Kein Unternehmen, keine Verwaltung kommt ohne Chef aus, doch an ihm kristallisiert sich der Unmut. Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, aber die Reibereien zwischen dem Chef und seinen Untergebenen scheinen ein universelles Phänomen zu sein.
Miese Typen steigen auf
Geradezu reflexartig greift man zu quasi-psychologischen Deutungen und sucht die Gründe in den Charakteren der Beteiligten. Entsprechend scheint es ein ehernes Gesetz zu geben, nach dem die miesen Typen zu Chefs aufsteigen und die Guten unten bleiben und von ihm getriezt werden.
Nun ist ein Text aus dem Nachlass des Soziologen Niklas Luhmann aufgetaucht, den der Journalist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, aufbereitet und veröffentlicht hat. Dieser Text handelt vom Chef, aber er ist zugleich eine kurze und vorzügliche Einführung in die Soziologie. Denn der Blick des Soziologen ist anders als der eines Mitarbeiters oder eines Psychologen. Der Soziologe betrachtet die Strukturen oder „Systeme“, wie Luhmann sagen würde, in denen sich die alltäglichen Dramen abspielen.
Störende Gefühle
Niklas Luhmann ist darin äusserst konsequent. Der Einzelne, der Mensch, das Subjekt, oder wie immer man das „Ich“ eines jeden bezeichnen will, kommt bei ihm nur insoweit vor, als er Teil eines Systems oder – wie im Falle des Chefs und seiner Mitarbeiter – Teil einer Organisation ist. Ganz anders als sein grosser Widerpart Jürgen Habermas, der immer vom – potentiell rationalen – Subjekt ausging, kennt Luhmann keine Subjekte mehr, die sich als Persönlichkeiten oder Handelnde fein säuberlich von ihren Organisationen oder Systemen abheben liessen.
Sie sind mit ihnen verknüpft und von ihnen geprägt, aber es bleibt ein schwer kalkulierbarer Eigensinn. Mit seinem typischen ironischen Unterton formuliert Luhmann: „Kein Mensch kann handeln, ohne selbst dabei zu sein.“ Das Problem besteht nun darin, dass die Systeme die Menschen nur nach ihren Funktionen wahrnehmen, alles „Persönliche“ dagegen als Störfaktor erscheint: „Seine Gefühle und seine Selbstdarstellungsinteressen werden dabei kaum beansprucht. Sie lungern während der Arbeit funktionslos herum und stiften Schaden, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten werden.“
Unterwachung
Diese Erkenntnis ist im Prinzip nicht neu. Frühere Theoretiker haben daraus den Schluss gezogen, dass der Mensch nur richtig motiviert werden müsse sei, damit er so funktioniert, wie es das System braucht. Das aber setzt voraus, dass die Motivation immer stark genug ist, um alle anderen Bestrebungen im Zaum zu halten. Das hat sich als Illusion erwiesen.
Und nun der Chef. Definitionsgemäss übt er eine leitende Funktion aus, was seine Untergebenen, zumal bei einem neuen Chef, mit Unruhe erfüllt. Denn er kann in liebgewordene Abläufe und Gewohnheiten eingreifen, kann Mitarbeiter befördern oder aber kaltstellen. Gegen diese Macht des Chefs schliessen sich Teile der Mitarbeiter zusammen. Sie bilden in der Organisation eine „informelle Organisation“, die nur sie kennen. Hier herrschen spezielle Loyalitäten. Hier wird entschieden, welche Informationen der Chef bekommt und welche nicht. Luhmann hat dafür den Begriff „Unterwachung“ geprägt.
Aber es wäre ganz falsch, sich die informellen Organisationen wie Guerillaorganisationen vorzustellen, die wie geschlossene Einheiten gegen die oberen Entscheidungsträger anrennen. Das Spiel ist wesentlich komplizierter. Denn auch die Mitglieder der informellen Organisationen möchten Karriere machen – und vielleicht selbst einmal Chef werden. Entsprechend müssen sie darauf achten, innerhalb der offiziellen Organisation voranzukommen. Und da ist es nun einmal so, dass die Karriere wichtiger ist als die Leistung und dass derjenige, der das nicht begreift, irgendwann weder in der offiziellen noch in der inoffiziellen Organisation auf einen grünen Zweig kommt.
Eigene Erfahrung
Und wie steht es mit der Macht des Chefs? Er kann zwar über Karrieren entscheiden, aber er ist wiederum aufgrund seiner chronischen Überlastung nahezu bei jeder Entscheidung auf die Zuarbeit der Untergebenen angewiesen. Nur sie können gewährleisten, dass sich die Entscheidungen mit den Interessen und Gesetzmässigkeiten der Organisation decken. Denn das Wichtigste für jede Organisation ist die Organisation. Sie muss sich erhalten und fortsetzen. Wehe dem Chef, der dabei versagt.
Bevor Niklas Luhmann zum international berühmten Soziologen wurde, hat er als Jurist in einer Behörde gearbeitet. Er weiss also aus eigener Anschauung, wovon er spricht. Überraschend ist nun, dass die Texte, die Jürgen Kaube aus dem Nachlass ausgegraben hat, bereits um 1965 herum entstanden sind. Schon damals also hatte Luhmann seine Systemtheorie in ihren Grundzügen vor Augen. Und wie nebenbei erkennt man, was die Soziologie leisten kann, wenn sie sich selbst als anspruchsvolle Theorie versteht.
Niklas Luhmann, Der neue Chef. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Kaube, Suhrkamp Verlag Berlin 2016