Die Meinungsumfragen sind deutlich: Trump liegt klar zurück, auch in vielen entscheidenden Swing States (so z. B. in Wisconsin, Pennsylvania und Michigan). Das Institut „FiveThirtyEight“ des renommierten Nate Silver gibt Biden auf nationaler Ebene einen Vorsprung von 8,4 Prozent (Stand: Mittwoch, 26. August). RealClearPolitics, das Institut, das Durchschnittswerte vieler Umfragen wertet, sieht Biden mit einem Plus von 7,1 Prozent vor Trump.
Für viele ist deshalb klar: Trump wird die Wahl verlieren. Befürchtet wird, dass er dann von Manipulation sprechen wird, die Niederlage nicht anerkennt und den Sieg „stehlen“ könnte.
Und wenn er – ohne Betrug – gewinnen würde?
Vor vier Jahren lagen fast alle Institute mit ihren Prognosen weit daneben. Nate Silver prognostizierte kurz vor der Wahl: Die Chancen von Trump, am meisten Wahlmänner/Frauen-Stimmen zu erhalten, lägen bei 15,2 Prozent. Liegen die Institute auch diesmal daneben? Ganz ausgeschlossen ist das nicht.
Vieles ist anders als vor vier Jahren. Hillary Clinton war für viele ein Schreckgespenst. Ihr Vorsprung auf Trump war kleiner als der jetzige Vorsprung von Biden auf Trump. Und Biden ist kein Schreckgespenst.
Und dennoch:
Die Umfrageinstitute wissen: Viele Menschen belügen die Meinungsforscher. Nicht nur in Amerika.
Viele schämen sich, der netten Meinungsforscherin am Telefon zu sagen, dass sie eben doch gegen Ausländer und Schwarze sind. Man will sich ja modern, offen und verständnisvoll geben. In der Wahlkabine allerdings, wenn niemand zuschaut, oder in der Briefwahl, bekunden sie dann plötzlich ihre wahre Gesinnung. Dort kann man versteckte Ressentiments ausleben.
Berühmt ist der „Bradley-Effekt“. Tom Bradley, der schwarze Bürgermeister von Los Angeles, führte bei den Gouverneurswahlen in Kalifornien 1982 in allen Umfragen klar. Gewählt wurde er nicht. Viele Weisse wollten sich in den Befragungen nicht dem Vorwurf aussetzen, rassistisch zu sein. Heute wird darüber gestritten, wie weit der Bradley-Effekt heute noch gilt.
In der Schweiz hatten sich 2009 bei der Anti-Minarett-Initiative in einer Umfrage 53 Prozent dagegen ausgesprochen. In der Abstimmung sagten dann 59 Prozent Ja. In vielen Ländern schneiden die rechtspopulistischen Parteien bei Wahlen weit oft besser ab, als es die Rohdaten der Umfragen voraussagen.
Je emotionaler ein Thema ist, desto schwieriger ist eine Prognose. Bei der Meinungsforschung geht es eben nicht nur darum, die Rohdaten zusammenzuzählen. Wenn bei Umfragen 70 von 100 dafür sind, heisst das noch lange nicht, dass dann 70 von 100 dafür stimmen werden. Wenn 65 von 100 sagen, sie würden für den Kandidaten X stimmen, bedeutet das noch lange nicht, dass der Kandidat X 65 Prozent der Stimmen erhält.
Gerade bei emotionalen, aufwühlenden Themen sind die Erfahrungswerte der Forscher wichtig. Aus früheren, ähnlichen Abstimmungen, können die Demoskopen „in etwa ahnen“, wie gross der Anteil jener ist, die nicht die Wahrheit sagen. Doch jedes emotionale Thema ist anders, deshalb sind Voraussagen oft auch schwierig oder eben falsch. Deshalb auch wird das „In-etwa-Ahnen“ zum Problem.
Auch Trump ist ein hochemotionales Thema, das die Gemüter erhitzt. Viele, die ihn bewundern, wollen das nicht offen zugeben. Man spricht von den „hidden Trump voters“, den versteckten Trump-Wählern.
Der Mann gilt als flegelhaft, sprunghaft, teils rassistisch und frauenfeindlich, uninformiert, naiv, herrschsüchtig, cholerisch, er ist ein Selbstverherrlicher, der laut Washington Post 20’000 Mal gelogen hat – da will man doch den Meinungsforschern nicht offen sagen, dass man einen solchen Un-Menschen wählen wird. Und im Geheimen bewundert man ihn – und wählt ihn.
Bei Umfragen, in denen man anonym nur auf eine Taste auf dem Computer oder dem Handy drücken muss, sprechen sich mehr Wählerinnen und Wähler für Trump aus als in Telefonbefragungen der „netten Meinungsforscherinnen“.
Das (kritisierte) Institut Trafalgar Group hat eine spezielle, fast schon originelle Befragungsmethode. Es fragt nicht, wie die Befragten wählen werden, sondern es fragt, wie die Befragten glauben, dass ihre Nachbarn wählen werden. Damit können die Befragten ihre Sympathien für Trump auf die Nachbarn abschieben. Der Präsident schneidet in solchen Umfragen oft viel besser ab als in den „normalen“ Umfragen. Allerdings lag auch die Trafalgar Group oft weit daneben.
Das sehr konservative und eher Trump-freundliche Institut Rasmussen, das als einziges vor vier Jahren einen Sieg Trumps nicht ausschloss, gibt Biden jetzt einen winzigen Vorsprung von nur noch einem Prozent.
Das viertägige Feuerwerk, das an der republikanischen Convention gezündet wurde, hat sich erwartungsgemäss leicht auf die Umfragen ausgewirkt. Bei Nate Silvers „FiveThirtyEight“ ging Bidens Vorsprung von 9,3 Prozent auf 8,4 Prozent zurück. Das liegt wohl vor allem am erstaunlich sachlichen Auftritt von Melania Trump. Doch solche kleine Ausschläge nach oben sind nach dem Trommelfeuer der Parteitage normal und verpuffen oft schnell.
Der Präsident gibt sich siegesgewiss. „Wir haben“, sagt er in seiner bewährten Bescheidenheit, „die grösste je gesehene schweigende Mehrheit hinter uns.“ Wird seine Strategie, Ressentiments gegen „die Elite“ zu schüren, erneut verfangen?
Immerhin sehen die Wettbüros (sie sind vielleicht ebenso wichtig wie Meinungsumfragen) einen klaren Sieg von Biden voraus. Und dass der Präsident in der Virus-Bekämpfung auf grauenvolle Weise versagt hat, hilft ihm sicher nicht.
Vor vier Jahren war der Anteil der „hidden Trump voters“ sehr gross. Wie gross ist der Anteil heute? Niemand weiss es. Am 4. November werden wir es wissen.