"Die ecuadorianische Regierung hat gemäss ihrer Tradition, Verfolgte in unserem Land oder unseren Botschaften zu schützen, entschieden, Julien Assange Asyl zu gewähren", zitierte der NDR im August den Aussenminister Ecuadors. Im gleichen Bericht prangerte der norddeutsche Sender die mangelnde Pressefreiheit in dem lateinamerikanischen Land an. Präsident Rafael Correa wolle mit dem „Coup“, dem Wikileaks-Gründer Asyl zu gewähren, seinen Ruf als „Pressefeind“ reinwaschen.
Fragezeichen zum Index über Pressefreiheit
„Ecuador belegt im Index für Pressefreiheit Rang 104 von 179“, berief sich der Sender auf den „2011-2012 World Press Freedom Index der Reporter ohne Grenzen“, ein ziemlich dubioser Verein, der von Organisationen wie der George Soros‘ Open Society Foundation, der National Endowment for Democracy (NED), USAID (US Agency for International Development), dem Center for Free Cuba und der Zeta Group finanziert und vom Büro des französischen Premierministers, vom französischen Aussenministerium und von der Internationalen Organisation der Frankophonie, vom Rüstungsindustriellen Serge Dassault, dem Medienkonzern Vivendi und dem Fnac-Milliardär Francois Pinault gefördert wird. Schon vor zehn Jahren hielt es Le Monde diplomatique angesichts der selektiven Wahrnehmung von Verstössen gegen die Pressefreiheit für kaum überraschend, dass unter den „Mördern der Pressefreiheit“ (wie die Reporter ohne Grenzen Diktatoren zu nennen pflegen) „keine Namen auftauchen, die unter Umständen zukünftige Sponsoren sein können“.
Das traditionelle Asylrecht in Lateinamerika
Trotz seiner Popularität in der Bevölkerung hat Ecuadors Präsident Rafael Correa ein gravierendes Problem mit der unabhängigen Presse, was es seinen Gegnern leicht macht, ihn anzugreifen. Mit dem „Coup“, dem Wikileaks-Gründer Asyl zu gewähren, wolle Präsident Rafael Correa nur seinen Ruf als „Pressefeind“ reinwaschen, wettert die westliche Presse. Wie so häufig, wenn westliche Medien über Länder der sogenannten Dritten Welt berichten, können sich die Berichterstatter nicht von ihrer eurozentristischen Betrachtungsweise lösen und ignorieren lokale Gesetze und Traditionen. Es gibt wohl keine Weltregion, in der das Asylrecht mehr respektiert wird, als in Lateinamerika.
Schon zu Kolonialzeiten bot die Kirche Asyl. Die Kirchen hatten eine ähnliche Funktion wie heute Botschaftsgebäude, sie waren extraterrestrisches Gebiet, das Soldaten oder Polizisten nicht betraten. Noch in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts bot die Kathedrale von San Salvador verfolgten Oppositionspolitikern und Guerilleros Schutz vor den mörderischen Sicherheitsorganen und Todesschwadronen des Landes. Aus diesem Schutz der Kirchen entwickelte sich auf dem Subkontinent ein traditionelles Asylrecht.
Als Fidel Castro 1953 nach seinem misslungen Sturm auf die Moncada vor dem Batista-Regime aus Kuba fliehen musste, erhielt er Asyl in Mexiko, wo er zwei Jahre lang seine Revolution vorbereitete. Nach der Niederlage der Guerilla Ernesto „Ché“ Guevaras 1967 in Bolivien flohen einige Überlebende seiner Gruppe ins sichere Exil in Chile. Und auch die Christdemokratin Lidia Gueiler Tejada, die nach einer langjährigen Militärdiktatur als Übergangspräsidentin freie Wahlen in Bolivien vorbereiten sollte, im Juli 1980 jedoch in einem Militärputsch vertrieben wurde, fand Asyl in Chile – in Pinochets Chile. Als in den achtziger Jahren Tausende vor der blutrünstigen Militärdiktatur in Guatemala flohen, fanden sie Asyl in Mexiko.
Hassliebe zum Koloss in Norden
„Seit Kolonialzeiten lebt eine breite politische Klasse in Lateinamerika von der Auflehnung gegen europäische und vor allem nordamerikanische Übermacht“, beobachtete die "Süddeutsche Zeitung" in einem Artikel zum Thema Assange. Die 200-jährige nordamerikanische Dominanz in der westlichen Hemisphäre, wo ohne Washingtons Einwilligung nichts geschah, führte zu der überall anzutreffenden Hassliebe gegenüber dem Koloss im Norden. Sogar der langjährige Diktator Mexikos, der den USA mehr Rechte als jede andere mexikanische Regierung in seinem Land einräumte, klagte: „Armes Mexiko, so fern von Gott und so nahe bei den USA.“
Schon 1829 schrieb Lateinamerikas Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar aus Guayaquil in einem Brief an den britischen Chargé d’Affaires in Kolumbien: „Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung dazu ausersehen zu sein, im Namen der Freiheit Elend über Amerika zu bringen.“ 65 Jahre später erklärte US-Aussenminister Richard Olney offen: „Tatsächlich sind die USA praktisch der Souverän auf diesem Kontinent, und ihre Anweisungen sind Gesetz in allen Angelegenheiten, wo sie intervenieren.“
„Unsere Botschafter bei den fünf kleinen Republiken zwischen der mexikanischen Grenze und Panama… waren Berater, deren Rat in den Hauptstädten, wo sie residierten, praktisch als Gesetz akzeptiert wurde“, notierte Robert Olds, Staatssekretär im State Department, 1927 in einem Memorandum: „Wir kontrollieren die Geschicke Mittelamerikas, und wir tun das aus dem einfachen Grund, dass das nationale Interesse einen solchen Kurs diktiert… Bis heute hat Mittelamerika immer verstanden, dass Regierungen, die wir anerkennen und unterstützen, an der Macht bleiben, während jene, die wir nicht anerkennen und unterstützen, scheitern.“
Ecuadors Erfahrungen
In den letzten 50 Jahren machte Ecuador diese Erfahrungen gleich mehrmals. Im September 1960 kam eine neue Regierung unter José Maria Velasco Ibarra an die Macht. Velasco hatte mit einer vage liberalen, populistischen Wahlplattform gewonnen. Er war weder ein neuer Castro noch ein Sozialist, aber er widersetzte sich der amerikanischen Forderung, die diplomatischen Beziehungen zu Kubas Fidel Castro abzubrechen und gegen die Kommunisten im Land vorzugehen.
Um den unfolgsamen Präsidenten loszuwerden, infiltrierte die CIA Parteien, Gewerkschaften und Studentenorganisationen, heuerte den Chef des ecuadorianischen Postdienstes an, der fortan alle Briefe aus Kuba oder der Sowjetunion an den amerikanischen Geheimdienst weiterleitete. CIA-Agenten bombardierten Kirchen und Einrichtungen der politischen Rechten, um den Eindruck zu erwecken, linke Extremisten operierten im Lande. CIA-Agenten organisierten Demonstrationen, trugen antimilitaristische Banner und riefen antimilitaristische Parolen, um die Militärs zu verärgern und einen Militärputsch herbeizuführen.
Im November 1961 handelten die Generäle schliesslich, erzwangen Velascos Rücktritt und ersetzten ihn durch Vizepräsident Carlos Julio Arosemana. Doch sogar mit einem CIA-Agenten als Vizepräsident an seiner Seite war auch Arosemana den Geheimdienstlern nicht rechts genug. So setzte die CIA ihre üblichen Operationen fort, bis im März 1962 Oberst Aurelio Naranjo seinem Präsidenten ein Ultimatum setzte: Er habe innerhalb der kommenden 72 Stunden alle Kubaner des Landes zu verweisen und den linken Arbeitsminister zu feuern.
Gescheiterter Aufstand indianischer Bauern
Arosemana handelte wie befohlen und warf gleich auch noch die tschechischen und polnischen Delegationen aus dem Land. Dennoch nutzten die Militärs die Anwesenheit einer unbedeutenden, schlecht bewaffneten Guerilla als Vorwand, am 11. Juli 1963 den Präsidentenpalast in Quito zu umstellen. Arosemana musste gehen, seinen Platz nahm eine Militärjunta ein, die sofort alle kommunistischen Organisationen verbot, Kommunisten und andere Linke verhaftete, die zivilen Rechte ausser Kraft setzte und die für 1964 angesetzten Wahlen aussetzte.
40 Jahre später, am 21. Januar 2000, marschierte eine grosse Gruppe indianischer Bauern, die von Militärs und amerikanischen Ölgesellschaften aus ihren Dörfern im Amazonasgebiet vertrieben worden waren, in die Hauptstadt Quito, wo sich ihnen Gewerkschafter und einige jüngere Armeeoffiziere anschlossen.
Diese Koalition forderte eine Reihe von Wirtschaftsreformen, besetzte den Kongress und das Oberste Gericht und zwang den Präsidenten zum Rücktritt. Washington, das beinahe reflexartig auf alles reagiert, was auch nur entfernt einer linken Revolution ähnelt, schritt sofort ein. Die US-Botschaft, der für die Westliche Hemisphäre zuständige stellvertretende Aussenminister Peter Romero, der Nationale Sicherheitsberater Sandy Berger sowie der Unterstaatssekretär für Lateinamerika Thomas Pickering riefen Ecuadors Militärführung an und warnten die Generäle, Ecuador isoliere sich selbst.
Die USA würden niemals eine neue, von den Aufständischen eingesetzte Regierung anerkennen. Es werde keinen Frieden in Ecuador geben, wenn das Militär nicht den Vizepräsidenten als neues Staatsoberhaupt unterstütze. Der Vizepräsident müsse die unter seinem Vorgänger begonnenen neoliberalen Reformen und die vom Internationalen Währungsfonds geforderten politischen und wirtschaftlichen Anpassungen vorantreiben. Innerhalb von wenigen Stunden erklärten die Kommandeure der Armee, der Luftwaffe und der Marine ihre Unterstützung für den Vizepräsidenten. Das war das Ende dieser Revolution.
Correas provokative Politik
„Das erklärt unter anderem den Aufstieg linksgerichteter Regierungen von Hugo Chávez in Venezuela oder Rafael Correa in Ecuador“, erkannte die "Süddeutsche Zeitung". Correa hat sich in Washington tatsächlich unbeliebt gemacht. Schon als Finanzminister (2005) setzte er sich für wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Reduzierung der Armut ein, lehnte Ratschläge des Internationalen Währungsfonds und ein Freihandelsabkommen mit den USA ab.
Als Präsident kündigte er den Mietvertrag mit dem United States Southern Command für den Eloy Alfaro Luftwaffenstützpunkt in Manta, der somit im September 2009 auslief. Dann trat er der von Venezuelas Hugo Chávez ins Leben gerufenen Bolivarischen Alternative für Amerika bei, der neben Kuba, Nicaragua und Bolivien auch die Karibikstaaten Antigua, Dominica, Saint Vincent und die Grenadinen angehören. Danach nahm er von der Volksrepublik China einen Kredit über fünf Milliarden Dollar an. Und schliesslich verwies er die US-Botschafterin des Landes. Er hatte einer von Wikileaks veröffentlichten Depesche entnommen, dass sie ihn der Korruption bezichtigte.