Die ärmeren EU-Länder, deren Volkseinkommen von den Löhnen ihrer Gastarbeiter gespiesen wird, werden uns das nicht durchgehen lassen. Aber noch wichtiger: Wir sollten mit der EU zusammen gegen die Übervölkerung ganz Europas kämpfen.
Wer das Wort zuerst gebraucht hat, werden wir nie wissen: Die EU behandle die Freizügigkeit als eine ihrer vier „Grundfreiheiten“, heisst es in der Schweiz empört. Was, die EU erlaubt sich, unantastbare Grundfreiheiten zu dekretieren? Die Reaktion ist verständlich, selbst Laien, und die Juristen sowieso, denken bei diesem Wort automatisch an „Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Damit haben die vier Freiheiten der EU nichts zu tun.
Keine „Grundfreiheiten“
Sie sind wirtschaftliche, für das Funktionieren eines Binnenmarkts unerlässliche Rechte: freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Sie sind die Basis des Grundpakts aller Mitgliedländer, den die sechs Gründer der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft EWG 1958 für den Aufbau ihres gemeinsamen Marktes ausgehandelt haben. Alle später der EG und EU beigetretenen Länder haben sie diskussionslos übernommen. 56 Jahre lang sind sie nie in Frage gestellt worden.
Jetzt drängt in England und Frankreich das Volk, die Freizügigkeit einzuschränken oder abzuschaffen. Die Schweiz muss sie in spätestens drei Jahren einschränken, das steht jetzt in der Bundesverfassung. Unserer Wirtschaft droht deswegen der Ausstoss aus dem Binnenmarkt.
Der Grundpakt
Die Freizügigkeit ist nicht aus einer Laune heraus in die Grundpflichten der EU hineingekommen. Ihr Grundpakt umfasst die elementaren Interessen jedes Mitgliedands für seine Konkurrenzfähigkeit im grossen Markt. Sie müssen rechtlich so stark verankert sein wie alle anderen Freiheiten.
Diese Interessen sind aber von Land zu Land sehr gegensätzlich, und es ist ein Wunder, dass sechs Länder bei der Gründung der EWG 1958 den Kompromiss fanden. Jedes musste Abstriche an Grundüberzeugungen machen, sonst wäre sie nicht entstanden. Deutschland, damals noch Westdeutschland, bekam die Zollunion für Industrieprodukte: Sie schenkte seinen Unternehmen den zollfreien Warenexport über alle Landesgrenzen hinweg. Frankreich mit seiner starken Landwirtschaft forderte und bekam als Gegenleistung den gemeinsamen Agrarmarkt, staatswirtschaftlich gelenkt und protektionistisch. Den deutschen Liberalen ein Greuel aber aus höherem Interesse akzeptiert: Er garantiert den EG-Bauern hohe, aus dem EG-Budget (vor allem von Deutschland) subventionierte Mindestpreise für ihre wichtigen Produkte. Diese Agrarpolitik diente auch den Holländern, und beiden Ländern samt den Belgiern (Kongo) wurde durch eine Assoziation mit ihren über 50 Kolonien auch noch eine massive, ebenfalls aus dem Brüsseler Budget finanzierte Entwicklungshilfe geschenkt. Die Belgier profitierten von allem ein bisschen, und Luxemburg liess der freie Kapitalverkehr zu einem internationalen Finanzplatz auswachsen.
Aber Italien?
Erst um Mailand und Turin gab es Anfänge einer konkurrenzfähigen Industrie, Mittel- und Süditalien waren noch unterentwickelt: Ärmliche Dörfer, verwahrloste Städte, lokale Subsistenzwirtschaft, Austausch höchstens mit dem nächsten Dorf, viele Männer ohne oder mit prekärer und schlechtbezahlter Arbeit, kein Unternehmergeist, unterirdische Herrschaft der Mafia und Korruption landesweit, sogar in Mailand... Doch Italien hatte eine konkurrenzfähige Ressource: seine Gastarbeiter! Sie schwärmten in die anderen EWG-Länder aus, schickten ihre Löhne zurück an ihre Familien und damit ins Nationalprodukt. Diese Stärke musste Italien in der EWG ebenso fest garantiert sehen wie die anderen drei Freiheiten. Wäre die Freizügigkeit nicht in den Grundpakt aufgenommen worden, hätte Italien nicht beitreten können. Die EWG wäre ein Klub der nördlichen Hälfte Europas geblieben und nicht die den ganzen Kontinent umfassende Zusammenarbeitsgemeinschaft geworden. Dazu brauchte es von Geburt an einen Kern aus mittel- und südeuropäischen Ländern. Dem heute eine Nord-Süd-Spaltung droht! Durch den Euro!
Italiens Konkurrenzkraft ist nach fünfzig Jahren nicht mehr von den Gastarbeitern abhängig – aber es hat in der EU viele Nachfolger, die es sind: Spanien, Portugal und vor allem die zehn osteuropäischen Neuzuzüger. Auch sie wären der EU ohne gleichwertige Freizügigkeit nicht beigetreten.
Der Sozialtourismus
Die EG hat der Freizügigkeit von Anfang an Schranken gesetzt. Schon das Wort „Personenverkehr“ ist falsch: Der freie Verkehr der Personen ist erst im Abkommen von Schengen geschaffen worden. Die Freizügigkeit gilt nur für Arbeitskräfte, und nicht unbeschränkt: Jeder EU-Bürger darf in jedem andern EU-Land Arbeit suchen. Hat er nach drei Monaten noch keine, muss er in seine Heimat zurück.
Allerdings, die Entwerfer der EWG dachten nicht an alle Folgen. Idealistisch gaben sie dem Gastarbeiter das Recht auf Verbleib im Gastland mitsamt dem Anspruch auf seine sämtlichen Sozialhilfen. Das reizte viele Schlaue zum Auswandern, um nach kurzer Arbeit im anderen EU-Land zu bleiben und Arbeitslosengeld usw. zu beziehen, das viel höher war als zuhause. Dieser „Sozialtourismus“ stösst den Bürgern sauer auf, zu recht, und trägt viel zum heutigen Missmut gegen die EU bei. Die Brüsseler Verantwortlichen schiessen allerdings hart zurück, ebenfalls zu recht: Mitgliedländer, ihr kontrolliert das nur lausig! Würden wir kontrollieren, würdet ihr das als eine weitere Einmischung aus Brüssel denunzieren!
Guillotine?
Die Schweiz bekam die Unantastbarkeit der vierten Freiheit zu spüren, als wir die bilateralen Abkommen aushandelten. Die kurz zuvor der EG beigetretenen Spanier und Portugiesen drohten, gegen die fünf Abkommen, die unseren Unternehmen den Zugang zum Binnenmarkt verschaffen sollten, ihr Veto einzulegen, wenn die Schweiz nicht auch die Freizügigkeit übernehme. Wir übernahmen sie trotz starkem Widerwillen im Volk, wie auch im siebenten Abkommen ein Kontingent von EU-40-Tönnern über den Gotthard.
Viele der Auswanderungsländer werden, wenn die Schweiz wie von der Initiative verlangt die EU-Gastarbeiter kontingentiert, die „Guillotineklausel“ anrufen. Sie steht rechtsverbindlich in jedem jener ersten bilateralen Abkommen und besagt: Wenn auch nur eines von ihnen verletzt wird, muss die EU alle sieben kündigen. Die Freizügigkeit ist für viele Osteuropäer wie damals für Italien die einzige grössere europaweite Einnahmenquelle. Sie werden der Schweiz nicht gestatten, sich aus ihr abzumelden. Tun wir es doch, dann werden sie das Schreckszenario unserer Unternehmen durchsetzen: die EU entzieht ihnen die Privilegien des Binnenmarkts. Sie müssten wieder in jedem EU-Land für jeden Export den nationalen Zugangstest bestehen. 28 Tests statt einen einzigen!
Auch EU-Länder im Visier
Die Osteuropäer werden es aber auch ihren EU-Partnern nicht zulassen, die vierte Freiheit einzuschränken, wie es in Frankreich und England eine wachsende Volksstimmung verlangt. Dass die Einwanderung aus dem Osten höher sei als der Durchschnitt wird von den Statistiken widerlegt, aber übertrieben und populistisch ausgeschlachtet. Vor allem, leicht rassistisch denn „von dort kommen die Zigeuner“, gegen Rumänien und Bulgarien, welche 2014 sieben Jahre nach ihrem EU-Beitritt die volle Freizügigkeit bekommen haben. Frankreich hat noch kurz vorher viele Roma ausgeschafft. Und die englischen Sensationsblätter schürten eine eigentliche Angsthysterie vor einer Überschwemmung: Dutzende von Journalisten warteten am 1.Januar auf das erste Flugzeug aus Rumänien. Es stieg ein Rumäne aus und sah 50 Kameras auf sich gerichtet.
Nationalgefühl und Bevölkerungsdichte
Einen anderen, hochkomplexen Zusammenhang haben die EG-Politiker bis heute nicht sehen wollen: zwischen Freizügigkeit, Einwanderung, Ausländern, Nationalgefühl und Bevölkerungsdichte. Die Freizügigkeit kann sowohl zu überstarkem Ausländeranteil wie Bevölkerungsdichte in einem Land führen. Heute kommen Asylsucher hinzu, dennoch richtet sich der Unmut oft gegen die EU, obwohl die EU-Ausländer fast überall nur einstellige Prozentzahlen ausmachen oder leicht über 10 Prozent. Die Schweiz hat aber 23 Prozent und das EU-Land Luxemburg 43! Das führt zu begreiflicher Angst um die nationale Identität. Die Schweiz und die EU-Länder sollten darum die Freizügigkeit einschränken dürfen, wenn sie eine krass überdurchschnittliche Einwanderung auslöst.
Die EU hat diese Beschränkung schon einmal gewährt, ein einziges Mal! Nicht einem EU- sondern einem EWR-Land: unserem Nachbarn Liechtenstein! Wegen seines kleinen Territoriums. Wären wir dem EWR beigetreten, dann hätten wir es leichter, diese Sonderbehandlung mit dem Hinweis, die EU habe sie schon einem anderen EWR-Mitglied eingeräumt. ebenfalls zu bekommen.
Unser Fussabdruck!
Viel wichtiger noch als unser und Luxemburgs Ausländerproblem ist aber die Übervölkerung ganz Europas. Die hat mit der Freizügigkeit nichts zu tun: Wenn Arbeitskräfte von einem Land zum anderen ziehen, verändert sie sich um keine einzige Person. Unser ökologischer Fussabdruck, der Verbrauch an Ressourcen pro Kopf gemessen an den Reserven der Erde ist der grösste der Welt. Er liegt für ihr Überleben viel zu hoch und reizt alle ärmeren Länder, so schnell wie möglich auf unser Niveau zu kommen. Jede Beschränkung der Ausländerzahl muss darum einhergehen mit einem langfristigen Programm zur Bevölkerungsbeschränkung auch der Einheimischen. Das will die 2015 zur Abstimmung kommende Volksinitiative der EcoPop, der „Arbeitsgemeinschaft Umwelt und Bevölkerung“, aber zwecks Stimmenfang mit viel zu viel Gewicht auf der Bremse der Einwanderung und zu wenig auf dem einheimischen Bevölkerungswachstum.
Koalition mit Luxemburg!
In den kommenden, nach der SVP-Initiative nötigen Gesprächen mit der EU sollten wir nicht mit unserem Ausländer-Überschuss sondern mit der Gesamt-Übervölkerung Europas anfangen. Unsere klügsten Unterhändler sollten dafür werben, dass der Kampf gegen sie eine gesamteuropäische Aufgabe ist und sich die Schweiz gemeinsam mit der EU dafür einsetzen will. In diesem grösseren Rahmen könnte die EU zu sehen anfangen, dass Bevölkerungspolitik beide Themen umfasst: Überfremdung und Fussabdruck. Das EU-Land Luxemburg würde uns dabei sicher unterstützen. Wir könnten, wir sollten mit Luxemburg eine Koalition suchen, welche für diese beiden Anliegen kämpft!