Ein berühmtes Gedicht Bert Brechts beginnt mit einigen Fragen, die der Historiker gern zu stellen vergisst:
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Mit diesen Zeilen wandte sich Brecht gegen ein zu seiner Zeit weit verbreitetes Geschichtsbild, das den „grossen Männern“ die entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Geschichte zusprach. In der Tat hinterlässt die schriftliche Überlieferung ein einseitiges Bild. In ihr ist vor allem von Herrschern, ideologischen Leitfiguren und militärischen Führern die Rede; die Namen jener vielen Menschen, die dazu beitrugen, grosse Taten zu ermöglichen und wichtige Ideen zu verwirklichen, werden meist nicht erwähnt.
Dies gilt besonders für die Geschichte der europäischen Entdeckungsreisen. Wir kennen die Namen von Marco Polo, Hernán Cortés, Alexander von Humboldt, Livingstone und Stanley, Amundsen und Scott; aber ihre Helfer, meist landeskundige Eingeborene, sind in Vergessenheit geraten und werden kam je erwähnt.
Diesen „indigenen Begleitern“ ist das Buch gewidmet, das Volker Matthies unter dem Titel „Im Schatten der Entdecker“ verfasst hat.* In einem ersten Teil gibt der Verfasser, emeritierter Professor am Deutschen Übersee-Institut in Hamburg, einen kurzen Überblick über die Entdeckungsgeschichte vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. In den nachfolgenden Kapiteln betritt der Autor wissenschaftliches Neuland. Er befasst sich mit jenen eingeborenen Helfern, die zwar kaum je Aufzeichnungen hinterlassen haben, von denen jedoch nicht selten der Erfolg eines Unternehmens abhing.
Ausrüstung, Orientierung, Sprache
Zuerst ist von den Transportmitteln die Rede, welche die europäischen Reisenden von den Eingeborenen übernahmen. Entscheidende Bedeutung bei der Erschliessung des nordamerikanischen Hinterlandes kam etwa den leichten indianischen Birkenrinde-Kanus zu. In den arktischen Regionen Kanadas übernahmen die Entdeckungsreisenden die Hundeschlitten der Eskimos. Als Reiseproviant diente den Entdeckern Nordamerikas das indianische Pemmikan, eine Mischung aus Trockenfleisch, Fett und Beeren, die lange haltbar und leicht zu transportieren war. Den klimatischen Bedingungen passte man sich an, indem man sich wie die einheimische Bevölkerung in Leder oder Pelz kleidete.
Bei der Erforschung der Wüstengebiete Afrikas war man auf Führer der Karawanen angewiesen, denen man sich anschliessen musste. So reiste etwa der Schweizer Orient- und Afrikareisende Johann Ludwig Burckhardt zu Beginn des 19. Jahrhunderts als islamischer Pilger verkleidet in Karawanen mit. Von grosser Bedeutung für das Gelingen einer Reise waren auch die geografischen Informationen, die man von der einheimischen Bevölkerung erhalten konnte. Bei seinem Vormarsch durch Mexiko stützte sich Cortés auf Strassen- und Siedlungskarten der Azteken. Die französischen Pelzhändler in Kanada benutzten Kartenskizzen der Indianer, und James Cook liess sich von einem Südseeinsulaner eine Karte der polynesischen Inselwelt zeichnen.
Wichtige, ja unverzichtbare Dienste leisteten die „indigenen Begleiter“ auch als Dolmetscher. Schon die Portugiesen, welche im Gefolge Vasco da Gamas die westafrikanische Küste auf- und heimsuchten, setzten schwarze Sklaven als Übersetzer ein. Manche Dolmetscher dienten mehreren europäischen Reisenden. Von einigen von ihnen ist der Name überliefert. So wissen wir etwa von einem Indianer im Dienst einer kanadischen Pelzhandelskompanie, der „English Chief“ genannt wurde und ein gutes Dutzend indianischer Dialekte beherrschte. Von einem Somali namens Dualla Idris wird berichtet, dass er Englisch, Arabisch, Swahili und Hindustani sprach. Auch unter den europäischen Reisenden gab es im übrigen eigentliche Sprachgenies. So eignete sich der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth während seiner vier Jahre dauernden Afrikareisen so viele lokale Dialekte an, dass er ohne Dolmetscher auskam.
Wegbereiter der Unterwerfung
Zuweilen entwickelte sich zwischen dem Reisenden und dem „indigenen Begleiter“ eine zwar paternalistisch geprägte, aber freundschaftliche Beziehung. Berühmt ist die Treue, die Livingstones Begleiter Chuma und Susi ihrem Herrn gegenüber bis über dessen Tod hinaus bewahrten. In den Berichten französischer Waldläufer über die kanadischen Indianer widerspiegelt sich nicht selten die wechselseitige Sympathie und manche „coureurs de bois“ standen de Huronen näher als den französischen Kolonisten.
Im zweiten Teil seines Buches stellt uns Volker Matthies einige der „indigenen Begleiter“ der Entdeckungsreisenden in neun Kurzbiografien vor. Eine der bekanntesten Gestalten war die Shoshonen-Indianerin Sacagawea, welche 1804 als Dolmetscherin die grosse transkontinentale Expedition von Lewis und Clark begleitete; sie wurde vom Schweizer Indianermaler Karl Bodmer gemalt und auf einer amerikanischen Briefmarke abgebildet. Eine bekannte Figur war auch der ehemalige Sklave Sidi Mubarak Bombay, der die Engländer als Karawanenführer und Dolmetscher bei der Suche nach den Nilquellen unterstützte und von der „Royal Geographical Society“ mit einer Medaille ausgezeichnet wurde.
Alle diese „indigenen Begleiter“ haben keine eigenen Aufzeichnungen hinterlassen, und ihre Biografie kann, wie Matthies zu Recht betont, aus den europäischen Quellen nur lückenhaft erschlossen werden. Gern möchte man mehr über sie wissen. Was veranlasste sie, in die Dienste der Europäer zu treten? Fanden sie, nachdem ihre Dienste beendet waren, wieder zu ihrer angestammten Kultur zurück? Oder gelang ihnen die Integration in die Kultur der Kolonialherren? Und vor allem: War ihnen bewusst, dass sie durch ihr Engagement mithalfen, den Europäern den Weg zur Unterwerfung, Verdrängung und kolonialistischen Ausbeutung ihrer eigenen Völker zu ebnen?
Das kenntnisreiche und flüssig formulierte Buch von Volker Matthies über die vergessenen Begleiter der europäischen Entdeckungsreisenden stellt nicht nur einen bisher wenig beachteten Aspekt der Entdeckungsgeschichte dar. Es wirft auch interessante Fragen zur Problematik des Kulturkontakts auf, die ihre Aktualität bis heute nicht verloren haben.
*Volker Matthies, Im Schatten der Entdecker. Indigene Begleiter europäischer Forschungsreisender, Berlin 2018.