Wir Europäer stehen oft ratlos vor der Frage: Warum gibt es Hunderte unserer Mitbürger und Tausende aus muslimischen Staaten wie Tunesien, Saudi-Arabien und aus vielen anderen islamischen Ländern, die nach Syrien reisen, um sich dort dem "Kalifat" anzuschliessen? Sind es einfach "Fanatiker", oder gar pseudo-religiöse Sektierer? Wenn ja, bleibt die Frage, was macht sie zu Fanatikern?
Und umgekehrt: Warum wachsen viele Menschen unter vergleichbaren Bedingungen in Europa und in den arabischen Ländern auf, ohne fanatisch zu werden?
Muslimische Einwandererfamilien
Es ist immer eine persönliche Geschichte, die bestimmte Menschen dazu bringt, den Weg nach Syrien oder in den Irak einzuschlagen. Doch es gibt "typische" Merkmale. Das heisst, sie treffen nicht immer zu, aber oft. Es sind fast immer mehrere Beweggründe, die zusammenkommen und wirken.
Es gibt aber auch immer wieder "untypische" Motive. Ein Beispiel für typisch und untypisch ist etwa: Die meisten, die ins "Kalifat" aufbrechen, stammen aus muslimischen Einwandererfamilien, selten in der ersten, eher in der zweiten und dritten Generation. Untypisch hingegen ist, wenn jemand aus einer nicht eingewanderten Familie stammt und die radikale Ideologie des „Islamischen Staats“ übernimmt und ins „Kalifat“ auswandert. Hier stellt sich die Frage, warum tun sie dies.
Jene, die "nicht dazugehören"
Die "typischen" Fälle aus den westlichen Ländern sind solche von Muslimen, die in Europa aufwuchsen, aber nicht voll integriert sind und nicht voll dazu gehören. Es sind Personen, die - im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen - aus einer Vielzahl von Gründen nicht in der Lage waren, die Schwierigkeit des nicht Voll-dazu-zu-Gehörens, zu überwinden. So öffnete sich für sie der Weg zum „Kalifat“.
Das nicht voll Dazu-Gehören kann zahlreiche Gründe haben, die meist kombiniert wirken. Zum Beispiel: Erfahrungen von "Rassismus", die von aussen her gesehen möglicherweise episodenhaft und unbedeutend erscheinen, aber dennoch schwere persönliche Folgen haben können. Verbunden damit: berechtigte aber auch eingebildete Wahrnehmungen von Diskriminierung gegenüber Muslimen in der "Gast"-Gesellschaft. Der oder die Betroffene sieht sich dann selbst als "Aussenseiter“. Was zu Identitätsfragen führen kann: Wer bin ich, ein Muslim oder eine Person des „Westens"?
Identitätskrise
Die Identität wird natürlich stark von der Familie bestimmt. Wenn diese zusammenbricht oder für die Betroffenen "unglaubwürdig" wird, verschärft das die Identitätskrise. Man findet, sowohl objektiv vorhandene wie auch mehr subjektiv empfundene Beispiele dafür, dass die "Gast"-Kultur und ihre Menschen sich als selbstzufrieden und selbstüberzeugt wahrnehmen und darstellen, ohne ihre eigenen Fehler
und Untaten erkennen zu wollen. Sind sie moralisch bankrott?
Die Leute der "Gastgesellschaft" werden als blind empfunden – blind, ihre eigenen Fehler und Untaten einzusehen, aber als empfindlich, scharfsichtig und empört, wenn es um vermeintliche oder auch echte Untaten geht, die sie "den Muslimen" oder gar "dem Islam " zuschreiben.
0,1 Prozent
Derartige Wahrnehmungen werden verstärkt und verschärft durch die materielle Lage. Man vergleicht sich mit den "Kollegen" der "Gastgesellschaft“. Ihnen geht es besser in "ihrer westlichen" Gesellschaft: ausbildungsmässig, beim Versuch, eine lohnende Arbeit zu finden, einen Platz in "ihrer" Gesellschaft. Von der man sich dann sagt oder einredet, dass sie nicht die "eigene" sei, weil man ja nicht voll dazu zu gehören scheint, obwohl man dort geboren ist. Solcher Art sind die "typischen" Voraussetzungen einer Entwicklung, die den Weg "Kalifat" ebnen kann.
Wohlgemerkt: dies ist nicht die normale Entwicklung. Die weitaus grösste Zahl - weit über 99,9 Prozent aller Eingewanderten aus muslimischen Teilen der Welt in der zweiten und dritten Genration entwickeln Methoden und finden Wege, um derartige Schwierigkeiten mit ihrer "Gast"-Gesellschaft zu überwinden - ohne pathologischen Schaden davonzutragen. Die Rede ist hier nur von einer zahlenmässig unendlich viel kleineren Anzahl, die dieser Schwierigkeiten und Benachteiligungen so wenig Herr werden, dass sie sich von ihrer Einwanderungsgesellschaft abwenden und einen andern Weg suchen.
Verlockende Angebote
So hören sie den Lockruf der islamistischen Ideologie. Dieser erfolgt - im Westen – in erster Linie auf digitalen Wegen. Man erfährt übers Internet: Es gibt eine Alternative, "Deine" Alternative als "Muslim". Eine digitale Heimat wird angeboten. "Bei uns gehörst Du dazu, und zwar voll dazu."
"Du wirst einer von uns.", "Dein Leben erhält einen Sinn", "Unsere Gemeinschaft kann Dir diesen Sinn vermitteln." "Kümmere Dich um Deinen Islam. Wir werden Dir zeigen, wie und was das ist. Wenn Du Dich dem hingibst, gehört er Dir, einschliesslich der Verheissungen einer Belohnung im Jenseits.", " Du hast auch Feinde, die Dich daran
hindern wollen, Deinen Weg zu finden. Kehre Dich von ihnen ab, mental und später auch physisch. Bekämpfe sie. Der Sieg ist Dir verheissen und sicher. Es gibt heilige Texte, die wir Dir aufzeigen, und an die Du Dich richten kannst."
Unser Staat, das Kalifat
Eine Verlockung ist neuerdings auch durch den Umstand gegeben, dass "das Kalifat" existiert. "Dein Staat wartet auf Dich", so vermittelt es das Internet. "Dort wirst Du eine Rolle spielen, Deine Rolle, und wenn es auch nur die eines Gläubigen sein wird. Bei uns findest Du Deinen Platz. Bei den ‚Ungläubigen‘ wirst Du ihn nie finden, wie Du es
ja selber erfahren hast. Dein Platz ist schon vorbereitet von uns. Du musst nur nach Syrien kommen, um ihn einzunehmen." Geboten wird: Zugehörigkeit, Aufgabe, Lebenssinn, sogar eine Position mit Gehalt, sei es als Kämpfer, sei es als "Glaubenszeuge" (das ist ein Euphemismus für „Selbstmordattentäter“).
Die Wirksamkeit all dieser Verlockungen nimmt zu und die Bereitschaft und Fähigkeit, sie kritisch zu hinterfragen schmilzt dahin angesichts der pathologischen Lage, in der sich jene befinden, denen es nicht gelungen ist, die durchaus realen Schwierigkeiten und Nachteile zu überwinden, denen sie als Kinder und Grosskinder von eingewanderten Muslimen in der westlichen Welt ausgesetzt sind.
Die Kämpfer aus der muslimischen Welt
Die meisten Kämpfer kommen nicht aus Europa zum „Islamischen Staat“, sondern aus den arabischen und aus anderen muslimischen Ländern. Dieses Einzugsgebiet ist viel grösser als jenes des Westens Gewisse Dinge, die in Europa als Motive zum „Gang ins Kalifat“ gelten, gibt es auch - mutatis mutandis - in der heutigen muslimischen Welt. Dazu gehören die Identitätsfrage sowie materielle und bildungsmässige Missstände.
Auch innerhalb der islamischen Welt kann heute die Frage aufgeworfen werden: Wer bin ich und warum gehöre ich nicht zu den Tonabgebenden, deren Leben ihnen Befriedigung bringt? Dies sind in der arabischen und in der gesamten Muslimischen Welt nicht einfach die eingewanderten Amerikaner oder Europäer, sondern vielmehr die Mächtigen und die Wohlhabenden aus dem eigenen Volk. Heutzutage sind dies sehr weitgehend Personen und Kreise, deren Lebensstil und oft auch Lebensunterhalt mit "dem Westen" zusammenhängt. Sie sind - auch innerhalb der islamischen Welt – die Erfolgreichen. Sie leben gut, in erster Linie, weil sie über die Verbindungen verfügen, die ihnen Anschluss an die reiche westliche Welt verschaffen.
Sie kleiden sich wie die Westler, sie kennen deren Sprachen und machen Geschäfte mit ihnen - vermutlich auf Kosten jener, die von diesen Geschäften ausgeschlossen bleiben. Dies erlaubt ihnen einen Lebensstil, wie ihn ihre einfachen Landsleute höchstens aus amerikanischen Filmen kennen. Ähnlich wie manche der Eingewanderten-Enkel im Westen sehen sich ihre einfachen Landsleute in ihren eigenen Ländern - legal gesehen Mitbürger, in der Praxis jedoch als nicht voll gleichberechtigt an. Anders in dem Sinn, dass es ihnen schwerlich gelingen wird, in den Kreis der Privilegierten vorzudringen.
Keine "Würde" besitzen
Im Wesen stellen jene, die sich ausgegrenzt fühlen, eine Minderheit dar. In der islamischen Welt hingegen ist es die riesige und jährlich um Millionen weiter wachsende Masse, die Grund hat, sich ausgeschlossen zu fühlen. Ausgeschlossen im eigenen Land, nicht im Einwanderungsland.
Die Demonstrationen des Jahres 2011 haben dies auf die Strasse gebracht, in Kairo sogar auf den "Befreiungsplatz". Doch eine Befreiung fand nicht statt. Die Demonstranten sprachen von ihrer "Würde", die einige von ihnen (die "Revolutionäre") der breiten Bevölkerung zurückgeben wollten. Man wollte wieder „jemand“ werden, nachdem man jahrzehntelang „niemand“ gewesen war, nicht zählte, nicht erst genommen wurde, nicht konsumieren konnte, sich nicht ausbilden konnte, kein Wort mitzureden hatte. Man hatte sogar mit Folter zu rechnen, wenn man versuchte, seine Stimme zu erheben. Jene die "Würde" besassen, das heisst jene, die zählten, die geachtet wurden, waren immer zunehmend die "verwestlichten" Personen, die Zugang, Verbindungen, Schlüsselpositionen besassen, wenn es um die Gewinn bringende Zusammenarbeit mit der "anderen" nicht islamischen, aber reichen und mächtigen, ja übermächtigen, "westlichen" Welt ging.
Der Islam - Gegenposition gegen "den Westen"
Der Islam war, seit der Niederlage von 1967 im Sechstagekrieg zunehmend als eine Gegenkraft zum Lager dieser "verwestlichten" Oberschichten aufgetreten. Er hatte die Position jener Macht eingenommen, die das Eigene vertrat und verteidigte. Den heute „Würdelosen“ verspricht er, die „Würde“ zurückzugeben, vorausgesetzt, sie würden genügend „islamisch“ leben. Dann würde sich das ganze Gemeinwesen ändern. Islamisch leben, so wird gelehrt, heisst nach der Scharia leben. Wie genau? Dafür gibt es die Fachgelehrten, die dies definieren können. Die einfachen Leute sind aufgefordert zu glauben.
Die Bereitschaft dazu ist sehr viel grösser als im heutigen Europa. Saudi-Arabien hat in den letzten vierzig Jahren die Botschaft lanciert: Wir sind durch Gottes Gunst reich und wohlhabend geworden. Das Erdöl ist unser Geschenk, weil wir so fromm und gottgläubig sind. Unsere "Würde" beruht auf unserem Gottesglauben, der sich an der Scharia orientiert.
Man muss einräumen, ein grosser Teil des Ansehens, das der Islam in den letzten vierzig Jahren (wieder) erworben hat, beruht darauf, dass er als die einzig gültige und wirksame Gegenposition gegen "den Westen" gesehen wird. "Unsere Sache" steht im Gegensatz zu dem übermächtigen "Heidentum" aus dem Westen, das "ihre" Sache ist, das heisst: Sache all jener, die sich mit dem Westen identifizieren, mit ihm zusammenspannen, sich ihm und seinen Interessen zur Verfügung stellen und dabei wohlhabend und mächtig geworden sind.
Ausschliessende und Ausgeschlossene
Auch für die Muslime des Orients ist es ein pathologisches Verhalten, wenn sie sich dem „Islamischen Staat“ anschliessen. Dieses entsteht durch das unbewältigte Grundgefühl: So wie die Lage heute in unseren Ländern ist, gibt es Ausschliessende und Ausgeschlossene. Die Ausschliessenden setzen "westliche" Methoden und Verbindungen ein, um uns, die Ausgeschlossenen, draussen zu halten. Wir sind nicht in der Lage zu den Auschliessenden hinüberzuwechseln. Doch was wir tun können, ist, unsere eigenen Werte zu leben, so klar und so energisch, dass wir den von Gott verheissenen Sieg davontragen.
Was genau diese eigenen Werte sind, darüber vertraue ich den Fachleuten meiner Wahl. Je unzufriedener die Betroffenen mit ihrer gegenwärtigen Würdelosigkeit sind, desto leichter wird es den Propagandisten des „Islamischen Staats“ Erfolg zu haben. Hier im Osten geschieht dies nicht übers Internet, sondern in bestimmten Moscheen und mit Mund-zu-Mund-Propaganda.
"Der Islam bringt Dir Deine Würde zurück"
Die grossen Massen fühlen sich mehr und mehr „anders“ als die wirtschaftliche und politische Oberschicht und ihre Machthaber, deren Position auf der „Globalisierung“ beruht.
Die typischen Ansprechpartner für den „Islamischen Staat“ sind in Europa und im islamischen Orient nicht die gleichen: In Europa sind es zum Teil Einwanderer, die sich als heimatlos empfinden und sich nicht integrieren konnten. Im Orient hingegen sind es die breiten Schichten der einheimischen Bevölkerungen, die ihre "Würde" wiedererlangen möchten. Einige unter ihnen sprechen auf die Propaganda des „Islamischen Staats“ an. Er verheisst ihnen: „Der Islam (so wie wir ihn verstehen und auslegen) bringt Dir Deine Würde zurück.“