Zur Überraschung der deutschen Bundesregierung stellt Polen erneut Reparationsforderungen. Diese Forderungen sind in der Vergangenheit wiederholt vorgebracht worden, aber jetzt werden sie mit einem dreibändigen Gutachten polnischer Experten unterfüttert.
Nach polnischen Berechnungen müssten zur Kompensation der Verbrechen und Schäden 1,3 Billionen Euro aufgewendet werden. Die Regierungspartei PiS steht voll hinter dieser Forderung, und vor Kurzem hat Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem ausführlichen Gastbeitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die polnische Sichtweise dargelegt und die Ansprüche auf finanzielle Leistungen bekräftigt.
Deutschland weist diese Forderungen mit dem Argument zurück, dass schon einmal Reparationen gezahlt worden seien und in Verträgen der vergangenen Jahre das Thema der Reparationen abschliessend geregelt worden sei.
Fragwürdiges Recht
Auch Griechenland hat in den vergangenen Jahren wiederholt Reparationen in beträchtlicher Höhe gefordert. Auch hier verwies Deutschland auf Verträge, in denen die Ansprüche schon längst abgegolten worden seien. Hin und wieder sind auch aus Italien Stimmen zu vernehmen, die alte Forderungen geltend machen. Auch hier verweist Deutschland auf seinen Standpunkt, dass das Thema schon längst vom Tisch sei.
Die deutsche Regierung, ihre Diplomaten und Juristen lehnen neue Verhandlungen auch deswegen ab, weil sie einen Dammbruch fürchten. Denn wenn an einer Stelle das Thema noch einmal aufgerollt würde, käme es zu einer Flut von Forderungen. Schliesslich haben die Deutschen nicht nur in Polen, Griechenland und Italien gewütet. Ihre Verbrechen auch in anderen Ländern, besonders auf dem Balkan, sind nicht vergessen, und was sie in der Ukraine angerichtet haben, ist ein ganz eigenes Kapitel, das womöglich noch schwärzer ist als manche anderen. Also wird alles dafür getan, jede Forderung kategorisch abzuweisen.
Formaljuristisch mag Deutschland mit seiner Haltung sogar im Recht sein. Aber es fällt auf, wie zahlreich die Stimmen aus ganz unterschiedlichen Ländern sind, die sich damit nicht abfinden wollen. Sind das alles Querulanten, die die Verträge nicht gelesen haben oder deren Sinn nicht begreifen? Oder handelt es sich einfach um eine Spielart des Populismus, die man am besten mit Schweigen übergeht?
Ausdruck der Hilflosigkeit
Die Tatsache, dass die FAZ dem polnischen Ministerpräsidenten jetzt ein Podium geboten hat, um seinen Standpunkt noch einmal darzulegen, zeigt, dass auch denjenigen, die publizistisch die offizielle Linie der Regierung vertreten, nicht ganz wohl ist. Und Morawiecki hat die Gelegenheit genutzt, um an die planmässige Vernichtung seines Volkes und seines Landes zu erinnern. Die Gerechtigkeit fordere, dass Deutschland nun endlich einen substantiellen Beitrag als Sühne leiste.
Man darf davon ausgehen, dass Morawiecki und andere, die so argumentieren wie er, wissen, wie schwierig es ist, im Abstand von mehr als 75 Jahren nach Kriegsende Gerechtigkeit in Form von Geldleistungen einzufordern. Es wären ja höchstens die Enkel der Opfer, die in den Genuss von den geforderten Zahlungen kämen. Aber auch hier sollte man es sich nicht zu einfach machen. Denn es könnte sein, dass Morawiecki und die vielen anderen, die wie er das Thema der Wiedergutmachung oder Reparationen erneut vorbringen, etwas im Sinn haben, das sich erst bei einer etwas sensibleren Betrachtungsweise erschliesst.
So kann man fragen, ob die Forderung nach Geld als Wiedergutmachung nicht auch der Ausdruck der Hilflosigkeit ist. Vielleicht sagt er «Geld», hat aber eine andere Währung im Sinn. Worin könnte sie bestehen? Morawiecki spricht von Gerechtigkeit. Sie soll die tiefe Verstörung heilen, die die in seinen Augen bis heute ungesühnten Verbrechen der Deutschen an seinem Volk hinterlassen haben.
Deutsche Selbstgefälligkeit
In seinem Gastbeitrag erwähnt Morawiecki auch die Tatsache, dass im Nachkriegsdeutschland allzu viele der namentlich bekannten Verbrecher schnell wieder in ein behagliches Leben gefunden haben oder sogar beachtliche Karrieren machten. Wenn es nur um Geld zur Wiedergutmachung ginge, wäre dieser Hinweis überflüssig. Denn wenn Deutschland zahlen würde, könnten ihm die Lebenswege einstiger Verbrecher in Deutschland egal sein. Aber dieser Bezug zeigt, dass es Morawiecki eben nicht nur um Geld geht. Er wirft den Deutschen vor, dass sie mitsamt ihren straflos ausgegangenen Verbrechern ihr Leben so eingerichtet haben, als wäre nichts geschehen. Er interessiert sich also nicht nur für Geld, sondern auch für das, was in den Deutschen vorgeht.
Könnte es ähnlich bei den Griechen und Italienern sein? Dass die ehemaligen Opfervölker von einem merkwürdigen Gefühl beschlichen werden, wenn sie die Deutschen in ihrer Selbstgefälligkeit beobachten? Die grosse Ausnahme bilden die Juden und der Staat Israel. Der Staat Israel soll sogar, wie gerne gesagt wird, die «Raison d’Être» der Bundesrepublik sein, was immer das genau heissen soll. Offenbar ist hier ein Beziehungsproblem in Ansätzen erkannt und wohl auch einigermassen gelöst worden. Umso grösser ist die Lücke, die zwischen Deutschen, Polen, Griechen und Italienern klafft.
Modell der Beziehungskonten
Der Familientherapeut Helm Stierlin hat den Begriff «Beziehungskonten» geprägt. Damit zielte er auf ein Problem, das sich in jeder Paarbeziehung stellt: Jeder Partner erlebt in der Beziehung Gewinne und Verluste. Bewusst oder unbewusst schreiben sie oder er dem Partner Eigenschaften oder Vorfälle in der Beziehung gut oder versehen diese mit einem Negativzeichen. Für eine Partnerschaft ist es wichtig, so Stierlin, dass diese Konten ausgeglichen sind. Objektiv aber lassen sich die Gewinne und Verluste nicht bewerten. So kann es durchaus sein, dass ein Partner aufgrund einer Beeinträchtigung sehr viel Zuwendung braucht, diese Herausforderung subjektiv vom anderen aber nicht als Verlust verbucht wird.
Diese Sichtweise auf Beziehungskonten kann den Blick für das schärfen, was in den Beziehungen zwischen Deutschland und jenen Ländern, die wieder und wieder das Thema von Wiedergutmachung oder Reparationen vorbringen, defizitär ist. Jenseits der offiziellen Bilder gelungener Staatsbesuche und neu vereinbarter Kooperationen auf europäischer Ebene stimmt etwas nicht. Man posiert für Kameras und Fotografen, zelebriert grösste persönliche Harmonie, aber im Hintergrund liegen die Defizite auf dem Beziehungskonto.
Gefühl des Ungenügens
Es fehlt schon an elementaren Gesten. So hat es Deutschland jahrzehntelang versäumt, in Griechenland und Italien Gesten der Reue für verübte Massaker zu zeigen. Und man kann fragen, ob Griechenland gegenüber im Hinblick auf die von Deutschen planvoll ausgelöste Hungersnot und die beträchtliche Zwangsanleihe wirklich alles gesagt und getan worden ist, was ein redlich denkender Mensch für angemessen halten würde. Wenn bis heute wiederholt Reparationsforderungen erhoben werden, so gebietet schon der Anstand, diese nicht als populistischen Zeitvertreib von Politikern abzutun, die man zumindest in diesem Punkt nicht ganz ernst nimmt. Man hat nie den Eindruck, dass deutsche Politiker im Blick auf die Vergangenheit eine klaffende Wunde der Scham und der Ratlosigkeit spüren und von einem tief sitzenden Gefühl des Ungenügens geplagt würden.
Dass es würdige Gesten gibt, hat Willy Brandt mit seinem Kniefall in Warschau 1970 erwiesen. Eine solche Geste lässt sich nicht wiederholen, wohl aber sollte die aufrichtige Gesinnung, aus der sie hervorgegangen ist, eine Richtschnur sein. Zeigen deutsche Politiker in Bezug auf die Vergangenheit und bei den Problemen der Gegenwart jene Demut, die in Anbetracht des Geschehenen auch heute noch angemessen wäre?