Im Untertitel verwendet Friedrich Wilhelm Graf den Begriff „Supermarkt“: „Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird.“ Um welche Art von Markt handelt es sich hier genau? Geht es um Spendengelder oder andere Finanzierungsquellen? Der Markt, den Graf beschreibt, liegt noch dahinter: Es ist der Markt von Überzeugungen und letzten Wahrheiten.
Die Logik des Marktes
Diese Perspektive ist zumindest aus europäischer Sicht sehr ungewöhnlich. Wie kann das, was den Menschen im Innersten bewegt, Gegenstand eines Handels sein? Schliesslich treten Religionen immer mit dem Anspruch auf, letzte Wahrheiten zu verkünden, unabhängig davon, ob diese gerade nachgefragt werden oder nicht. Aber die Pointe der Sichtweise von Graf besteht darin, dass es auch einen Markt für Glaubensüberzeugungen, Sinnangebote und Heilsversprechen gibt.
Werden Religionen als Teilnehmer auf einem solchen Markt beschrieben, eröffnet sich eine Perspektive, die den Vertretern der Religionen selbst durchaus verborgen sein kann. Theologen der katholischen Kirche zum Beispiel ringen um „Reformen“ in der Überzeugung, dass diese Reformen vom Evangelium her gefordert sind. Aus der Perspektive des Marktes ergibt sich eine andere Logik: Diese Reformen sind nötig, um das „Angebot“ der katholischen Kirche zeitgemäss auf dem Markt religiöser Angebote platzieren zu können.
Schmale Nischen
Die kostbarsten Güter auf dem Markt der Religionen sind Sinn, Zuversicht und Vertrauen. Marktführer sind die, die diese Produkte am besten zu präsentieren verstehen. Und neben den Marktführern gibt es zahllose Nischenanbieter. Sie versprechen alternative Heilungsmethoden, Leben im Einklang mit der Ökologie, Kontakt zu höheren Welten oder eine tiefere Erfahrung des Ich. Auch wenn diese Nischen jeweils schmal sein mögen, ergibt sich aufgrund der Vielfalt der Anbieter eine Marktmacht, die den etablierten Grossanbietern Probleme bereitet.
Graf betrachtet Religionen also nicht mehr primär unter konfessionellem oder institutionellem Blickwinkel. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Anbietern, die sich zum Teil den etablierten Religionen nur sehr schwer zuordnen lassen. Wie will man bestimmte esoterische, spirituelle, pfingstlerische oder dschihadistische Gruppen zweifelsfrei den grossen Kirchen oder Gemeinden der Weltreligionen zuordnen?
Zynismus?
Ist es zynisch, religiöse Institutionen bis hin zu kleinen und kleinsten Gruppen als Marktteilnehmer zu betrachten, die jeweils ganz bestimmte Strategien verfolgen? Friedrich Wilhelm Graf bezeichnet sich selbst als „liberalen protestantischen Theologen“. Nicht wenige seiner Fachkollegen dürften ihn scheel ansehen. Zerstört seine Betrachtungsweise nicht genau das, was ihnen heilig ist?
Aber die Perspektive des Marktes, die übrigens in den USA weitaus selbstverständlicher ist als in Europa, enthält eine Voraussetzung, die auch etablierten Theologen sehr gut gefallen müsste: Der Mensch hat eben Bedürfnisse, die ihn nach religiösen Sinnangeboten greifen lassen. Daher ist es nicht gelungen, das rationale Weltbild der modernen Wissenschaften an die Stelle längst überwunden geglaubter religiöser Vorstellungen zu setzen.
Intelligent Design
Eines der spannendsten Kapitel handelt von der Auseinandersetzung des religiösen Schöpfungsglaubens mit der modernen Evolutionstheorie. Es geht dabei um die Frage, ob die wissenschaftliche Sicht der Entstehung der Welt und des Lebens vom Urknall bis zur Evolutionstheorie gelten soll oder religiöse Schöpfungsmythen. Dieses Problem ist deswegen so brisant, weil sich damit aus religiöser Perspektive das Grundverständnis des Lebens verbindet.
Denn wenn die Welt und die Menschen in naturwissenschaftlich beschreibbaren natürlichen Prozessen entstanden sind, hat Gott als Schöpfer seinen Platz eingebüsst. Schlimmer noch: Auch der Mensch verliert, denn er steht nun nicht mehr in unmittelbarer Beziehung zu Gott, der ihn lenkt und richtet, sondern ist nur noch ein Teil der Natur. Damit, so würden Fundamentalisten folgern, unterliegt er ganz der menschlichen „Verfügbarkeit“. Es geht also um alles oder nichts.
Namentlich in den USA hat es mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie von Charles Darwin christliche religiöse Gegenbewegungen gegeben, die darauf beharrten, dass ohne ein Eingreifen Gottes die Entstehung der Welt mitsamt ihrer Evolution nicht hätte stattfinden können. Es geht also gar nicht immer darum, die Evolutionstheorie in Bausch und Bogen zu verdammen, sondern man möchte sie insoweit relativieren, als es dafür ein „intelligent design“ Gottes gebraucht habe.
Koran und Evolution
Dieser Streit hat allerdings in den USA auch dazu geführt, dass Gerichte angerufen wurden, um zu entscheiden, ob die Evolutionstheorie an den Schulen überhaupt unterrichtet werden darf bzw. ob daneben nicht auch die biblische Schöpfungslehre in den Biologieunterricht gehöre. Komplementär zu diesen fundamentalistischen Bestrebungen gibt es, wie Graf betont, auch auf Seiten der Naturwissenschaften recht grobe Keile. So hat der Evolutionstheoretiker Richard Dawkins in neuerer Zeit lautstark den Atheismus als logische Folge der Naturwissenschaften propagiert.
Graf zeigt nun, dass diese Debatte nicht nur das amerikanische Christentum berührt hat und bis heute berührt, sondern durchaus auch ein Pendant im Islam gefunden hat. Schon im vorletzten Jahrhundert haben prominente Theologen den Versuch unternommen, die Evolutionstheorie insofern mit dem Koran zu versöhnen, als diese eine göttliche Schöpfung voraussetze.
„Bricolage“
Am bedrückendsten ist aber die Tatsache, dass speziell unter dem Einfluss von Joseph Kardinal Ratzinger die Theorie des „intelligent design“ Eingang in die Katholische Theologie gefunden hat. Eine unrühmliche Rolle spielt dabei Deutschland mit dem katholischen Philosophen Robert Spaemann und einigen seiner Schüler.
In einem sehr knappen Diskurs erklärt Friedrich Wilhelm Graf, wie er als Theologe an der Rede von der Schöpfung festhält, ohne der Evolutionstheorie eine These wie die vom "intelligent design" entgegenzuhalten. Überhaupt ist eine Bemerkung gerade für Laien von höchstem Interesse: Alle biblischen und dogmatischen Begriffe seien vieldeutig und offen für ganz unterschiedliche Interpretationen.
Am Ende dieses aufschlussreichen Buches, in dem auch Themen wie „Muslime in Europa“, „Heilige Kriege“ und überhaupt der heutige „Konfessionsteppich“ behandelt werden, steht ein tiefes Erschrecken. Denn neben dem modernen, aufgeklärten Umgang mit religiösen Angeboten, aus denen die Menschen je nach Ihrem Bedarf die Elemente auswählen, die ihnen gefallen - Graf spricht von „Bricolage“ - gibt es ein Wiedererstarken des Fundamentalismus mit allen negativen Konsequenzen.
Harte Glaubensweisen
Und auch das liegt in der Logik des Marktes. Graf beschreibt sie so: „Auf den globalen Religionsmärkten der Gegenwart waren in den letzten dreissig Jahren die Anbieter ganz harter, durch Unbedingtheit und Unduldsamkeit geprägter neuer Glaubensweisen viel erfolgreicher als demokratieorientierte liberalreligiöse Akteure.“
Das Buch endet mit der nüchternen Einsicht: „Nichts spricht derzeit dafür, dass sich die Religionskonflikte der Gegenwart bald abschwächen werden oder pazifizieren lassen. Gerade in den Teilen der Welt, in denen viel Armut das Leben zahlreicher Menschen prägt, wird Gottesglaube der wichtigste Identitätsgarant der Marginalisierten bleiben. Sie werden sich im Elend ihres Alltagslebens an ihren Gott oder ihre Götter klammern, andere Götter bekämpfen und schon aus purer Überlebensnot ganz harte religiöse Praktiken pflegen.“
Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, Verlag C. H. Beck, 286 Seiten, München 2014