Das neue Buch von Christoph Reuter, Die schwarze Macht *, zeigt detailliert auf, was man bisher nur hatte ahnen können. IS befindet sich weitgehend in der Hand von ehemaligen Geheimdienstoffizieren und anderen Militärs Saddam Husseins. Sie sind es, welche die Strategie und Taktik von IS bestimmen und ihre Ausführung überwachen. Die islamistische Ideologie ist nur Fassade. Sie dient als Blendwerk mit doppeltem Zweck, einerseits um Gefolgsleute und Geldgeber anzuziehen und zu motivieren, andrerseits um der Aussenwelt vorzuspiegeln, sie habe es mit einer Art religiöser Bewegung zu tun.
Vordenker aus der Geheimpolizei
Die Wirklichkeit wurde klar und beweisbar durch den Fund von Dokumenten, die einer der geheimen Planer von IS – wahrscheinlich der wichtigste aller Berater des späteren «Kalifen» – nach seinem gewaltsamen Tod im Januar 2014 hinterliess. Sie zeigen das Streben nach Macht durch peinlich genau geplante Täuschungs- und Überraschungsmanöver im Stil der Geheimdienste. Reuter kann zeigen, dass diese Pläne nicht nur auf dem Papier entworfen wurden. Sie wurden bei der Inbesitznahme von Ortschaften und Bezirken in Syrien genau befolgt. Auch Mosul ist auf diese Weise erobert worden. Mit Religion haben diese Pläne nichts zu tun.
Der ehemalige Geheimdientsoberst der irakischen Luftwaffe unter Saddam Hussein, Samir Abd al-Muhammed al-Khleifawi, mit dem Pseudonym Haji Bakr, war schon 2006 zum Vorläuferverband von IS gestossen, der sich damals noch «al-Kaida in Irak» nannte. Er gewann an Bedeutung innerhalb der Organisation, als die Amerikaner 2010 die zweite Führung der Widerstandgruppe eliminierten. Aller Wahrscheinlichkeit war es er, der dafür sorgte, dass der heutige Kalife, Abu Bakr al-Bagdadi oder Kalif Ibrahim, die Nachfolge übernehmen konnte. Jedenfalls sorgte er dafür, dass die drei Mitglieder des zuständigen Schura-Gremiums, die der Ernennung Abu Bakrs nicht zugestimmt hatten, in der Folge ihr Leben verloren.
Haji Bakr wurde nicht nur Hauptberater und Organisator aus dem Hintergrund. Er war auch die Brückenperson, über die Kontakte und Rekrutierungen aus dem Milieu der Geheimdienstleute und Armeeoffiziere Saddams erfolgten. Viele der heute wichtigsten Führer von IS sind nachweisbar ehemalige Saddam-Offiziere.
Hierarchien und Zielvorgaben
Abu Bakr sebst kam im Verlauf von Kämpfen zwischen IS (damals noch ISIS) und anderen Widerstandsgruppen um, die sich seit Januar 2014 abspielten. Die Papiere, die er in seinem Haus in dem Flecken Tal Rafaat nördlich von Aleppo hinterliess, bestanden aus Plänen, Listen und Schemen für die Machtübernahme und Machtausdehnung von ISIS, sehr detailliert ausgearbeitet. Sie wurden entziffert, und ihre erstaunlich genaue Anwendung und Durchführung durch IS verfolgt und dokumentiert der Verfasser.
Die Pläne selbst sind über verzweigte Wege in Besitz von «Der Spiegel» geraten. Reuter wirkte für das Nachrichtenmagazin in Syrien und an der syrisch türkischen Grenze. Die Pläne zeichneten Stufen vor, wie die Beherrschung eines Gebietes zu erreichen sei. Die erste Phase bestand daraus, genaue Informationen über die lokalen Gegebenheiten und Bewohner zu sammeln. Zu diesem Zweck waren Agenten zu verwenden, denen vorgeschrieben wurde, worüber sie sich zu informieren hatten. Die Informationen waren sodann noch oben weiterzureichen.
Listen von Informationszielen wurden aufgestellt: Die machtvollen Familien; die mächtigsten Personen in diesen Familien; die Quellen ihrer Einkünfte; Namen und Stärke der vorhandenen Rebellengruppen; deren Anführer und politische Ausrichtung; ihre Aktivitäten – gemäss der Scharia? oder im Gegenteil? Es sollen auch «Brüder» ausgewählt werden, die in die wichtigsten Familien einheiraten, um die Durchdringung dieser Familien sicherzustellen.
Reuter schreibt: «Aber immer wieder ging es um das Kernthema, das in Organigrammen und Listen für Zuständigkeiten und Berichtspflichten akribisch abgehandelt wird: Für Überwachung, Spionage, Morde, Entführungen werden je ein Befehlshaber (Emir) bestimmt» sowie sein jeweiliger Stellvertreter. Es gibt auch einen Emir zur Überwachung der anderen Emire – «falls sie ihre Arbeit nicht gut machen». «Von Anfang an geplant war, dass die Geheimdienste parallel arbeiteten, selbst auf Provinzebene: Eine allgemeine Nachrichtendienst-Abteilung unterstand dem «Sicherheitsemir» einer Region, der Vize-Emire für die einzelnen Bezirke befehligte.»
Harmlose Missionare und Prediger
Die Praxis, in Syrien vielfach bewährt, bestand zuerst aus der Eröffnung von Dawa-Büros, Missionsbüros in jedem zu erobernden Flecken. Sie dienten als harmlos scheinende Zentrale, um Agenten zu rekrutieren und die lokale Gesellschaft auszuspionieren. Die Missionare erklärten, sie seien «Brüder», die helfen wollten. Geld floss ihnen zu aus Mosul, wo ISIS schon damals über ein Netz von Erpressern verfügte, die mit Mafiamethoden Schutzgelder einsammelten. Tankstellen oder Apotheken, die nicht bezahlen wollten, gingen in Flammen auf.
In grösseren Ortschaften wurden in gemieteten Wohnungen Schläferzellen eingerichtet, wo Waffen lagerten und Kämpfer untergebracht werden konnten. Die genauen Ortskenntnisse dienten dazu, Feindschaften und Spaltungen in den zu gewinnenden Ortschaften zu entdecken und auszunützen. Dadurch liessen sich Anhänger anwerben. Nach dem Schema «Du hast einen Feind, ich helfe dir gegen ihn».
Fachleute aus der Geheimpolizei Saddams
Die aufgefundenen Dokumente machen sehr klar: Es ging ISIS, später IS, in erster Linie darum, einen eigenen Staat aufzubauen und zu beherrschen. Die Mittel dazu und die Facheute ihrer Anwendung waren die gleichen, mit denen Saddam Hussein seine auf Furcht gegründete Macht errichtet hatte. Die Geheimdienstleute wussten, wie das zu erreichen war. Die ersten Kontakte zwischen den islamistischen Radikalen, welche die Ideologie lieferten, und den von den Amerikanern abgesetzten und entlassenen Geheimdienstleuten Saddams fanden zum Teil in den grossen Gefangenenlagern der Amerikaner statt, wie Camp Buqqa nicht weit von Basra, wo sich Tausende von Gefangenen aufhielten und einander kennen lernten. Manche von ihnen berichten, sie hätten die gegenseitigen Telephonummern auf die Gummibänder ihrer Unterhosen geschrieben, um nach ihrer Entlassung einander wiederzufinden.
Die Rekrutierung dieser Machttechniker färbte die Zielsetzungen der Jihadisten. Zuvor hatten sie auch von einem Islamischen Staat gesprochen. Doch dieser war eine entfernte Wunschvorstellung. Oder sie hatten ihren bestehenden Staat im Auge – Ägypten, Syrien, den Irak, Afghanistan –, dessen Herrscher sie zu stürzen und den sie dann zu übernehmen gedachten. Die Geheimdienstleute legten den Weg frei, auf dem ein eigenes Staatsgebilde zu errichten und – ihrem Ermessen nach – auch aufrecht zu erhalten war. Furcht und Schrecken, Information durch einen Spionageapparat, präventive Ermordung von potentiellen Feinden und Gegnern und «Bestrafung» von allen, die sich zu sträuben wagten, so abschreckend und grausam wie möglich, waren die Hauptinstrumente dazu.
Der religiöse Vorwand hatte auch seine Nützlichkeit, nicht nur weil er zur Rekrutierung von desorientierten Haltsuchenden diente. Er war auch ein Instrument der Tarnung, das die wirklich angewandten Methoden und Ziele verschleierte. Zur Zeit Saddams war die Verschleierung durch den Arabischen Nationalismus gegeben, nun bediente man sich der islamistischen Ideologie. An Stelle der arabischen Grossnation versprach sie nun ein islamisches Grossreich, so wie der Prophet es errichtet habe – und den Märtyrern gleich noch das Paradies.
Invasion im vorbereiteten Terrain
Die Praxis erforderte nach der ersten Stufe der Auskundschaftung eine zweite der Invasion und Ausschaltung aller Konkurrenten. Die Invasion wurde durch bewegliche, schnell einsetzbare Truppen durchgeführt. Vorbereitete lokale Zellen kamen ihnen zu Hilfe. In manchen Fällen war es gelungen, die Mitglieder von anderen Kampfverbänden abzuwerben. ISIS hatte mehr Geld. Den Abgeworbenen wurde geboten, in ihrem alten Verband zu bleiben, bis die Stunde der Übernahme schlug. Dann sollten sie die Front wechseln.
Raqqa, die syrische Hauptstadt von ISIS und später IS, wurde von zahlreichen Widerstandsgruppen gemeinsam erobert. Doch ISIS schaltete sie alle aus. Der Erwerb einer eigenen Stadt war für ISIS das Ziel, für die anderen war es darum gegangen, die Asad-Truppen daraus zu vertreiben und dann in anderen Richtungen weiterzukämpfen.
Nach den Eroberungen setzten die politischen Morde ein. Sie dienten dazu, Personen auszuschalten, um die herum sich Widerstand gegen IS hätte bilden können. Im Chaos der vielen Kampfgruppen und ihrer inneren und äusseren Fronten gegen das Asad-Regime war es leicht, Mordtaten abzustreiten, und das wurde systematisch getan.
Noch später kamen die «islamisch» genannten Verhaltensregeln und Restriktionen wie Rauchverbot, Kleidungsvorschriften, Verbote und Gebote für den «islamischen» Schulunterricht, Diskriminierung der nichtmuslimischen Minderheiten. Dadurch wurden die Bevölkerungen in enge Regeln gezwungen. Deren gewaltsame Durchsetzung diente der Machterhaltung durch Ausbreitung von Furcht. Sie lenkten ab von der Machtausübung, die Selbstzweck war, aber durch das islamisch genannte Regelnetzwerk verschleiert wurde. Sharia-Gerichte sorgten dafür, dass die Regeln durchgesetzt wurden.
Opportunität als Grundmuster
Das Buch dokumentiert ausführlich die Wendigkeit des geheimdienstlich gesteuerten Machtapparates. Er verstand es sogar, mit den Geheimdiensten Asads zusammenzuarbeiten, solange es gemeinsame Interessen gab. Es gab sie nicht nur inbezug auf den Verkauf von syrischem Erdöl, das IS fördern liess und über Mittelsleute teils in die Türkei schmuggelte, teils an Damaskus weiter verkaufte. Es gab sie auch inbezug auf die beiderseitigen politischen Interessen.
Asad und seine Dienste hatten dafür gesorgt, dass Islamisten aus den syrischen Gefängnissen entlassen wurden, weil ihre Gegenwart und Aktivität die syrische Propaganda zu bestätigen schienen, nach welcher der Widerstand in Syrien aus lauter Terroristengruppen bestand. Aus dem gleichen Grund vermied es die syrische Luftwaffe lange Zeit, Raqqa zu bombardieren, wo das Hauptquartier von IS ungestört blieb, obwohl es jedermann kannte. Im Gegenzug vermieden die ISIS Kämpfer, die nahe bei ihrer Hauptstadt gelegene syrische Luftbasis von Tabqa anzugreifen. Helikopter der syrischen Luftwaffe konnten dort wieder landen und die Basis verproviantieren, sobald ISIS die Region alleine beherrschte. Zur Zeit als sich dort mehrere Kampfgruppen aufhielten, waren die Helikopter aus Furcht vor Abschüssen fern geblieben.
Die stillschweigende Zusammenarbeit mit Damaskus endete endete erst, nachdem ISIS zu IS geworden war und in Mosul das grosse Waffenlager der irakischen Armee erbeutet hatte. Daraufhin sah sich IS stark genug, um die Basis von Tabqa anzugreifen und zu erobern.
Motive auf Seiten des Regimes
Die Zusammenarbeit der syrischen Geheimdienste mit den Vorläufern von IS hatte schon zur Zeit der Amerikaner begonnen. Die syrischen Geheimdienste sorgten damals dafür, dass Jihadisten, die gegen die amerikanische Besetzung des Irak kämpfen wollten, über Syrien einreisen konnten und nach dem Irak hinüber geschmuggelt wurden. Die Amerikaner wussten darüber Bescheid und beklagten sich in Damaskus. Doch Damaskus stritt alles ab. Der Grund für das damalige Verhalten der syrischen Dienste scheint gewesen zu sein, dass Damaskus fürchtete, nach dem Irak das nächste Ziel des amerikanischen «Regime Change» zu werden. Um dies zu verhindern, taten die syrischen Dienste, was sie konnten, um die Amerikaner im Irak beschäftigt zu halten.
Später, nach dem arabischen Frühling von 2011, sah das Asad-Regime den Aufstand der Syrer als einen Versuch der Amerikaner und Bundesgenossen, «Regime Change» nach Syrien zu bringen. Dies jedenfalls in der Propaganda des Regimes. Dass Regime dazu neigen, ihre eigene Propaganda mit der Wahrheit zu verwechseln, ist eine alte Erfahrung. Schliesslich haben sie es ja selbst so gesagt; dann muss es auch – mindestens teilsweise – wahr sein! Ein Grund mehr, um die geschworenen Feinde der Amerikaner aus den Gefängnissen zu entlassen und ihnen Bewegungsfreiheit zu gewähren.
Das vorbereitete Terrain im Irak
Das Buch geht auch ein auf die Zustände im Irak nach dem Abzug der Amerikaner und die Begünstigung der Schiiten durch Ministerpräsident al-Maleki, nicht nur in den Ministerien, auch in der Armee und den Sicherheitsdiensten. Dass dies die Voraussetzung war für die steigende Macht der sunnitischen Kampfgruppen, besonders von ISIS im irakischen Ursprungsgebiet der Gruppierung, ist allgemein bekannt.
Die sunnitischen Bevölkerungsteile wurden mit der Diskriminierung und Verfolgung durch schiitische Sicherheitskräfte des Staates recht eigentlich in die Hände des sunnitischen Widerstandes getrieben. Dass diese schiitischen Kräfte, einschliesslich der neuen Armeeoffiziere des «schiitischen» Iraks über die Massen korrupt waren, so sehr, dass sie als Offiziere im Felde nichts anderes konnten als davonzulaufen, schildert das Buch ebenfalls und bringt dabei neue Belege und Einzelheiten.
Reuter vermutet, dass auch der neue Ministerpräsident al-Abadi zu sehr ein Gefangener seiner schiitischen Gefolgleute und der Iraner sei, um in der Lage zu sein, eine echte Versöhnung mit den irakischen Sunniten zu erreichen.
IS von allen Seiten beleuchtet
Es gibt auch Kapitel über die Propagandatechnik von IS, über die Verwendung ausgewählter Koranstellen und islamischer Traditionen, weiter über das Vorgehen in Sinjar, das möglicherweise in Fehler von IS war, weil es die Amerikaner zwang, mit ihrer Luftwaffe einzugreifen. Man findet Kapitel über das Leben im Islamischen Staat, wie es sich für die Untertanen ausnimmt. Abschliessende Kapitel befassen sich mit den Reaktionen der umliegenden Staaten Saudi-Arabien, Türkei, Iran, Jordanien.
Christoph Reuter unternimmt es, «IS in seiner Gesamtheit, in all seinen Facetten und Mutationsformen darzustellen». Der Kern des Buches ist die Erkenntnis, dass sich in IS zwei Mächte treffen: die Fassade des Islamismus mit der Machttechnik der irakischen Geheimdienste. Reuter zeigt dies detailliert und glaubwürdig, indem er den Aufstieg von IS in Syrien beschreibt und aufzeigt, dass er genau den vorgegebenen Organisationsschemen des verstorbenen Haji Bakr entspricht. «Wie dort das kleine irakische Vorauskommando aus einströmenden Jihad-Pilgern quasi aus dem nichts eine Kadertruppe formte. In einem fremden Land mit anderen Fremden aus Tunesien, Tschetschenien, Belgien und zahllosen anderen Ländern eine koloniale Unterwerfung zu organisieren, das hat noch keine dschihadistische Bewegung geschafft oder auch nur versucht.»
* Christoph Reuter: Die schwarze Macht. Der «Islamische Staat» und die Strategie des Terrors. Ein Spiegel-Buch, DVA Sachbuch, April 2015, ISBN: 978-3-421-04694-9