Nach einer längeren Denkpause hat Obama nun einen Plan vorgelegt, wie er und seine Exekutive gedenken, gegen den «Islamischen Staat» (IS) vorzugehen.
Was von vorneherein feststand und bestätigt wurde, ist: Der Krieg soll nicht von amerikanischen Infanteristen geführt werden. «No boots on the ground». Was neu dazu kommt: Der Krieg wird lange dauern. Zunächst spricht man von drei Jahren, doch solche anfängliche Zeitgrenzen können leicht überschritten werden.
Weiter ist neu: es wird keinen klaren Sieg geben, jedenfalls nicht für geraume Zeit. Hauptkriegsziel ist zunächst und auf einige Dauer, IS zu schwächen, das Gebiet zu reduzieren, das von IS beherrscht wird, die bisherige Serie von Erfolgen, die das Prestige von IS gewaltig gesteigert hat, umzukehren in eine Kette von Verlusten, die das Prestige des «Kalifates» untergraben.
«Am Ende werden wir sie besiegen,» sagt Obama, doch er macht klar, dass dies ein langsamer, schrittweise fortgeführter Prozess werden soll, das Gegenteil von «Furcht und Schrecken», was damals Bush und die Neokonservativen für den Irak geplant hatten.
Syrien: vielleicht auch Bombenschläge
Offene Fragen bleiben zuhauf. Was wird mit Syrien geschehen, wo IS ja ebenfalls Territorium hält und zu regieren sucht? Obama machte nur eine vorsichtige Andeutung: Möglicherweise könnte IS auch in Syrien bombardiert werden. Man kann es voraussehen: Früher oder später wird dies höchst wahrscheinlich unumgänglich sein.
Davon, ob es dann doch möglicherweise zu Absprachen mit dem Asad-Regime kommen könnte, sprach Obama nicht. Das heisst, wenn dies versucht wird, werden es zunächst die Geheimdienste sein, die angewiesen werden, miteinander zu sprechen. Ziel solcher Absprachen müsste sein, zu vermeiden, dass die syrische Luftabwehr gegen die amerikanischen Bomber eingesetzt wird, wenn diese versuchen, den gemeinsamen Feind, IS, in Syrien zu schwächen. Gemeinsame Interessen bestehen in diesem Bereich, daher könnten Absprachen möglich sein.
Doch noch Hilfe für die Gemässigten?
Obama hat auch erwähnt, dass die syrischen Rebellen, die IS feindlich gegenüberstehen, mehr Waffenhilfe erhalten sollen. Davon ist schon oft die Rede gewesen, doch es geschah bisher nie etwas Entscheidendes. Das Haupthindernis bei der Bewaffnung der sogenannten gemässigten Rebellen dürfte sein, dass die Waffenlieferer nie sicher sein können, in wessen Händen schliesslich ihre Waffen landen. Dies kann sogar IS sein, vielleicht über islamistische Zwischengruppen, weil IS die besten Schmiergelder zahlen kann.
Die Instanzen, welche die Waffen abgeben, in der Praxis primär CIA, werden aufgefordert, dies nur zu tun, wenn sie sicher sind, dass diese Waffen in die richtigen Hände gelangen und auch in ihnen bleiben. Dies ist angesichts der Zersplitterung der zahlreichen Widerstandsgruppen und der Beweglichkeit, mit der sich die einen zusammentun, die anderen scheiden, beinahe unmöglich zu garantieren. Die bürokratische Lösung dieser Schwierigkeit war bisher, nichts oder so wenig wie möglich zu tun, um keine Fehler zu machen.
Eine möglichst weite Koalition
Das Wir, von dem Obama sprach, soll eine möglichst weit gefasste Allianz von Staaten werden, am besten nicht nur der zur Mithilfe bereiten westlichen Mächte, sondern auch arabischer Staaten, die gegenwärtig John Kerry besucht. Dazu auch, vielleicht nicht offiziell, sondern heimlich (ähnlich wie Syrien): Iran.
Voraussetzung dazu, dass auch Iran mindestens inoffiziell beigezogen werden könnte, wäre allerdings, dass der Kalte Krieg abgebaut oder beendet würde, der gegenwärtig zwischen Iran und Saudi-Arabien innerhalb der arabischen Staatenwelt geführt wird. Dazu müsste Saudi-Arabien die Hand bieten.
Wessen Stiefel am Boden?
Nicht ausdrücklich erwähnt wurde auch die Hauptfrage: Wer soll den Krieg auf dem Boden führen? Die Antwort lautet zunächst: die Kurden und die arabischen Iraker! Die Schwierigkeiten, die dabei bestehen, kennt man bereits. Wie weit sie überwunden werden können, muss die Zukunft erweisen.
Zunächst die Kurden: Sie haben eine Streitmacht, die sie auch schon gegen IS eingesetzt haben, nach ersten Rückschlägen mit Erfolg. Ihre Bewaffnung muss besser werden, und dafür wird offenbar gegenwärtig gesorgt. Zur Bewaffnung gehört auch die technische Ausbildung an dem neuen Kriegsgerät sowie die taktische Schulung.
Politische Ziele der Kurden
Doch es zeichnen sich politische Schwierigkeiten ab. Die Kurden haben im Juli, als IS bis nach Tikrit vorstiess und die irakische Armee ihre Waffen unbeschädigt niederlegte, ihre Uniformen auszog und sich zu retten suchte, die Gelegenheit benützt, um weite Gebiete zu besetzen, die den drei autonomen kurdischen Provinzen vorgelagert sind und ganz oder teilweise von Kurden bewohnt werden. Die wichtigste, aber nicht die einzige neu übernommene Region ist Kirkuk mit seinen Ölfeldern.
Dies sind Gebiete, die Saddam Hussein den westlich angrenzenden sunnitisch arabischen Provinzen angeschlossen hatte mit dem klaren Ziel, die kurdischen Gebiete möglichst zu reduzieren. Dem gleichen Zweck hatten auch Versuche gedient, in jenen Gebieten die kurdischen Einwohner zu reduzieren und an ihrer Stelle sunnitisch-arabische Neueinwanderer anzusiedeln. Oft wurden ihnen die Häuser und Felder vertriebener Kurden zugeteilt, und sie sind, manche schon seit Jahrzehnten, in deren Besitz. Die Kurden versuchen nun natürlich, ihre Landsleute dort erneut anzusiedeln. Wo die nun ausgewiesenen Araber bleiben, interessiert sie nicht sehr. Obgleich natürlich die Gefahr besteht, dass auch sie IS verstärken – wohin sonst sollen sie gehen?
Streitpunkte mit Bagdad: Land und Petrol
Auch die zentrale Regierung von Bagdad, wie immer sie zusammengesetzt sein wird, wird schwerlich mit der Inbesitznahme der kurdischen vorgelagerten Aussengebiete durch die kurdische Lokalregierung einverstanden sein. Ein nun bereits alter Streit über die kurdische Erdölpolitik überlagert die Kirkuk-Frage. Die Kurden beanspruchen, ihr eigenes Erdöl zu fördern und zu verkaufen. Die irakische Regierung sieht das Erdölministerium von Bagdad als zuständig für alles irakische Erdöl. Sie sucht Tanker, die bereits gegenwärtig mit kurdischen Erdöl beladen sind und auf den Weltmeeren kreisen, mit juristischen Mitteln daran zu verhindern, ihre Ladung zu verkaufen.
Dass die neue Abadi-Regierung um des guten Envernehmens willen diese Politik, die auf al-Maliki zurückgeht, ändern könnte, ist unwahrscheinlich. Erdöl ist ein allzu leckerer Bissen für die immer geldhungrigen Staaten. Genug haben sie nie davon.
Doch auch die territorialen Gewinne, die Kurdistan diesen Sommer gemacht hat, dürfte Bagdad schwerlich anerkennen. Von der kurdischen Unabhängigkeitserklärung ganz zu schweigen. Sie wurde im Augenblick wegen der Gefahr durch IS zurückgestellt, ist jedoch schwerlich ganz aufgegeben.
Schiitenmilizen und Kurden streiten um Amerli
Mit der Bewaffnung der Kurden durch das Ausland steht es ähnlich. Sie muss sein, um IS abzuwehren. Doch Bagdad wird stets auch daran denken, dass die gleichen Waffen für die kurdische Unabhängigkeit eingesetzt werden können, wenn IS einmal zurückgedrängt sein wird.
In Amerli, am südlichen Rande des Kurdengebietes, gibt es offenbar bereits bittere Spannungen. Der Ort mit einer gemischten Bevölkerung – Kurden, Sunniten, und schiitischen Turkmenen – wurde durch eine gemischte Streitmacht von IS befreit. Sie bestand aus kurdischen Einheiten, schiitischen Milizen und mindestens nominell auch beteiligten Einheiten der offiziellen irakischen Armee, die immer noch am wenigsten zählt, weil sie am wenigsten bereit ist, im Krieg gegen IS ihr Leben einzusetzen.
Die sunnitischen Bewohner von Amerli und der umgebenden Dörfer verliessen ihre Häuser, weil sie die Eroberer fürchteten. Sie sahen sich in Gefahr, von diesen der Zusammenarbeit mit IS angeklagt zu werden. Sie wussten, die schiitischen Milizen, denen bereits mehrere Massenmorde an Sunniten zugeschrieben werden, würden kurzen Prozess mit ihnen machen.
Es waren dann diese schiitischen Milizen, die sich in Amerli festsetzten und dort zurzeit das Regiment führen. Die lokalen, turkophonen Schiiten, die sich heldenhaft gegen IS verteidigt hatten, sehen sie als die Bevölkerung an, die sie nun zu beschützen gedenken. Die Kurden wollten sie nicht zulassen. Vielleicht aus Furcht, diese könnten die Stadt und ihr Umfeld ebenfalls zu Kurdistan schlagen.
Eine irakische Armee, wie es sie noch nicht gibt
Die anderen Stiefel, auf die Amerika zählen möchte, sind jene der offiziellen irakischen Armee. Diese Stiefel haben sich bis jetzt eher als eine Belastung im Kampf gegen IS erwiesen denn als eine Hilfe. Die irakische Armee hat bei den irakischen Sunniten, gleich ob sie zu IS gehören oder zu dessen Feinden, den Namen einer schiitischen Armee. Alle Sunniten fürchten ihre Übergriffe.
Es gibt Darstellungen des Lebens innerhalb der sunnitischen Stadt Falludscha, die seit Jahrsbeginn von IS und verbündeten Stammesmilizen gehalten wird. Die irakische Armee «belagert» Falludscha, jedoch offenbar nicht so eng, dass die Stadt ganz von ihrer Umwelt abgetrennt wäre. Die Belagerung, mehr oder weniger intensiv auch schon seit Januar, besteht in erster Line aus indiskriminierender Beschiessung der Wohnviertel der Stadt mit Artillerie und zunehmend auch mit Bomben aus irakischen Bombenflugzeugen und Helikoptern.
Zwei Drittel der Bewohner haben die Stadt verlassen. Das Drittel, das aushält, sieht IS als die Verteidiger ihrer Häuser, die «schiitische» Armee und Luftwaffe erscheinen als die Angreifer aus der Distanz. Journalisten, denen es gelungen ist, die belagerte Stadt zu besuchen, melden, viele der verbleibenden Bewohner möchten IS loswerden. IS weiss das, hat seine Mannschaften in der Stadt verstärkt und fordert von seinen Stammesverbündeten, dass sie ihre Waffen abliefern. Doch die verbleibenden Bewohner fürchten die irakische Armee mehr als IS. Ihr Ideal wäre, eine eigene Stadtregierung zu haben mit einer eigenen Polizei, ohne Besetzung durch die «schiitische» Armee. Deren Leumund ist bei ihnen so schlecht, dass sie annehmen, sie würde sie ausbeuten und verfolgen, wenn sie sich der Stadt bemächtigte.
Es braucht eine neue irakische Armee
All das bedeutet für die amerikanische Strategie: Die irakische Armee müsste völlig umgebaut werden, wenn sie als eine wirksame Streitkraft im Krieg gegen IS dienen soll. So wie sie heute besteht, ist diese Armee erstens unfähig oder unwillig zu kämpfen, es sei denn aus der Distanz, und zweitens gilt sie der sunnitischen Bevölkerung als gefährlich – vielen Sunniten offenbar als gefährlicher für sie und ihr Überleben denn IS.
Ob die kommende al-Abadi-Regierung, die noch keinen Verteidigungs- und keinen Innenminister besitzt, in der Lage sein könnte, die irakische Armee zu reformieren und wenn ja, in welchem Zeitraum, und was dann mit den schiitischen Milizen geschähe, die gegenwärtig offenbar die besseren Kämpfer stellen als die Armee, das ist offen. Man kann nur voraussehen, dass die notwendige Reform innerhalb des Gesamtzusammenhangs eines tief gespaltenen Landes, in dem keiner der Landesteile dem anderen traut, sehr schwierig werden wird.
Kein zweites Standbein neben den Kurden
Das heisst für die amerikanische Strategie: Man kann zwar davon sprechen, dass künftig die irakische Armee, neben den kurdischen Peschmerga, ebenfalls Stiefel abgeben wird, die gegen IS antreten werden. Doch ernsthaft damit rechen kann man wahrscheinlich auf geraume Zeit nicht, falls überhaupt je.
Je weniger die Armee, die ihr zugedachte Rolle spielen oder zu spielen fähig sein wird, desto mehr werden die irakischen Schiitenmilizen zum Einsatz kommen. Sie sind die einzige Streitmacht, auf die Bagdad zur Zeit zählen kann. Doch dies ist gerade, was Amerika unbedingt vermeiden wollte, als es darauf bestand, dass al-Maliki abtrete und eine neue gesamtirakische Regierung gebildet werde. Die Amerikaner wollen nicht, wie sie selbst es formulierten, als die Luftwaffe der irakischen Schiiten dienen. Mit gutem Grund nicht, denn dies würde alle Sunniten in die Arme von IS treiben. Angestrebt wird und nötig wäre genau das Gegenteil: dass es gelänge, möglichst grosse Teile der sunnitischen Bevölkerung von IS zu trennen auf die Seite von Bagdad zu bringen.
Geringe Erfolgsaussichten im Fremdbereich
Die irakische Armee und schiitische Hlfskräfte haben bisher vier Offensiven gegen die Stadt Tikrit geführt, die IS in Juni besetzte. Keine hat zum Ziele geführt. Dies zeigt, wie schwierig es für die heute als schiitisch geltenden Kräfte ist, eine sunnitische Stadt zu erobern. Die gleiche Lektion kann man aus der Lage der Städte Ramadi und Falludscha ziehen, die IS seit dem Januar hält.
In Orten mit gemischter Bevölkerung ist dies anders, wie der Fall von Amerli zeigt, wo die sunnitische Minderheit aus der Stadt floh, als IS gezwungen wurde, sie aufzugeben. Die irakischen Stiefel neigen dazu, ihre eigenen Landesteile zu verteidigen und wo nötig von IS zurückzuerobern, aber nicht jene der anderen Gemeinschaften. Ein vergleichbares Gesetz scheint auch für IS zu gelten. Bis jetzt ist das Kalifat nur in den von Sunniten bewohnten Landesteilen erfolgreich geblieben.
Langfristig heisst: Überraschungen ausgesetzt
Alles in allem: Es ist gewiss vorsichtig und berechtigt, als Plan zunächst die Reduktion von IS ins Auge zu fassen statt dessen Elimination. Doch dies bedeutet auch einen lang hingezogenen Krieg, in dessen Verlauf sich noch viele heute unerwartete Entwicklungen einstellen können. Die beiden arabischen Staaten, in deren Territorium der Krieg sich abspielen soll, ohne dass eigene Landstreitkräfte eingesetzt werden, sind politische Irrgärten voller Tücken, der Irak fast ebenso sehr wie Syrien.