nennt sie nun einfach anders: eigenes Leben.