Goethe erlebte in den Bergen die Stille, er fand das Konträre zum Geräuschvollen und Lauten der Welt. Entstanden ist eines seiner schönsten Gedichte. Es konterkarierte schon damals den Zeitgeist. Ein paar fragmentarische Gedanken.
Die Tage zwischen den Jahren verweigern sich beharrlich dem Alltäglichen, auch wenn das Alltägliche fortwährend geschieht, auch wenn die dunklen Dämonen und grässlichen Gespenster da sind, die Kriege unvermindert weitergehen, das menschliche Leid nach wie vor Alltag ist.
Trotz allem wirkt das Leben ruhiger, gemächlicher, bedachter. Es entzieht sich in diesen Momenten der Hektik und dem Gewohnten. Ob wir diese Intermission, dieses Aussetzen des Getriebes, diese Art von plötzlicher Stille noch ertragen? Ob sie nicht als Störung wirkt? Gar als Provokation?
Die unglaubliche Ruhe der kleinen Kantone
Jemand, der Distanz suchte und auch Stille, war Goethe. Mindestens auf seinen drei Schweizer Reisen fand er sie, diese Ruhe. Nicht umsonst spricht er von «der unglaublichen Ruhe, in welcher die kleinen Kantone hinter ihren Felsen versenkt liegen». Diese Felsen und Firne fesseln ihn. Dreimal weilt er in den Alpen, dreimal erklimmt er den St. Gotthard (1775, 1779, 1797), diesen «helvetische Sinai», wie der Schriftsteller Peter von Matt den Pass bezeichnet – immer von Norden her, von Hospental, und jedes Mal kehrt er um und steigt wieder hinunter – ins Urserental und durch die Schöllenen zurück ins Urnerland. Beeindruckt von der Ruhe – stets auf der Reise zu sich selbst, in die eigene Innenwelt, dem «Rätsel der eigenen Existenz zu begegnen». Das Gebirge und seine Ruhe: Ort und Atmosphäre, um sich selbst zu finden, um ein anderer zu werden.
Die Gotthardlandschaft als Ideengeberin
Der Gotthard lässt ihn nicht los. Dieser «heilige Berg» ist so etwas wie Goethes Schicksalsberg. In der urgewaltigen Gotthardlandschaft fallen ihm Motive und Szenen zu. Hier spielt auch der Schauplatz jener bekannten Sage, die Goethe zum Leitmotiv seiner Tragödie Faust I macht: Fausts Wette mit Mephisto und der Einsatz seines Seelenheiles. Das kühne Schöllenenbrücklein konnte nach menschlichem Ermessen nur mit höllischer Hilfe erbaut werden – eben: ein Teufelswerk. Und für diesen Teufelspakt forderte der Fürst der Finsternis die Seele des Ersten, der sie überquerte. Die witzigen und pfiffigen Urner schickten der Sage nach einen Geissbock über den Steg. Noch 1831, als Goethe seinen «Faust II» fertigstellt, zehrt er vom Gotthard. Ein bewegtes langes Leben lang.
Die Unruhe der Zeit
Goethes Leben führt uns ans Ende des Ancien Régime und in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine geistig, politisch und ökonomisch heftig bewegte Zeit des Aufbruchs – mit der Aufklärung, der Amerikanischen Revolution, dann der Französische Revolution mit ihrer rebellischen Dreifaltigkeit von «Liberté, Egalité, Fraternité» und mit Napoleon – ein tektonisches Erdbeben. Die revolutionäre Lava des politischen Umbruchs wälzt sich über den ganzen Kontinent. Sie drückt 1798 auch die Alte Eidgenossenschaft weg, dieses morsch gewordene Gebilde der 13 Alten Orte.
In diese Zeitspanne hinein spielt ein gewaltiger technischer Umbruch: die erste industrielle Revolution. Es zeigt das Überlappende und Gleichzeitige im Strom der Geschichte. Eine neue Epoche bricht an und eine alte Ära weg. Von Ruhe keine Spur.
Die Magie der Bergesstille
Darum wohl empfindet Goethe die Ruhe in den Bergen auch als Kontrast. Sie beeindruckt ihn auf seinen drei Schweizer Reisen, vor allem als er 1779 mitten im Nebel und Schneetreiben die tief verschneite Furka überquert: ein winterlicher Weg von Münster im Goms nach Realp im Urserental, ein Marsch über 40 Kilometer und 2‘000 Meter Höhendifferenz.
Eines fällt Goethe beim Gehen immer wieder auf: die grosse Stille, die grosse Einsamkeit: das Gebirge als Landschaft erleben und auf den stummen Einfluss der Berge hören. Sie tragen – mindestens damals – nichts Lautes in sich. Goethe sucht diese Magie, sucht diese Bergesstille – ganz bewusst. Im Anblick der Berge und im Eindruck ihrer beeindruckenden Ruhe und Majestät entstehen in ihm, als Ausdruck des Erlebten, gehaltvolle Gedanken und Gedichte. Dazu gehört vielleicht eines seiner schönsten Gedichte, sein «Wandrers Nachtlied»:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Das Gedicht als Nachhall
Die erhabene Ruhe über den Gipfeln ist ein Nachklang auf die Stimmung, die Goethe in den Hochalpen empfunden hat, ein Nachhall auf seine Eindrücke vom grossen Schweigen in den Bergen. Er und seine Begleiter sind ja neun bis zehn Stunden unterwegs – in dieser «unglaublichen Ruhe» der Berge.
«Über allen Gipfeln ist Ruh’.» Wie sehr man sich das für die globalen Krisengebiete wünscht: Ruhe und Frieden! Die Gedichtzeilen konterkarieren die aktuellen Zeitläufte. Das Geschehen könnte von Goethes Impression nicht weiter entfernt sein. Leider. Da bleibt eigentlich nur Kants Pflicht zur Zuversicht. Mindestens im Mikrokosmos unseres persönlichen Wirkens. Viel mehr können wir wohl nicht tun.