Am 21. Mai, eine Woche später als in der Türkei, finden in Griechenland Parlamentswahlen statt. Innenpolitisch ist die Bilanz der gegenwärtigen Regierung katastrophal, aussenpolitisch tut sich etwas. Es wird erwartet, dass keine Partei die absolute Mehrheit erobert und am ersten Juliwochenende ein weiterer Urnengang stattfindet.
Dem amtierenden neudemokratischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis ist es überraschend gelungen, den Volkszorn über das katastrophale Zugsunglück im Tempe-Tal und über das völlig unverantwortliche staatliche Management der Eisenbahninfrastruktur zu besänftigen. Gleichzeitig hat er es geschafft, die Oppositionsparteien gegeneinander aufzubringen und von seinem eigenen Versagen abzulenken.
Die radikale Linke (SYRIZA) des früheren Ministerpräsidenten Tsipras – zweitplatziert in den Umfragen – führt dabei den Reigen populistischer Versprechen an. Der dritte im Bunde ist die panhellenische sozialistische Bewegung (PASOK). Deren Chef Nikos Androulakis versucht bereits heute auf angeberische Art seinen zwei möglichen Koalitionspartnern Vorschriften zu machen. Der ehemalige Finanzminister Ioannis Varoufakis von der MeRa25 erinnert mit seinen Vorschlägen hingegen an die Zeiten des drohenden Staatsbankrotts und der Gefahr des Austritts aus der Eurozone. Damit spielt auch er Mitsotakis in die Hände.
Bei der politischen Rechten ist es unklar, welche Kleinpartei es ins Parlament schafft. Die bisher vertretene «Griechische Lösung»? Die Partei des rechtsextremen Elias Kassidiaris, der wegen Terrorismus eine Zuchthausstrafe absitzt, ist verboten worden, und zwar wohl nicht, weil die Partei die Demokratie ablehnt, sondern damit die Regierungspartei diese Stimmen «erbt». Damit keine Missverständnisse entstehen: Bei Kassidiaris und der Vorgängerpartei, der Goldenen Morgenröte, handelt es sich um richtige Nationalsozialisten, für die das Attribut «Faschist» eine Verharmlosung darstellt. Aber sie konnten jahrzehntelang unbehelligt politisieren und wurden ausgerechnet jetzt verboten.
Eine Mitte-Links-Koalition rückt damit in weite Ferne.
Katastrophale innenpolitische Bilanz
Die Regierungspartei versucht auch, mit Stabilität zu werben und sich so unentbehrlich zu machen. Es gelingt ihr dabei nicht schlecht, von der katastrophalen Bilanz der letzten vier Jahre abzulenken:
Die Coronapolitik war geprägt von extremen Einschränkungen, und Verletzungen von elementaren Grundrechten in einem Ausmass, das man sich in der Schweiz nicht vorstellen kann. Das Resultat ist ein Schlag ins Wasser: Eine Kombination von extrem hohen Todesfallzahlen und einem starken Wirtschaftseinbruch. Auch die Inflation ist in Griechenland nicht nur exogen bestimmt (durch lockere Geldpolitik und hohe Energiepreise), sondern auch hausgemacht, indem das abrupte Anziehen der Nachfrage nach Aufhebung der Corona-Massnahmen die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes brüsk beschleunigte. Auffällig ist sodann die Untätigkeit der Regierung angesichts einer Inflation von deutlich über 10% – diese spielt dem Finanzminister in die Hände und der Schuldenberg schmolz von ca. 220% der Wirtschaftsleistung auf 150%.
In absoluten Zahlen sieht es ganz anders aus: Der griechische Schuldenberg beträgt mittlerweile 400 Milliarden Euro und die jährliche Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandprodukt (BIP) 190 Milliarden Euro. 2009 betrugen die Schulden «nur» 298 Milliarden Euro und die Wirtschaftsleistung immerhin 220 Milliarden Euro – und Griechenland war einige Monate später pleite. Wirtschaftliche Sanierung sieht anders aus.
Innenpolitisch ist die Bilanz ebenfalls wenig schmeichelhaft: Eine Regierung, die nicht nur Oppositionspolitiker, sondern auch eigene Minister abhört, und ein Ranking bei der Pressefreiheit, das weit hinter jedem anderen EU-Land (namentlich auch Ungarn und Polen!) zurückbleibt. Die Griechinnen und Griechen sind zwar leidenschaftliche Debattierer und Befürworten der Demokratie im Sinne von Wahlfreiheit für Parteien, aber der Rechtsstaat im Sinne von Gewaltenteilung hat es in Hellas immer schwer gehabt. Tradition hat leider auch das euphemistisch ausgedrückt pragmatische Verhältnis von Politik und Sicherheitsorganen zu den Grundrechten, die auch heute und nicht nur während den (häufigen) diktatorischen Phasen einen schweren Stand haben.
Ob die Karriere des gegenwärtigen griechischen Ministerpräsidenten in der griechischen Politik jetzt oder erst in einigen Jahren zu Ende geht, ist noch nicht klar. Offensichtlich ist aber, dass der Internationalist Mitsotakis sich zu Höherem berufen fühlt und hofft, in Zukunft Nato-Generalsekretär, EU-Ratspräsident oder sogar Kommissionspräsident zu werden. Es ist aber nicht der immer offensichtlicher werdende Narzissmus von Mitsotakis, der diesen Ambitionen ein Ende bereiten dürfte, sondern wenn es mit rechten Dingen zugeht, hat spätestens der Abhörskandal das Ende seiner weiteren Ambitionen eingeläutet.
Griechenland-Türkei: Es tut sich etwas!
Aussenpolitisch ist die Bilanz der Regierung Mitsotakis zwar durchzogen, aber besser.
Während vor einigen Monaten ständige Provokationen und fast tägliche Luftraumverletzungen das Verhältnis zur Türkei prägten und man befürchten musste, dass es vor den Wahlen in der Türkei am 14. Mai zu einem heissen Zwischenfall oder gar zu einem Krieg kommen könnte, hat sich das Klima seither komplett geändert. Die Provokationen haben aufgehört und nach den Wahlen in beiden Ländern soll es zu internationalen Friedensbemühungen kommen. Dabei sind die USA und Deutschland federführend, die beiden betroffenen Regierung machen aber bisher mit.
Wie kam es zu dieser erfreulichen Veränderung?
Sicher hat erstens der Regierungswechsel in Deutschland eine Rolle gespielt. Während von Bismarck bis Merkel das Axiom «Turkey first» galt, ist die Ampelkoalition zu einer Äquidistanz übergegangen, die für Griechenland eine grosse Verbesserung darstellt.
Zweitens hat der Ukrainekrieg die Bedeutung nicht nur der Türkei, sondern auch Griechenlands rapide ansteigen lassen. Während die Türkei sich einer klassischen Schaukelpolitik bedient, hält die jetzige griechische Regierung das Land nicht nur fest im westlichen Lager, sondern der Verdacht liegt auf der Hand, dass sie die eigenen Interessen gar nicht vertritt – so zum Beispiel bei den Verhandlungen über neue Nato-Basen, die Griechenland aufgrund einer Fussnote im Nato-Vertrag nichts bringen, für die aber Mitsotakis nicht einmal eine Gegenleistung verlangt hat. Die Türkei hingegen verstärkt ganz offen die Zusammenarbeit mit Russland, zum Beispiel im Nuklearbereich, wo zum Beispiel kürzlich die erste Ladung Nuklearbrennstoff für das erste türkische Kernkraftwerk geliefert wurde.
Drittens: Was jahrzehntelang eine der Ursachen für Kriege und erbitterte Rivalitäten war, die Griechenland und die Türkei noch letztes Jahr an den Rand eines Krieges gebracht haben, nämlich Öl und Gas, könnte nun ironischerweise zu dem Rohstoff werden, der ehemalige Feinde zusammenführen könnte. In den letzten zehn Jahren wurden im östlichen Mittelmeerraum viele bedeutende Gasfunde gemacht. In Anbetracht der enormen Chancen und Herausforderungen war klar, dass das volle Potenzial im östlichen Mittelmeerraum nur dann ausgeschöpft werden kann, wenn Lieferanten, Käufer und Transitländer in der Region bei der Entwicklung einer Infrastruktur innerhalb der Region und mit externen Märkten zusammenarbeiten. Auf dieser Grundlage wurde 2018 das East Mediterranean Gas Forum (EMGF) als Plattform für Gaserzeuger-, -abnehmer- und -transitländer gegründet. Die derzeitigen Mitglieder des Gasforums für den östlichen Mittelmeerraum sind Ägypten, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Jordanien, die Palästinensische Autonomiebehörde und Griechenland. Und nun hat Griechenland verlauten lassen, dass es offen für eine türkische Mitgliedschaft sei.
Nach den Wahlen in beiden Ländern scheint es ein «window of opportunity» zu geben für einen neuen Versuch zur Lösung der Streitfragen.
Es waren dabei die Deutschen, die es im Dezember geschafft haben, Griechen und Türken nach einer monatelangen Funkstille wieder an einen Tisch zu bringen. Das bereitete der «Erdbebendiplomatie» den Boden. Unmittelbar nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in der Türkei reagierten die Griechen praktisch als Erste – sie halfen schnell und unbürokratisch. Fernsehbilder zeigten die beiden Aussenminister Seite an Seite im Erdbebengebiet.
In westlichen Aussenministerien wird hinter vorgehaltener Hand eingeräumt, dass in der Vergangenheit nicht genug getan wurde, um die griechisch-türkischen Probleme zu lösen. Nun scheint sich aber die Überzeugung Bahn zu brechen, dass Spannungen, oder sogar ein offener Krieg an der Nato-Südflanke nicht das sind, was die Welt jetzt braucht.
Das gute Klima, das Voraussetzung für die Lösungsfindung ist, scheint nun da zu sein. Fortsetzung folgt nach den Wahlen in beiden Ländern. Oder in den Worten des griechischstämmigen US-Botschafters in Athen, George Tzunis: «Wir werden nach den Wahlen einen sehr ernst gemeinten Versuch sehen, die Probleme zu lösen.»