Reden über Kunst – wie kann das aussehen? Das können Artist Lectures sein, angeregte Podiumsdiskussionen oder auch kunsthistorisch unterfütterte Führungen zu ausgewählten Werken im Museum oder im öffentlichen Raum. Ein ganz besonderes Format der Kunstvermittlung hat der Kunstsammler, Künstler und Hotelbesitzer Ruedi Bechtler für das Hotel Castell in Zuoz entwickelt. Das abwechslungsreiche Programm wurde von Ruedi Bechtler und Judith Welter vom Kunsthaus Glarus moderiert.
Einmaliges Format im deutschsprachigen Raum
Seit rund 20 Jahren finden im Engadin einmal im Jahr die sogenannten Art Weekends statt. In lockerer Runde und in direkter Begegnung mit den eingeladenen Künstlern und Kuratoren werden hier vertiefende Gespräche über Kunst, Kunstproduktion und Kunstinterpretation geführt. Aufgelockert wird das im deutschsprachigen Raum sicherlich einmalige Format durch Film- und Videovorführungen, Erläuterungen direkt vor den Werken aus der Sammlung Bechtler sowie durch gemeinsame Mahlzeiten, bei denen die Teilnehmer untereinander, aber auch mit den Gastgebern und Künstlern auf nonchalante Art und Weise ins Gespräch kommen.
In diesem Jahr waren rund 40 Interessierte nach Zuoz gereist, um an dem Art Weekend mit dem Titel „Mysteries And The Ordinary" teilzunehmen. Die beiden eingeladenen Künstler konnten unterschiedlicher kaum sein. Ausführlich präsentiert wurden die psychologisch aufgeladenen, narrativen Werke der 1976 in Kalifornien geborenen Performance-, Video- und Installationskünstlerin Shana Moulton. Ausserdem gab es sehr anschauliche Einblicke in die wesentlich stärker am Material und seinen veränderbaren Eigenschaften orientierte Arbeitsweise des 1978 geborenen Schweizers Raphael Hefti. Von beiden Künstlern befinden sich Werke in der Sammlung Bechtler. Vorgestellt wurden die Arbeiten von der Kunsthistorikerin und Kuratorin Judith Welter, die seit 2015 Direktorin des Kunsthaus Glarus ist. Mit ihrem Vortrag über Gerüchte in der Kunstwelt lieferte Judith Welter dann am Sonntag spannende Einblicke in geheimnisumwobene Aspekte des Kunstbetriebs.
Variantenreich, humorvoll, selbstironisch
Um das Werk Shana Moultons zu verstehen, sollte man sich ihre Herkunft vergegenwärtigen. Die Künstlerin wuchs in einem von ihren Eltern betriebenen Mobile Home Park mit dem schönen Namen „Whispering Pines“ am Rande des Yosemite Nationalparks auf. Hippie-Kultur, New Age Rituale, alternative Lebensmodelle, magische Symbole, feministisch unterfütterte Spiritualität als Ware – all dies bildet die Folie für Shana Moultons hintergründige Erzählungen. In ihren episodischen Videofilmen, Performances, Skulpturen und Installationen wird dieses Themenspektrum ebenso variantenreich wie humorvoll und bekenntnishaft-selbstironisch durchgespielt.
Die Teilnehmer des Art Weekends konnten sich bereits am ersten Abend im Kino des Hotels davon überzeugen. Dort zeigte Shana Moulton ihren 35-minütigen Videofilm „Whispering Pines 10“. Im Mittelpunkt ihrer seit 2002 entstehenden Videoreihe steht immer dieselbe, leicht wiedererkennbare Protagonistin. Es handelt sich um Shana Moultons Alter Ego „Cynthia“, über das die Teilnehmer im Laufe des Art Weekends noch einiges erfahren sollten. Cynthia ist eine Hypochonderin. Ihr Charakter ist inspiriert von einigen weiblichen Verwandten, aber auch von eigenen, im realen Leben eher verdrängten Persönlichkeitsmerkmalen Shana Moultons. Cynthia lebt in einem kitschig, aber liebevoll dekorierten Haus. Wir erleben, wie sie aufwacht, sich erhebt, vor dem Fernseher Yogaübungen macht oder mit dem Staubwedel ihre zahlreichen Deko-Objekte säubert. Wären da nicht die irritierenden Momente, die der Erzählung teils extrem überästhetisierte, teils surreale Komponenten verleihen.
Insbesondere in den Vereinigten Staaten virulente Themen wie Körperoptimierung, die Erfindung neuer Krankheitsbilder durch die Pharmaindustrie, die Sehnsucht ganzer Generationen nach Therapie und Pseudo-Religion greift Shana Moulton auf und verpackt sie in nicht nur visuell-eingängige, sondern auch immer wieder verblüffende Videoerzählungen, die sie auch in der Zukunft weiter fortschreiben will. Cynthias Welt und ihre Geschichten werden immer dunkler, ernster und kritischer, wie die Künstlerin erklärt, auch angesichts der weltweit angespannten politischen Situation.
Judith Welter zeigte Shana Moulton bereits 2016 mit einer Einzelausstellung im Kunsthaus Glarus. Ruedi Bechtler hingegen entdeckte sie in ihrer Zürcher Galerie Gregor Staiger, wo er sich sofort von ihrem Werk begeistern liess. Direkt nach ihrer Teilnahme am Art Weekend flog die kalifornische Künstlerin nach London, wo zur Zeit ihre Solo Show in der Zabludowicz Collection läuft.
Der moderne Homo Faber
Kontrastprogramm: Kaum waren die Teilnehmer des Art Weekends aus der dezidiert weiblich konnotierten, mysteriösen Welt der Shana Moulton entlassen, wurden sie mit wesentlich Handfesterem konfrontiert. Raphael Hefti lieferte eine sehr anschauliche Einführung in sein Werk. Er hatte grosse Ausdrucke mitgebracht, liess Plastiksäckchen mit kleinen Glaskügelchen und einen mehrere Kilo schweren Stahlzylinder durch die Reihen gehen und führte zum Erstaunen der Teilnehmer vor, wie mit Edelgas und Quecksilber gefüllte Glaskugeln in einem haushaltsüblichen Mikrowellenofen magisch leuchteten. Ruedi Bechtler bezeichnet Raphael Hefti als einen „Alchimisten“, man könnte den ursprünglich als Fotografen ausgebildeten Künstler auch als einen modernen Homo Faber etikettieren, der gerne mit Pyrotechnik, aber auch mit flüssigem Stahl und anderen industriellen Rohstoffen experimentiert und so hochästhetische Kunstwerke schafft, die den Betrachter verblüffen und faszinieren.
Raphael Hefti – das lernten die Teilnehmer des Art Weekends sehr schnell – arbeitet gern mit kleinen „Fehlern“ und Manipulationen. Indem er festgelegte, industrielle Produktionsverfahren zunächst analysiert, sie anschliessend bewusst verändert und an ihre Grenzen treibt, kitzelt er aus den verwendeten Materialien neue, überraschende Eigenschaften hervor. So entstand etwa eine ganze Serie von Glasarbeiten mit UV-Schutzglas, wie es bei der Rahmung von Kunstwerken verwendet wird. Dieses sogenannte Museumsglas wird normalerweise einmal mit Metall bedampft. Indem Raphael Hefti aber bis zu 30 oder 35 Schichten aufbringt, entstehen ganz neue Farbigkeiten.
Eine begehbare Bodenarbeit entstand im Jahr 2018 als Resultat einer Performance mit dem Titel „We are not one way trip to mars people“ in der Kunsthalle Basel in enger Zusammenarbeit mit professionellen Strassenmarkierern. Diese durften plötzlich die Farben miteinander mixen, die sie sonst immer fein säuberlich getrennt voneinander auf den Asphalt aufbringen müssen.
Raphael Hefti erzählt, ihm mache es Spass, aus der Tradition des Handwerks neue Ideen zu entwickeln. Er kooperiert daher sehr gerne mit Handwerkern, was seiner künstlerischen Praxis auch eine soziale Komponente verleiht. „Sie haben eine Erfahrung, ich habe eine Vision. Daraus entsteht dann etwas ganz Neues.“ Um eine Nostalgie des Handwerks gehe es ihm allerdings nicht.
Einen kunsthistorischen Exkurs der besonderen Art steuerte dann noch einmal Judith Welter bei. In ihrem mit zahlreichen Filmausschnitten gespickten Vortrag „Gerüchte als schillernde Erzählungen über Kunst“ untersuchte sie die Frage „Welche Rolle spielen solche Narrative zwischen Erfindung und Wahrheit oder auch zwischen dem Mysteriösen und dem Gewöhnlichen?“
Nach so viel Stoff blieb Ruedi Bechtler, der bei seinen kurzweiligen Moderationen gerne auch mal einen Kunstbetriebs-Witz erzählt, nur noch die Gelegenheit, auf das nächste Art Weekend im kommenden Jahr hinzuweisen. Eingeladen sind für den Herbst 2020 der schweizerisch-französische Künstler Julian Charrière und die Norwegerin Ida Ekblad, zwei international angesagte Cutting Edge-Künstler also, die für viel Gesprächsstoff sorgen dürften.
Ausstellungshinweis: Shana Moulton, 12. 9. bis 15.12. 2019 in der Zabludowicz Collection, London
www.hotelcastell.ch
www.shanamoulton.info
www.raphaelhefti.com
www.kunsthausglarus.ch