Auf der Römer Piazza del Popolo sitzt eine schöne Frau in einem Boulevard-Café. Sie geniesst die Frühlingssonne. „Stellen sie sich vor“, wird sie gefragt, „da fahren zwei schöne junge Männer vor, einer mit einem Lamborghini, der andere mit einer Vespa. Mit wem würden sie davonziehen?
Die schöne Frau nippt an ihrem Campari und lächelt. „Mit dem Vespa-Mann, ihn könnte ich von hinten umarmen“.
Das funktioniert seit langem. In dem 1953 gedrehten Film „Vacanze Romane“ schlingt die göttliche Audrey Hepburn ihre Arme um den smarten Vespa-Fahrer Gregory Peck. Der Film verhilft der damals siebenjährigen Vespa zum weltweiten Durchbruch.
In über 150 Filmen tritt die Vespa auf. In Fellinis „La Dolce vita“ jagen Paparazzi auf Dutzenden von Wespen der üppigen Anita Ekberg nach. Auch John Wayne fährt Vespa, ebneso Vittorio Gassmann und Nicole Kidman in "The Interpreter". Und während der Dreharbeiten zu Ben Hur kurvt Charlton Heston mit einer Vespa durch die Kulissen.
Ein Wespenschwarm
20 Millionen Stück sind bisher produziert worden. Die Vespa steht heute im MoMA, dem Museum of Modern Art in New York und im Design Museum in London. Sie gehört auch zur permanenten Sammlung des Triennale Design Museums in Mailand.
Und jetzt wird gefeiert: An diesem Wochenende, zwischen dem 21. und 23. April, zieht ein eigentlicher Wespenschwarm in das toskanische Städtchen Pontedera bei Pisa. Zehntausende Vespa-Verehrer und Sammler aus ganz Italien und dem Ausland werden dort erwartet. Ihr Gefährt, längst zum Kultobjekt erkoren, feiert Geburtstag, den siebzigsten.
Kampfflugzeuge und Bomber
Alles beginnt in Pontedera – und es beginnt mit einem Mann, der motorisierte Zweiräder hasst. Corradino D’Ascanio, ein Ingenieur aus den Abbruzzen, konstruiert in den Dreissigerjahren in den Piaggio-Flugzeugwerken von Pontedera Flugzeuge. So baut er für die Mussolini-Armee einmotorige Kampfflugzeuge und viermotorige Bomber. Er entwirft auch den ersten italienischen Helikopter: Den D’AT3 (Bild), ein seltsames Gefährt – doch es fliegt und fliegt.
Dann kommt der Krieg, und die Fabrikhallen in Pontedera werden bombardiert. Um den alliierten Angriffen auszuweichen, verlegt Enrico Piaggio, der Direktor und Besitzer der Flugzeugwerke, die Produktion ins piemontesische Städtchen Biella westlich von Mailand. Auch Corradino D’Ascanio zieht nach Biella – und mit ihm ein weiterer Ingenieur, der in die Geschichte eingehen wird: Renzo Spolti.
„Paperino“ – die Ente
Dieser Dottore Spolti erhält mitten im Krieg den Auftrag, einen Motorroller zu entwickeln: möglichst simpel, billig, ein „Volks-Roller“. Enrico Piaggio, der den Auftrag vergibt, ahnt offenbar, dass der Krieg verlorengeht und dass man mit Kampfflugzeugen kein Geld mehr verdienen kann.
1944 präsentiert Dottore Spolti einen Prototyp, etwas plump, aber neuartig. Er nennt den Zweiräder „Paperino“ („Donald Duck“ auf italienisch). Der Name ist eine spielerische Herausforderung an „Topolino“ („Mickey Maus“ auf italienisch). Die Topolino-Maus, der erste Fiat 500, wird seit 1936 in Turin produziert.
Italien liegt am Boden
Doch das Entchen „MP5 Paperino“ (MP steht für Moto Piaggio 5), schafft es nicht, eine stolze Ente zu werden. Das Projekt wird auf die lange Bank geschoben.
Dann geht der Krieg zu Ende. Ingenieur D’Ascanio hätte so gerne wieder Helikopter und Flugzeuge gebaut, doch Italien hat den Krieg verloren und liegt am Boden. So kommt Enrico Piaggio auf die Idee, seinen genialen Ingenieur mit einer seltsamen Aufgabe zu betrauen. Er soll die Ente Paperino weiterentwickeln.
„Der ideale Mann für etwas Neues“
„Ich weiss, dass er Motorräder hasst“, sagt Enrico Piaggio, „doch gerade deshalb ist er der ideale Mann, um etwas völlig Neues zu konstruieren“.
Corradino D’Ascanio macht sich an die Arbeit. Am 23. April 1946, vor 70 Jahren, meldet Piaggio in Florenz das Patent für den neuartigen Scooter an. Der Motor sitzt direkt auf dem hinteren Rad und treibt die Räder ohne Kette an. Alles ist mit Blech umhüllt, damit man sich nicht schmutzig macht. Die Spitzengeschwindigkeit beträgt 60 Kilometer die Stunde. Der Roller verfügt über einen 98 Kubikzentimeter-Zweitaktmotor mit drei Gängen und bewältigt Steigungen von bis zu 20 Prozent. Die Strassen waren schlecht in der Nachkriegszeit, deshalb wird ein Ersatzrad gleich mitgeliefert. Doch das Genialste ist: man muss sich nicht mit einem Bein auf ein Motorrad schwingen, sondern kann, sozusagen, ebenerdig einsteigen.
Von der Ente zur Wespe
Wie soll das Gefährt heissen? „Paperino“ klingt allzu sehr nach Micky Maus. Woher aber kriegt die Vespa ihren Namen? Es gibt zwei Erklärungen.
Als man Enrico Piaggio das erste Modell vorführt, soll er ausgerufen haben „Sembra una vespa“ (Das scheint wie eine Wespe zu sein). Er meint das Geräusch des Motors.
Doch es gibt eine andere Erklärung. Ziel war es ja, ein möglichst erschwingliches Fortbewegungsmittel zu schaffen: ein ökonomisches Produkt für alle. „Vespa“ könnte die Kurzform sein für „Veicoli Economici Società Per Azioni“ (Ökonomische Fahrzeuge Spa). Spa ist der italienische Ausdruck für Aktiengesellschaft. Die Firma Piaggio war eine der ersten AGs in Italien.
Auf den Fliessbändern von Lancia
Die ersten Vespe werden mühsam Stück für Stück zusammengebaut. Sie kosten 55'000 Lire und werden vom Publikum mit wenig Enthusiasmus empfangen. Wegen des tiefen Schwerpunkts fürchten viele, beim Fahren umzukippen. Der Absatz der ersten 50 Exemplare verläuft schleppend.
Jetzt sucht Enrico Piaggio eine mechanisierte Produktionsstätte und wird beim Turiner Autobauer „Lancia“ fündig. Von nun an werden die Vespe auf den Lancia-Fliessbändern produziert. 1946 sind es schon 2'500 Exemplare. Davon werden 2'181 verkauft. Ein Jahr später verfünffachen sich die Verkäufe.
Kinder und Schafe und Ziegen
Nun entwickelt sich die Vespa zu einer der grössten italienischen Erfolgsgeschichten. Die Vespa offeriert nicht nur Platz für zwei Personen; oft sitzen auf den Knien von Vater und Mutter auch Kinder. Auch Schafe und Ziegen werden transportiert. Der einzige Rivale der Vespa ist die Lambretta von Innocenti, die ein Jahr später geboren wurde.
Sowohl die Vespa als auch die Lambretta bringen den kriegsgeplagten Italienern etwas Freiheit. Nur wenige können sich einen Fiat Topolino leisten. So fährt man denn nach dem Krieg mit dem Roller ans Meer oder zur Arbeit.
Die Vespa gehört zu Rom wie das Kolosseum
Heute ist die Vespa keineswegs das Fortbewegungsmittel der armen Leute. Immer mehr Italienerinnen und Italiener steigen vom Auto auf den Scooter um. Auch Reiche und Superreiche.
Die engen Gassen Roms sind hoffnungslos verstopft. Autofahren ist eine Plage. Den Rollern gelingt es, an den stehenden Kolonnen vorbeizuschwirren. Vespa und Lambretta gehören zu Rom wie das Pantheon oder das Kolosseum.
Nach dem Tod von Enrico Piaggio geht die Firma zu den Agnellis in Turin über, aus familiären Gründen. Doch die Agnellis verlieren die Lust an Piaggio. Heute gehört die Firma der Holding IMMSI S.p.a. von Roberto Colannino, die an der Mailänder Börse kotiert ist. Zu Piaggio gehören auch die Motorroller Aprilia, Moto Guzzi sowie der 1947 geborene dreirädrige Alltagstransporter „Ape“. Auch sie, die klapprige „Biene“, ist längst ein italienisches Kultfahrzeug.
„Con Vespa si può“
Gefeiert wird nicht nur an diesem Wochenende. Vom norditalienischen Biella aus, wo der Paperino zur Welt kam, starten am 24. Juni Tausende Vespa-Liebhaber Richtung Popoli bei Pescara. Dort, 800 Kilometer von Biella entfernt, wurde Corradino D’Ascanio geboren. Und im September findet ein 7'000 Kilometer langer „Giro d’Italia in Vespa“ statt.
Die Vespa wurde zwar technisch aufgerüstet, doch sie sieht noch ähnlich aus wie vor 70 Jahren. „Sie ist wie das ‚Kleine Schwarze’ von Chanel“, sagt der italienische Soziologe Giorgio Triani, „eine ästhetische Revolution, die die Zeit überdauert und noch heute funktioniert“. Das Motto ist seit siebzig Jahren das gleiche: „Con Vespa si può“ (Mit der Vespa kann man).
Lange Zeit war Italien geteilt in „Vespisti“ (Anhänger der Vespa) und „Lambrettisti“ (Anhänger der Lambretta). 1971 stellte Lambretta (nach dem Mailänder Fluss „Lambro“ genannt) die Produktion ein; vor drei Jahren wurde sie neugeboren. Doch noch immer steht sie im Schatten der grossen Wespe. Einer allerdings mag die Vespa nicht. Dustin Hoffman sagt: „I am a Lambretta man“.
Als die Vespa anfangs der Fünfzigerjahre ihren Siegeszug antritt, schreibt die Londoner Times, das Vehikel sei die innovativste italienische Idee seit der Erfindung des zweirädrigen Pferde-Rennwagens, der im antiken Rom durch den Circus Maximus flitze.