«Unsere Feinde sind eure Feinde, unser Kampf ist euer Kampf, unser Sieg wird euer Sieg sein» – mit diesen Formeln versuchte Israels Premier Netanjahu, während seiner einstündigen Rede vor den beiden Kammern des US-Kongresses in Washington totale Harmonie zwischen seiner Strategie in Nahost und jener der Vereinigten Staaten zu beschwören.
Der Auftritt hatte allerdings ein paar Schönheitsfehler: Kamala Harris, die in ihrer Funktion als Vizepräsidentin eigentlich die Sitzungen des Senats (plus, in diesem Fall, auch des Repräsentantenhauses) präsidieren sollte, glänzte durch Abwesenheit. Das war wohl ein kluger Schachzug, denn jede ihrer von den Kameras eingefangenen, auch die unbeabsichtigten, Emotionen, hätten der einen oder der anderen Seite (bedingungslos pro-Netanjahu oder, im Gegenteil, skeptisch bei einzelnen Punkten) dazu dienen können, im Kaffeesatz in Bezug auf die Politik einer allfälligen Präsidentin zu lesen.
Ungebrochene US-Waffenlieferungen
Ein weiterer Schönheitsfehler beim Auftritt Netanjahus war, dass etwa 90 demokratische Abgeordnete demonstrativ abwesend waren. Solche Signale mögen für die Alltags-Berichterstattung wichtig sein, aber über die Langzeit-Beziehungen zwischen den USA sagen sie nichts aus. Die sind solide, so solide, dass sich liberale und progressive Politikerinnen und Politiker Sorgen machen. Präsident Biden hatte, im Zeitraum Dezember/Januar, den israelischen Premier zwar mit klaren Worten vor einer Militär-Aktion in Rafah, also im Süden des Gaza-Streifens, gewarnt, aber als die Bomben dann trotzdem fielen, schwieg der Präsident.
Im Mai setzte Biden die Lieferung von Bomben mit 2000 respektive 500 Pfund Sprengstoff aus (weil deren Einsatz eine Grosszahl an Todesopfern fordert), bis jetzt aber wurden bereits wieder 14’000 des erstgenannten und 6’500 des zweiten Typs geliefert. Ausserdem, das wurde durch eine Reuters-Recherche nachgewiesen, gelangten neu auch 3000 Hellfire-Boden-Luft-Raketen und 1000 zielgenaue bunkerbrechende Bomben eines anderen Typs nach Israel.
Kein Wunder, dass sich in der arabischen Welt, nicht nur bei der Hamas, mehr und mehr die Überzeugung durchsetzt: Warnenden Worten aus den USA folgen keine Taten. Nicht unter Biden, wahrscheinlich auch nicht unter einer Präsidentin Harris, und schon gar nicht für den Fall, dass Donald Trump erneut ins Weisse Haus gelangen sollte. Trump hat ja bereits angedeutet, er würde es Israel erlauben, mit allen Mitteln, die Netanjahu für notwendig hielte, im Gaza-Streifen vorzugehen.
Differenzen zu Netanjahus Politik, aber keine Konsequenzen
Weshalb belassen es US-amerikanische Regierungen, die einer Regierung wie der aktuellen unter Benjamin Netanjahu in manchen Belangen skeptisch gegenüberstehen, immer nur bei Worten und lassen ihren Ermahnungen nie Taten folgen? Es geht bei vielen strittigen Themen ja nicht um das Existenzrecht Israels, sondern nur um die politischen Ziele Netanjahus. Und die decken sich keineswegs so geradlinig mit jenen der USA, wie der israelische Premier das eben vor dem Kongress in Washington erklärt hat.
Beispiele: Nicht nur die Biden-Regierung, sondern auch eine Mehrheit in der US-amerikanischen Bevölkerung (das zeigen Meinungsumfragen immer wieder) findet, der Gaza-Krieg müsse beendet werden, auch wenn Hamas nicht völlig vernichtet werden kann. – Hauptsache, man bringt es fertig, die noch überlebenden Geiseln frei zu bekommen. Die US-Regierung liegt auch in Bezug auf einen offenen Krieg zwischen Israel und der libanesischen Hizbullah nicht auf der Linie Netanjahus – man befürchtet in Washington, dass eine Eskalation dieser Art zu einem Flächenbrand führen würde, in den auch die Nachbarländer verwickelt werden könnten.
Und auch einen Regionalkrieg mit Iran wollen die USA (zumindest so lange, als Trump nicht Herr im Weissen Haus ist) vermeiden – was sie sich wünschen ist, dass Iran davon abgehalten wird, eine Atombombe zu konstruieren und dass das Regime in Teheran sich zurücknimmt bei der Unterstützung der libanesischen Schiiten, der Huthi in Jemen und anderer Mitglieder der so genannten Achse des Widerstands.
Während vieler Jahre war das politische Establishment in Washington davon überzeugt, Israel müsse sich gegenüber den USA wegen des verlässlichen Transfers von Geld und Waffen (durchschnittlich 3,4 Milliarden Dollar pro Jahr) und auch aufgrund der politischen Protektion (fast alle Israel-kritischen Resolutionen in der Uno wurden durch das amerikanische Veto abgewehrt) wenigstens so dankbar fühlen, dass es sich gewichtigen Anliegen des Partners nicht widersetzen würde. Beispiel: Siedlungen im besetzten Palästinensergebiet. Oder, wie erwähnt, Zurückhaltung beim Krieg im Gaza-Streifen.
Zwei potente Einfluss-Faktoren: Evangelikale und Rüstungsindustrie
Da irrten US-amerikanische Politiker aber immer wieder. Netanjahu kontert Ermahnungen und Bedenken aus Washington regelmässig mit dem Argument, jegliche Einschränkung führe zu einer die Existenz Israels gefährdenden Situation. Das sagte er schon, nachdem Barack Obama in seiner «historischen» Rede vom 19. Mai 2011 in Kairo die ganze mittelöstliche Welt zur Demokratie aufgerufen und in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Zwei-Staaten-Lösung erwähnt hatte.
Netanjahu scheute sich danach nicht, sich direkt in die US-amerikanische Innenpolitik einzumischen und sich selbst für eine Rede vor den beiden Häusern des Kongresses in Washington einzuladen. Zehn Tage später vollzog Obama die Kehrtwende und erklärte, sinngemäss, ein Rückzug Israels auf die Grenzlinien von 1967 sei «selbstverständlich» nicht erforderlich.
Als Instrument zur Durchsetzung israelischer Anliegen in den USA dient, u. a., die Lobby-Organisation AIPAC, eine Interessensvertretung der jüdischen Gemeinschaft. Die im Westen, auch bei uns, verbreitete Meinung allerdings, AIPAC sei allein entscheidend bei der Beeinflussung amerikanischer Politiker, führt in die Irre: Für Abgeordnete, Senatoren, Gouverneure oder auch Kandidaten für die Präsidentschaft sind die christlichen Evangelikalen viel bedeutender. Sie bilden ein potentielles Elektorat von zwischen 70 und 80 Millionen – und wenn irgend jemand bedingungslos loyal ist mit allem, was Netanjahu tut, dann ist es diese Gemeinschaft.
Aber es gibt noch eine Pressure-Group, die für die Linie der US-amerikanischen Politik gegenüber Israel verantwortlich ist: die Rüstungsindustrie. Der Politikwissenschafter Stephen Zunes schrieb dazu: «Die Waffenindustrie spendet für jede Kongresskampagne mehr als sieben Millionen US-Dollar – doppelt so viel wie die pro-israelischen Gruppierungen.» Und beim Lobbying in den Wandelhallen im Kapitol sieht das noch krasser aus: «Allein Northrop Grumman stellt sieben Mal so viele Mittel zu Lobbyzwecken bereit wie AIPAC – und Lockheed Martin viermal so viele.» Eng miteinander verbunden sind die militärischen Establishments und die Verteidigungssysteme aber auch noch aufgrund weiterer Faktoren: Sie kooperieren in der Joint Political Military Group und der Strategic Dialogue Group.
Wo steht Kamala Harris?
All das sind Bausteine für die Erklärung, weshalb US-amerikanische Präsidenten wie Obama oder auch Biden kritischen Worten gegenüber Israel keine Taten folgen lassen. Und warum wohl auch das, was Kamala Harris jetzt eben, im Gespräch unter vier Augen, Netanjahu gesagt haben soll («Wir sind ohne Vorbehalt für Israels Recht auf Selbstverteidigung, aber was den Krieg im Gaza-Streifen betrifft, so ist es nun genug.»), ohne Konsequenzen bleiben wird.