Die Schlacht um Troja ist geschlagen, die Stadt zerstört, die Bevölkerung ausgeraubt, ermordet, geschändet. Wie zerbrochene Puppen liegen sie da, die Frauen der besiegten Helden, und harren der Entscheide, die das siegreiche Griechenheer über sie fällen wird.
Die mit antiken Stoffen bestens vertraute Regisseurin Karin Henkel hat die beiden Euripides-Tragödien „Die Troerinnen“ und „Iphigenie in Aulis“ in ihre Einzelteile zerlegt und sie zu etwas Neuem gefügt, dem sie den Titel „Beute Frauen Krieg“ gegeben hat. Der Titel ist Programm. Es geht um die Frauen und darum, was in Kriegen mit ihnen geschieht. Die erschreckende Erkenntnis des Abends: Es ist stets das Gleiche seit Jahrtausenden schon und geht immer so weiter bis auf den heutigen Tag. Ob in Ostpreussen oder Vietnam, in Ruanda oder in Bosnien – immer sind es die Frauen und ihre Kinder, an denen die Sieger ihre Gier auslassen und ihren Rachedurst stillen.
Beide Tragödien vereint
Helena, um die der Krieg einst entbrannte, erwartet die Steinigung. Kassandra wird erst vergewaltigt und dann dem Agamemnon zur Verfügung gestellt. Hektors Witwe Andromache, geschändet auch sie, muss zuschauen, wie griechische Schergen ihrem einzigen Kind den Schädel einschlagen. Und Hekabe, Trojas Königin, schliesslich hat zu büssen dafür, dass sie jenen Paris gebar, der mit seinem Frauenraub das kriegerische Geschehen erst in Gang gesetzt hatte. An ihrer Erniedrigung weidet sich Odysseus, der sich die alte, gebrochene Frau als Trophäe ausbedungen hat. Immer sind die Frauen Opfer der Kriege, die ihre Männer führen, und immer müssen die Unschuldigen für das bezahlen, was die Schuldigen angerichtet haben.
Karin Henkel hätte natürlich auch nur „Die Troerinnen“ auf die Bühne bringen können oder aber „Iphigenie in Aulis“, jenes Stück, das zeigt, was dem zehnjährigen Krieg vorausging: die Flaute, in die das griechische Heer geriet, kaum dass es aufgebrochen war, und das Opfer, das dargebracht werden musste, um die Götter gnädig zu stimmen. Das Opfer heisst Iphigenie, der sie opfert, ist ihr eigener Vater. Doch die Regisseurin hat sich anders entschieden und die beiden Tragödien zu einem grossen Ganzen gefügt. Dafür mag es Gründe geben. Denn wie ein böses Omen verweist das Opfer Iphigenies auf all die Opfer, die noch folgen werden. Auf die Frage allerdings, warum die Reihenfolge verkehrt und die „Iphigenie“ nach den „Troerinnen“ gezeigt werden muss, gibt die Inszenierung keine Antwort.
Lohnt sich der Riesenaufwand?
Und im wörtlichen Sinne fragwürdig bleibt auch der Entscheid der Regisseurin, das Publikum in drei Gruppen aufzuteilen und diesen die Szenen rund um Helena, Kassandra und Andromache je einzeln und in unterschiedlicher Reihenfolge zu zeigen. Damit dies funktionieren kann, wird der Text auf Kopfhörer übertragen, die Halle des Schiffbaus durch bewegliche Wände in drei Teile geteilt und das Publikum nach jeder Szene aufgefordert, die Plätze zu wechseln. Erst für die „Iphigenie“ nach der Pause ist der Raum dann wieder offen, das Publikum wieder vereint.
Ob sich dieser Riesenaufwand lohnt, darf mit Fug bezweifelt werden. Nicht nur, weil dadurch die Gesamtschau auf das von Euripides so kunstvoll gefügte Geschehen verloren geht, sondern auch weil durch das zweimalige Platzwechseln eine Unruhe entsteht, die den eben erst aufgebauten Spannungsbogen gründlich zerstört. Karin Henkel hat seinerzeit mit ihrer „Elektra“-Inszenierung auf überzeugende Weise gezeigt, welch tiefe Einsichten man aus der Aufteilung der Spielstätte in einen Aussen- und einen Innenbereich herausholen kann. In ihrem neuen Projekt „Beute Frauen Krieg“ hat sie den Einfall indes überstrapaziert und ihrer Interpretation der „Troerinnen“ mehr geschadet als genützt. So eindringlich die einzelnen Szenen sind, ihre Wirkung verpufft, wenn sie isoliert und aus dem dramaturgischen Zusammenhang gerissen gezeigt werden.
Mätzchen der Regiearbeit
Gewiss, auch Euripides hat in seinen „Troerinnen“ den Blick vom Kollektiv auf das Schicksal Einzelner gelenkt, aber er hat dabei nie den Gesamtzusammenhang aus den Augen verloren. Diese Gefahr aber besteht in Karin Henkels Inszenierung. Mit Lena Schwarz (Hekabe), Carolin Conrad (Andromache) und Dagna Litzenberger Vinet (Kassandra) stehen ihr Darstellerinnen zur Verfügung, die ihrem Leiden auf erschütternde Weise Ausdruck zu verleihen vermögen und sich in ihren unterschiedlichen Charakteren wunderbar ergänzen könnten. Das blieb ihnen leider verwehrt. Und warum Helena (Hilke Altefrohne/Isabelle Menke/Kate Strong) gleich dreifach geführt werden und im einen Fall zu allem Überfluss auch noch englisch sprechen muss, bleibt ebenso unerfindlich wie die Tatsache, dass Iphigenie im vierten und letzten Teil gar sechsfach gespiegelt durch die Szenerie wuseln muss. Dass neben diesen starken Frauen die Männer – Michael Neuenschwander als Agamemnon, Christian Baumbach als Menelaos, Milian Zerzawy als Achill und Fritz Fenne als Odysseus – weder in ihrer Geilheit noch in ihren Rachegelüsten zu überzeugen vermochten, ist zwar bedauerlich, fällt aber angesichts des stark auf Frauen ausgerichteten Stoffs weniger ins Gewicht.
Euripides hat mit den „Troerinnen“ und „Iphigenie in Aulis“ ums Jahr 410 v. Chr. herum zwei Tragödien geschaffen, die zum Eindringlichsten gehören, was bis heute über den Krieg, über seine Sinnlosigkeit, seine Grausamkeit, seine Entmenschlichung, geschrieben wurde – und dies, ohne auch nur einen Funken Hoffnung auf Veränderung aufkommen zu lassen. Alle Gräuel, die hier beschrieben werden, sind geschehen und werden immer und immer wieder geschehen. Nichts ist vorbei. Alles wiederholt sich nach dem immer gleichen Muster. Schärfer und illusionsloser, als Euripides es hier tut, wurde kaum je über die Natur des Menschen geurteilt. Seine Aussage wirkt so stark, dass ihr selbst die Mätzchen einer originell sein wollenden Regierarbeit nichts anzuhaben vermögen.