Vor fast auf den Tag genau 80 Jahren beschloss in einer Villa am Berliner Wannsee eine Handvoll Männer ganz bürokratisch die Modalitäten für den Mord an mehr als 6 Millionen Menschen. Es waren «ganz normale» Leute – Beamte und Offiziere. Der ZDF-Film «Die Wannseekonferenz» zeigt das in erschreckender Weise. Das Geschehen ist bis heute unfassbar.
Vor 44 Jahren – 1978 also – hatte der Film «Holocaust» weltweit (vor allem aber in Deutschland) für Aufsehen gesorgt, Diskussionen ausgelöst, zum Streit zwischen Historikern geführt, vor allem aber viele junge Menschen unangenehm bohrende Fragen an ihre Eltern und Grosseltern stellen lassen. Es ging um die Geschichte der fiktiven deutschen Familie Weiss; genauer: um deren Zerstörung und Vernichtung durch die Nazis. Der Hollywood-Streifen glänzte nicht durch historische Genauigkeit. Dennoch schlug er besonders hierzulande ein wie eine Bombe. Der Grund: Hier wurde erstmals mit dem Mittel medialer Kunst die ganze Grausam- und Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Rassenwahns für praktisch jedermann erkennbar.
Längst beschlossene Sache
Bis dahin überstieg zumeist die schon wegen der schieren Grösse anonymisierende Mord-Ziffer von 6 Millionen das intellektuelle Fassungsvermögen der Nachgeborenen. Aber nun schälte der Film aus dieser amorph-nüchternen Zahl nur wenige Personen heraus, eine normale Familie, und verfolgte deren Schicksal bis in die Gaskammern der Vernichtungslager. Dadurch wurden die verbrecherische Ideologie und die daraus resultierenden Untaten dieses Regimes wenigstens einigermassen nachvollziehbar auch für jene, die nicht mehr der Zeitzeugen-Generation angehörten.
Ob der unlängst ausgestrahlten ZDF-Produktion «Die Wannseekonferenz» ein ähnlich durchschlagender Aufklärungserfolg beschieden ist? Das unter der Regie von Matti Geschonnek entstandene Stück hatte die mit Abstand höchste Einschaltquote. Gross ist auch die Zustimmungsrate in den «sozialen» Medien wie zum Beispiel Facebook. Erstaunlich hoch geradezu für ein solches Thema in einem sich sprachlich immer häufiger hysterisch gebärdenden Deutschland. Wo sich schleichender Antisemitismus mittlerweile nicht selten sogar schon wieder zu unverhülltem Judenhass auswächst und dieser leider oft genug ungebremst von brüllenden Horden, in Springerstiefeln und mit NS-Emblemen «geschmückt», durch die Strassen von Städten getragen wird.
«Die Wannseekonferenz» ist sowohl handwerklich als auch künstlerisch und mit seinen historischen Bezügen aussergewöhnlich. Grundlage ist im Prinzip ein einziges Dokument. Ein 15 Seiten umfassendes Protokoll (das allein übrig gebliebene von ehemals 15) einer gerade einmal 90 Minuten dauernden Sitzung, auf der die Modalitäten der geplanten Ermordung sämtlicher (mit 11 Millionen bezifferten) europäischer Juden besprochen wurden. Wohlgemerkt: nur die Modalitäten! Denn die Liquidierung der Juden, Zigeuner, Homosexuellen und anderer «Volksschädlinge» war grundsätzlich schon längst beschlossene Sache. Die von Reinhard Heydrich, dem mächtigen SS-Obergruppenführer und damaligen Chef des Reichssicherheitshauptamtes, für den 20. Januar 1942 in eine ehemaligen Industriellen-Villa am Berliner Wannsee einberufene Besprechung «mit anschliessendem Frühstück» umfasste 15 hochrangige Ministerialbeamte aus den wichtigsten Reichsressorts und entsprechend wichtige Offiziere der SS, darunter zwei «erfahrene Experten» von Massenerschiessungen im Osten.
«Die Zahlen sind doch höher als gedacht»
Dass dieses eine Exemplar der vom damaligen Leiter des «Judenreferats», Adolf Eichmann, angelegten Besprechungsprotokolle im Archiv des Auswärtigen Amtes aufbewahrt wurde, ist Zufall und in vielfacher Weise Glück. Wäre auch dieses vernichtet worden, hätte die Nachwelt vermutlich nie von dem grausigen Treffen Kenntnis erhalten. So bildet es die wesentlichste Basis für die Kenntnis zumindest der grundsätzlichen Haltungen und Einstellungen sowohl der Teilnehmer als auch deren Dienststellen. Das verleiht den Filmdialogen zwar noch immer nicht das Prädikat historischer Genauigkeit, dürfte sie jedoch ziemlich weit an eine solche heranführen. Zumal Ausdrücke wie «einwaggonieren» (Verladen von Menschen in Güterwagen), «weggearbeitet» (Schwerstarbeit bis zum Tod) oder «sonderbehandelt» (Ermordung durch Erschiessung oder Vergasung) im verwaltungstechnischen Horrordeutsch jener Jahre gang und gäbe waren.
Die Reaktionen vieler Zuschauer belegen, dass die ZDF-Ausstrahlung ordentlich unter die Haut gegangen ist. Und zwar vermutlich deshalb, weil der Regisseur, alle Schauspieler und auch die Drehbuchautoren auf jegliche dramaturgischen Effekte und Überzeichnungen verzichteten. So fehlte nicht nur im Falle von Heydrich, sondern auch von Eichmann oder von Dr. Lange (dem «Schlächter von Riga») der Rückgriff auf die üblicherweise gern gebrauchten Stereotypen als hässliche, brüllende Nazis. Nein, hier traten hochgebildete (die meisten Konferenz-Teilnehmer besassen Doktor-Titel) Personen mit höflichen, grossbürgerlichen Umgangsformen auf, die sogar eigentlich unfassbare Informationen (vorgesehene Liquidierung von 11 Millionen Juden) allenfalls mit einem leichten Augenaufschlag zur Kenntnis nahmen: «Die Zahlen sind doch höher als gedacht.»
Es sind, und das zeichnet «Die Wannseekonferenz» so eindringlich nach, jene Menschen wie du und ich – Mitbürger also, wie sie die Publizistin, Politologin und Philosophin Hannah Arendt als Beobachterin des Eichmann-Prozesses in Jerusalem an der Person des Angeklagten so beschrieb: «Banalität des Bösen». Und genau das empfand der junge Berichterstatter, der anfangs der 1960er Jahre völlig unvorbereitet zu den Auschwitz-Prozessen nach Frankfurt geschickt wurde und dort zum ersten Mal im Leben überhaupt mit dem Begriff Auschwitz konfrontiert wurde. Da traten sie auf – alles ganz normale Bürger, mit intakten Familien, Ärzte, Anwälte, Bäcker, Metzger, Installateure und dem Ausspruch «Unschuldig im Sinne der Anklage». Selbstbewusst und selbstgerecht, denn «schliesslich sind wir es doch, die diesem Staat wieder aufbauen». Und wenn die Behauptung der eigenen Nichtbeteiligung wegen der Wucht der Zeugenaussagen wirklich überhaupt nicht mehr aufrechtzuerhalten war, dann gab es immer noch die Allerweltsbegründung: «Ich habe doch nur Befehle ausgeführt. Was hätte ich denn tun sollen?» Es war genau diese Banalität des Bösen.
Experten
Wer als junger Mensch in den Gründungsjahren dieser Republik mit dem Schwur «Nie wieder!» aufwuchs, der hat diese Einstellung freilich eher in den seltensten Fällen dem Schulunterricht zu verdanken. Bis weit in die 1950er Jahre hinein mussten Lehrer weit über ihr Pensionsalter beschäftigt werden, weil die Jahrgänge 1920–1925 die höchsten Zahlen an Gefallenen zu verzeichnen hatten. Die Vermittlung von Geschichte endete in der Regel mit Beginn des 1. Weltkriegs. Kaum einer der natürlich schon im Dritten Reich tätigen Pädagogen kam je auf diese Zeit zu sprechen. Und die «Gesellschaft»? Sie baute auf. Das war natürlich auch bitter nötig. Aber sie baute halt auch das Land, den Staat, das politische Leben und dass Rechtsgefüge wieder auf. Und dazu brauchte man «erfahrene» Experten.
Um es kurz zu machen. Es gab in Nachkriegs-Westdeutschland ganz besonders zwei Bereiche, bei denen der Begriff «Skandal» noch untertrieben ist: die Justiz und die Medizin. Der von Roland Freisler (auch dieser, damals noch als Staatssekretär des Reichsjustizministeriums, an der Wannseekonferenz beteiligt) geleitete, berüchtigte Volksgerichtshof fällte rund 2’600 Todesurteile. Freisler selbst kam im Februar 1945 bei einem Bombenangriff auf Berlin ums Leben. Keiner der die Urteile querzeichnenden Beisitzer wurde nach dem Krieg selbst auch nur angeklagt. Entweder es gelang ihnen unterzutauchen und zu fliehen, oder sie fanden später wieder Verwendung im neuen Staat. Kein Wunder, dass es dem späteren Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer unendlich schwer gemacht wurde, die braunen Täter in den schwarzen Talaren zur Rechenschaft zu ziehen.
Bleibendes Schamgefühl
Von wegen «Stunde Null» nach der Kapitulation am 8./9. Mai 1945. Jedes einzelne der Schlupflöcher für vieltausendfache Schreibtisch- und Direktmörder böte vermutlich Stoff für einen Krimi oder Spionage-Thriller. Da gab es die 1951 gegründete HIAG – die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Waffen-SS. Die alten Kameraden liessen einander nicht im Stich. Man half sich juristisch, wenn es sein musste auch finanziell, oder bei der Flucht nach Spanien bzw. Südamerika. Etwa über die «Rattenlinie Süd» – zumeist sogar mit Wissen der amerikanischen CIC, dem Counter Intelligence Corps, der US-Gegenspionage. Schliesslich war diese, mit Blick auf den sich schon anbahnenden Kalten Krieg, selbst hochgradig an deutschen Geheimnisträgern interessiert und bot entsprechend Unterschlupf. Nicht zu vergessen aber auch die «Stille Hilfe» des faschistischen kroatischen Franziskanermönchs Draganovic und des österreichischen Bischofs Alois Hudal, bei der auch der Vatikan seine Hände im Spiel hatte. Der Norden besass ebenfalls für die alten Kameraden eine «Rattenlinie». Über diese konnte sich sogar der gefürchtete Reichsführer SS und Vorgesetzte Heydrichs, Heinrich Himmler, im Mai 1945 kurzzeitig der Enttarnung entziehen.
Ist das alles also längst Geschichte? So wie das Ausstrahlungsdatum des Films an den 80. Jahrestag dieser fürchterlichen Besprechung erinnert und der 27. Januar an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 77 Jahren? Oder bildeten die nur bruchstückhaft aufgearbeiteten Geschehnisse der Nachkriegszeit am Ende vielleicht den Nährboden für die sich im Land ja mittlerweile unübersehbar breit machenden nationalistischen und antisemitischen Tendenzen mit ihren sogar bis in die Parlamente reichenden feindseligen Parolen? «Was passiert, wenn aus dem gesprochenen Wort Aktion wird?», fragte im Zusammenhang mit dem ZDF-Streifen «Der «Constantin»-Produzent Oliver Berben. Das ist keine «historische Frage». Schon gar nicht in Zeiten verbaler Radikalisierung wie den jetzigen.
Die Täter und Planer von damals sind, mit Ausnahme von vielleicht ganz wenigen, längst tot. Und die seinerzeit Geborenen müssen sich ebenso wenig schuldig fühlen wie – schon gar – die nachfolgenden Generationen. Aber kann jemand vor der Geschichte seines Landes und seines Volkes einfach davonlaufen? So, als ginge sie ihn überhaupt nichts an? Die Antwort ist: Nein. Nein, das geht nicht. Noch einmal: Niemand soll sich eine «Schuld» aufbürden lassen, nur weil er einer bestimmten Nation angehört. Aber eine Verantwortung bleibt. Auch ihr kann man nicht davonlaufen: Der Verpflichtung, nämlich, dazu beizutragen, dass sich so etwas nie mehr wiederholt. Wenn ein Schamgefühl bleibt, dann darf das ruhig so sein.