Das innere Unbehagen war Präsident Biden beim CNN-Interview über den Beschluss, der Ukraine die international geächtete Streumunition zu liefern, anzusehen.
Kein Wunder, denn mit dieser Entscheidung überschreiten die USA eine rote Linie, nämlich jene ungeschriebene Übereinkunft mit den Nato-Partnern, über die Art von Waffen für den Abwehrkrieg der Ukraine gegen Russland gemeinsam zu entscheiden.
Der Einsatz von Streumunition oder Streubomben aber kann schon deshalb nicht gemeinsam getroffen worden sein, weil die anderen Nato-Länder die Konvention zum Verbot dieser Waffe bis zum Jahr 2010 unterzeichnet haben. Mit guten Gründen: Da handelt es sich um ein System, das auf entsetzliche Weise auch die Zivilbevölkerung treffen, Menschen töten oder verstümmeln kann, und das auch noch wochen- oder monatelang nach dem Abwurf der betreffenden Geschosse. Verstümmelt wurden in zig Konflikten besonders Kinder, die irgendwo und irgendwann harmlos aussehende Partikel von Streumunitions-Bomben fanden, sie in die Hände nahmen, worauf das vermeintliche Spielzeug explodierte.
Amnesty International befand, Streumunition stelle «eine grosse Bedrohung für zivile Leben dar, selbst lange nach dem Ende eines Konflikts». Ganze Landstriche würden für Jahrzehnte «verseucht», u. a. weil beim unmittelbaren Einsatz fünf bis dreissigProzent der Sprengsätze einer «Cluster»-Bombe nicht explodierten, sondern als Zeitbomben irgendwo in der Landschaft liegen blieben. US-Präsident Biden betonte zwar, bei den jetzt lieferbaren Sprengsätzen betrage die Quote von Blindgängern weniger als drei Prozent, aber da haben Fachleute ihre Zweifel. Und auch wenn es nur drei Prozent wären und nicht mehr als hundert Geschosse mit je tausend Explosivkörpern zum Einsatz kämen, blieben immer noch dreitausend Blindgänger liegen. Hunderte Menschen starben oder wurden in den letzten Jahren beispielsweise in Syrien durch Spätzünder des Waffensystems verstümmelt, und Opfer werden noch immer, sogar Jahrzehnte nach dem Ende des offenen Kriegs, aus Laos gemeldet.
Biden gerät unter Zeitdruck
Die ukrainische Führung weist, zur Begründung ihres Anliegens an die Adresse der US-Regierung, darauf hin, dass die russischen Aggressoren seit dem Beginn des Kriegs schon Streumunition einsetzen – abgefeuert durch die Artillerie oder abgeworfen von Flugzeugen. Da habe die Ukraine das Recht, mit gleichen Mitteln zu antworten, und dies umso mehr, als allmählich absehbar werde, dass die Bestände an konventioneller Munition bei allen westlichen Partnerländern zur Neige gingen. Das bestätigt Joe Biden, das bestätigen auch die Regierungen in Westeuropa. Da fehlen die Kapazitäten für die Aufstockung der Lager – es fehlen auch, nebenbei bemerkt, jene gut 12’000 in der Schweiz hergestellten und von der Schweiz in Deutschland blockierten Geschosse für die Gepard-Panzer.
Zeit wäre notwendig, um die Lücken zu schliessen – aber Zeit hat insbesondere US-Präsident Biden nicht, denn er gerät von Monat zu Monat mehr in Erklärungsnot, weshalb denn die von den amerikanischen Steuerzahlern einkassierten Geldsummen immer noch nicht zum Durchbruch der Ukrainer gegen die russischen Aggressoren geführt haben. Warum die ukrainische Gegenoffensive nicht oder nur in sehr beschränktem Mass vorankommt – und Monat für Monat rückt in den USA der Beginn des Wahlkampfs näher. Also erklärt der Präsident seiner Nation so gut es irgendwie geht, warum er sich für die Lieferung der mörderischen Munition entschieden habe: Nur damit könnten die russischen Verteidigungslinien im Osten der Ukraine durchbrochen werden, sagte er, und er, als Präsident, habe dafür gesorgt, dass die ukrainische Führung bindend zusage, die «Cluster» nur dort einzusetzen, wo sie im Kampf gegen die russischen Truppen keine andere Möglichkeit habe und nirgendwo in dicht bewohnten Gebieten. Kommentatoren, die sich um Verständnis bemühten, ergänzten, sinngemäss: Dort, wo allenfalls Blindgänger aus den mit hunderten oder sogar mehr als tausend einzelnen Explosiv-Körpern gefüllten Geschoss-Behältern niederfielen, dort sei das Terrain ohnehin schon durch Minen verseucht.
Ein von Minen verseuchtes Land
Allerdings: Ukrainische Fachleute haben ausgerechnet, dass nur schon die Beseitigung der bis jetzt in riesigen Flächen des Landes liegenden Minen nicht Jahre, sondern Jahrzehnte in Anspruch nehmen werden. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass in den nächsten Wochen und Monaten weitere Regionen mit Minen verseucht werden – platziert nicht nur von russischen Soldaten, sondern auch von Ukrainern, um einen Vormarsch der Feinde zu verunmöglichen. Der Einsatz der Streumunition wird dabei seinen negativen Beitrag leisten.
Beim Thema «Minen» gelangt man zum nächsten Problemfeld. Es ist nicht bekannt, wie viele der im nun schon 500 Tage dauernden Krieg zur Kategorie der Land- oder Panzerminen gehören – und wie viele Antipersonenminen sind. Die Antipersonenminen sind seit 1997 international geächtet, aufgrund der so genannten Ottawa-Konvention. Sie wurde von 164 Staaten ratifiziert, allerdings nicht von den USA und auch nicht von Russland (ebenso wenig wie die Konvention, welche die Streubomben verbieten will). Die Schweiz rang sich eher mühsam zur Unterzeichnung und der Ratifizierung durch – hohe Offiziere (die so genannte Generalität) versuchten für längere Zeit, für die Schweiz jene Wischi-Waschi-Klausel durchzusetzen, welche die USA als Begründung für ihr Nein vorbrachten, dass nämlich Panzerminen allenfalls durch einen Kreis von Antipersonenminen darum herum geschützt werden sollten. Adolf Ogi beschloss dann, als Chef des Departements, fast im Alleingang das Ja der Schweiz.
Von der Eroberung der Krim weit entfernt
Tatsache aber bleibt, dass letzten Endes sowohl die Konvention zum Verbot von Streumunition als auch der Antipersonenminen global wirkungslos bleiben, so lange nicht auch die Grossmächte zustimmen. Letzten Endes gilt das auch für den Atomwaffenverbotsvertrag, der bisher von 91 Staaten unterzeichnet, aber nur von 68 ratifiziert worden ist (auch die Schweiz verweigert die Ratifizierung) – abseits bleiben u. a. die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Iran und alle anderen mittelöstlichen Länder.
Zurück zur Entscheidung des US-Präsidenten und dem Kriegsgeschehen: Gesetzt den Fall, die Ukrainer könnten dank Cluster-Bomben die jetzige russische Verteidigungslinie durchbrechen, was dann? Sehr wahrscheinlich würde die russische Armee weiter östlich einen neuen Wall bilden. Und selbst wenn der überwunden werden könnte – von der Rückeroberung der Krim, d. h. von dem jetzt eben wieder von Präsident Selenskyj deklarierten Ziel des Kampfs, wäre man immer noch sehr weit entfernt. Wahrscheinlich noch mehrere rote Linien weit.