Die Kolonialgeschichte Europas und Nordamerikas erfährt gegenwärtig eine Neubewertung. Howard W. French zeigt, dass diese Neubewertung auf tönernen Füssen steht. Denn sie verkennt immer noch die Radikalität, mit der sich die Europäer den Schwarzen Kontinent unterworfen und zur Basis ihres Aufstiegs gemacht haben.
Am Anfang war das Gold. Es funkelte im Schwarzen Kontinent, für den sich die Europäer zunächst gar nicht interessierten. Was die Seefahrer, Entdecker, Abenteurer und Spezialisten für die Navigation um 1500 umtrieb, war die Frage, wie sie einen Seeweg nach Indien und China finden konnten, denn der Handel mit den asiatischen Ländern stand in voller Blüte. Afrika galt es zu umschiffen, nicht zu entdecken oder gar zu erforschen.
Gold
Aber Gerüchte kamen auf. Es gab einen Herrscher, Mansa Musa von Mali, der über einen unvorstellbaren Reichtum an Gold verfügte. Im Jahr 1324 trat er eine mehr als 5600 Kilometer weite Reise nach Kairo und Medina an. «Musa wurde von einer aus 60’000 Mann bestehenden Delegation begleitet, darunter 12’000 Sklaven, von denen jeder angeblich einen stabähnlichen Fächer aus Gold mit einem Gewicht von vier Pfund trug. 500 Mägde und persönliche Sklavinnen sollen sich angeblich allein um die Bedürfnisse von Musas Hauptfrau gekümmert haben. Kamele und Pferde trugen viele 100 Pfund Goldstaub. Insgesamt schätzen manche die Menge an hochreinem Gold, die Musa auf seiner Pilgerreise mit sich führte, auf bis zu 18 Tonnen.» Die Kunde dieser Reise drang nach Europa. Das ist für Howard W. French ein Triggerpunkt der Weltgeschichte. Denn nun waren die Begehrlichkeiten der Europäer geweckt, und sie eilten gierig an die westafrikanischen Küsten.
Für die Europäer war Gold weitaus mehr als ein Nice-to-have. Detailliert belegt French, dass es zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor und Motor der europäischen Wirtschaft wurde. Denn nun verfügten arme Länder wie Portugal über ein Zahlungsmittel, mit dem sie ihre Flotte, ihr Militär und ihre Wirtschaft finanzieren konnten. Gold ermöglichte den europäischen Aufschwung. Als es zeitweilig knapp wurde, geriet die Wirtschaft prompt in ernste Schwierigkeiten.
Sklaven
Es gab aber noch eine andere Art von Gold: die Sklaven. Als Produktivkraft waren sie weit wichtiger, und die Skrupellosigkeit der Europäer und später der Nordamerikaner wiegt weitaus schwerer. Allerdings vergisst French nicht, wieder und wieder darauf hinzuweisen, dass es auch in anderen Kulturen Sklavenhandel gab und dass afrikanische Herrscher oder Stammesfürsten keinerlei Skrupel hatten, den Europäern Sklaven gegen Luxusgüter aus Europa zu liefern. Aus mehreren Gründen aber relativiert das nicht die Schuld des Westens:
Das Erste und Verstörendste: Wie konnten die Europäer afrikanische Menschen derartig skrupellos als eine Art Vieh behandeln, für das auch nicht die minimalsten ethischen Ansprüche galten? Eine naheliegende Antwort könnte sein, dass man es damals noch nicht besser wusste und die Aufklärung mit der damit einhergehenden ethischen Sensibilisierung erst noch kommen sollte. Aber dieses Argument trifft nicht. French zitiert den portugiesischen königlichen Chronisten Gomes Eanes de Zuara aus dem 15. Jahrhundert:
«Dich (Gott) bitte ich, dass meine Tränen meinem Gewissen nicht zum Schaden gereichen mögen; denn nicht die Religion der Gefangenen, sondern ihr Menschsein zwingt mich, dass ich wehmütig ihre Leiden beweine. Und wenn die unvernünftigen Tiere mit ihrem rohen Sinn durch ihren natürlichen Instinkt fähig sind, das Unglück ihrer Artgenossen zu empfinden, was erwartest Du dann von meiner menschlichen Natur, wenn ich mit eigenen Augen diesen elenden Zug sehen und mich dabei erinnern muss, dass auch sie Kinder aus dem Geschlechte Adams sind?»
French resümiert, dass Zurara «besonders die Schrecken der Trennung von Ehepaaren, von Müttern und Kindern quälten. Er beschreibt Frauen, die sich laut klagend zu Boden warfen, nur um dann geschlagen und ausgepeitscht zu werden.»
Plantagenwirtchaft
Die Zahlen, die French anführt, um das Ausmass des Sklavenhandels zu verdeutlichen, sind schier unglaublich: «Zwischen 1700 und 1800 wurden fünfeinhalb Millionen Afrikaner aus ihrer Heimat entführt.» Dazu kommen aber noch die Hunderttausende, die vom 15. Jahrhundert an gefangen genommen und verschifft wurden. Dabei betont French wieder und wieder, dass die Sklaven grundsätzlich in Ketten gelegt werden. Erschütternd ist auch sein Besuch in der Burg von Elmina, eine Art Festung an der Küste von Ghana, wo die Sklaven in übelste Verliese gepfercht wurden, bevor man sie auf die Schiffe verfrachtete. Die Todesraten waren dabei extrem hoch, aber darauf kam es den damaligen Händlern nicht an, denn der Nachschub an Sklaven schien unbegrenzt zu sein.
Ausführlich stellt French dar, dass die Sklavenarbeit überhaupt erst die Plantagenwirtschaft zur Gewinnung von Zucker und Baumwolle ermöglichte. Die Sklaven wurden wie Maschinen betrachtet und sie wurden auch so eingesetzt. Noch im Jahr 1785 fragte ein Plantagenbesitzer: «Wie können wir grosse Mengen an Zucker herstellen, wenn die Sklaven nur 16 Stunden am Tag arbeiten?»
Blinde Flecken
Howard W. French leitete von 1990 bis 1994 die Abteilung der «New York Times» für die Karibik und Mittelamerika. Er war einer der ersten afroamerikanischen Korrespondenten der Zeitung. In den Jahren 1994 bis 1998 schrieb er für die «New York Times» über West- und Zentralafrika. Danach war er an zahlreichen Orten in Asien und anderen Teilen der Welt tätig. Für sein Buch ist er unermüdlich an die Schauplätze des Sklavenhandels und zu den Plantagen gereist. Dazu kommen intensive Studien in Archiven und der Fachliteratur. Sein Buch ist auch deswegen so eindringlich, weil er davon anschaulich und engagiert berichtet. Und er leuchtet zwei blinde Flecken aus, die bis heute die angemessene Bewertung des Themas der Sklaverei behindern.
Der erste blinde Fleck betrifft Afrika. Die Europäer haben sich für diesen Kontinent, den sie bezeichnenderweise den «schwarzen» nannten, nie wirklich interessiert. Ursprünglich trat er nur ins Blickfeld, weil man nach Schifffahrtsrouten nach Asien suchte. Als dann der Handel mit Gold und Sklaven einsetzte, gab es zwar vereinzelte Expeditionen, aber kein Interesse an afrikanischen Gesellschaften und ihrer Kultur. So haben die Europäer nicht gesehen, dass es hoch entwickelte kulturelle und politische Systeme gab.
Hochkultur
Als Beispiel nennt French das Königreich Benin: «Als die Portugiesen dort 1585 eintrafen, waren sie beeindruckt von der gewaltigen Mauer, die die Hauptstadt umgab. Archäologische Untersuchungen in den 1990er Jahren haben gezeigt, dass sie nur ein Teil eines komplexen Netzwerks aus Befestigungen war, die stellenweise 15 bis 20 Meter hoch aufragten und sich über etwa 16’000 Kilometer erstreckten. Das macht die Mauern von Benin noch vor der chinesischen Mauer zum grössten je von Menschenhand erschaffenen Bauwerk der Welt. Das Königreich verfügte über eine stark zentralisierte Regierung, einen geregelten Handel, ein Polizeisystem und eine Armee, die über 100´000 Soldaten aufbieten konnte.»
Diese europäische Blindheit gegenüber dem früheren Afrika führt dazu, dass bis heute die Folgen des Entzuges von Arbeitskraft durch den Sklavenhandel und die Zerstörung der Kulturen durch die Eroberungszüge und die Kolonisierung nicht angemessen gesehen werden. Der Afrikaner gilt in den gängigen Vorurteilen als unterlegen. Damit wird das bestätigt, was die Europäer im Zeichen ihrer Ignoranz erst angerichtet haben. Sie haben sich für die Kultur Afrikas und der Afrikaner nicht interessiert, sie in ihrer Ignoranz zerstört, und das Ergebnis dieser Zerstörung wirkt auf sie wie die beste Bestätigung ihrer ursprünglichen Vorurteile. Ein teuflischer Zirkel.
Der geraubte Nutzen
Der zweite blinde Fleck betrifft den ungeheuren Nutzen, den Europa und später die USA aus dem Gold und dem Sklavenhandel gezogen haben. Der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung seit dem Ende des Mittelalters beruhte nicht auf überlegener Wissenschaft und Kultur, wie die Europäer gerne glauben, sondern auf den Ressourcen an Gold und vor allem der Arbeitskraft der Sklaven, die Europa mit Baumwolle, Zucker und Genussmitteln wie Kaffee und Schokolade versorgten. Ausführlich geht French in diesem Zusammenhang auf das Buch «Capitalism and Slavery» von Eric Williams ein.
Nur wenige Details: Der massenhafte Import von Zucker veränderte insofern die Ernährung, als jetzt deutlich mehr Kalorien zur Verfügung standen, was den Nutzen der Arbeiter in der entstehenden Industrie erhöhte. Dazu kam der Kaffee: «Die Verfügbarkeit von heissen, gesüssten und anregenden Getränken führte dazu, dass das erste Kaffeehaus entstand, das 1650 in Oxford eröffnet wurde.» Damit wiederum veränderte sich die öffentliche Kommunikation, Zeitungen entstanden und damit eine Öffentlichkeit, die das Entstehen demokratischer politischer Systeme ermöglichte.
Bittere Einsicht
Das ist eine bittere Einsicht: Die europäische Hochkultur mit ihrer ganzen Feinsinnigkeit beruht auf Voraussetzungen, die ihr vollkommen widersprechen. French illustriert diese Verkennung beziehungsweise Blindheit mit den Zuständen auf der Insel Barbados, auf der Zucker angebaut wurde. In den 1640er Jahren kam es dort zu einem Aufstand. Im Jahr 1751 besuchte George Washington die Insel, um sich von einer Tuberkulose zu erholen. Hingerissen schilderte er die Schönheiten dieses Ortes in seinem Tagebuch. Mit keinem Wort aber erwähnte er «die verwesenden Köpfe rebellischer Sklaven, die auf angespitzten Stöcken an belebten Kreuzungen aufgespiesst waren».
Das Buch von Howard W. French lässt sich auch als eine Mentalitätsgeschichte lesen. French analysiert scharf, aber er vermeidet den moralisierenden Ton der Anklage. Eher schon wirkt er ratlos in Anbetracht der Tatsache, dass offensichtliches Unrecht noch zu wenig gesehen und als Motor der neuzeitlichen Entwicklung Europas und der USA erkannt wird.
Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Aus dem Amerikanischen von Karin Schuler und Andreas Thomsen und Thomas Stauder. 508 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 35 Euro