Der Hauptgrund ist die schiere Indifferenz, mit der der gewaltsame Tod in Indien hingenommen wird.
Letzte Woche war es wieder einmal so weit. Beim Zugang zur Hafenmole in Mandwa, meinem Eingangstor zur Stadt, standen Barrikaden. Wir wurden zum Wachturm der Polizei geschleust, das Gepäck wurde geöffnet, dann die obligate Betastung. Bei der Ankunft am ‚Gateway of India‘ dasselbe Prozedere: Herumfummeln im Rucksacks, dann weiter zur Leibesvisitation, das Suchgerät piepst wie wild – ‚not to worry!‘, der Nächste bitte.
In der Warteschlange hörte ich einen Mann den Polizisten verärgert anknurren: „Fighting yesterday‘s war again? Good luck to you!“. Dann, sarkastisch im Ton: „....and to us!“. Jedermann wusste, worauf der Hohn abzielte: Es war der Tag vor dem 26. November, dem fünften Jahrestag der Terroranschläge in Bombay – gegen den Hauptbahnhof, das ‚Leopold‘s Cafe‘, das israelitische Gastheim, Hotel Oberoi und eben das Taj Mahal Hotel, das sich hinter dem Gateway majestätisch in die Höhe hob.
Symbolik ist wichtiger als anderes
‚Als ob die Terroristen wieder dieselbe Zielscheibe suchten!‘, dachte auch ich, verärgert über das nutzlose Sicherheitsgehabe. Ich erblickte das moderne Polizeiboot, das demonstrativ im Brackwasser neben dem Hotel dümpelte. Zwei Tage später las ich in der Zeitung, dass die Stadtpolizei sieben solche Boote angeschafft hat, zur Absicherung des innersten von drei Sicherheitskordons vor Angriffen aus dem Meer. Doch nur zwei seien in Betrieb, die anderen steckten im Trockendock fest, wegen Defekten und dem Mangel an ausgebildetem Personal.
‚Demonstrativ‘ ist das Merkwort. Das einsame Polizeiboot sollte nicht abschrecken, sondern die vielen tausend Besucher einlullen, die auf dem grossen Vorplatz herumstanden und sich vor dem illustren Hintergrund ablichten liessen. Wie so oft in Indien ist Symbolik wichtiger als Handlungsbereitschaft. Dasselbe gilt für die Zugangskontrolle zum ‚Gateway‘-Areal, dem meistbesuchten Touristenziel der Stadt. Wie schleust man 50‘000 Besucher durch zwei Türrahmen, die pausenlos Alarm schlagen, und untersucht dahinter jeden Rucksack und öffnet jede Handtasche? Das ergäbe eine kilometerlange Warteschlange und Stunden des Ausharrens, sodass man ebenso gut den ganzen Platz sperren könnte. Aber das will man auch nicht, denn dies käme einem Sieg der Terroristen gleich.
Seelenruhig in die Menge geschossen
Dasselbe Dilemma spielt sich daneben beim Eingang des Taj-Hotels ab. Jedes gute Hotel heisst seine Gäste mit offenen Armen willkommen. Doch was ist, wenn die offenen Arme jene der Gäste sind, die sich betasten lassen müssen, während ihr Gepäck den zeitgenössischen Weg aller menschlichen Begleitgegenstände nimmt – in den Scanner?
Nichts drückt den Zwiespalt drastischer aus als die Szene, die sich am Abend des 26.November 2008 vor demselben Eingang abgespielt hatte. Fünfzehn Minuten zuvor waren im ‚Leopold Cafe‘, nur hundert Schritte hinter dem Hotel, die ersten Schüsse gefallen, die ersten Handgranaten explodiert. Angstschreie übertönten den Verkehr, Gäste und Fussgänger stoben auseinander, einige schleppten Verwundete mit, und viele sahen im nahen Luxushotel den bestmöglichen Schutz.
Es war der Zeitpunkt, in dem vor dem Eingang Hochbetrieb herrschte. Hochzeitsgäste kamen an, Eingeladene zu offiziellen Nachtessen, Gäste, die von einem Abendspaziergang zurückkehrten. Und nun drängten sich verängstigte Gesichter dazwischen, Leute mit blutüberströmten Kleidern, ... und zwei junge Männer. Sie trugen schwere Rucksäcke, standen wie die Anderen geduldig vor den Drehtüren, bis auch sie in die Hotel-Lobby geschleust wurden. Dort nahmen die Zwei ihre Rucksäcke ab, zogen Kalashnikovs hervor, und begannen seelenruhig in die Menge zu schiessen, zu der sie eben noch gehört hatten.
Sich als „gute Terroristen“ profilieren
Ich entnehme dieses Detail dem Buch von Adrian Levy und Cathy Scott-Clark, das marktgerecht auf den 26.November in den Buchhandlungen auflag. Es heisst ‚The Siege‘ und berichtet im Detail über die drei Tage des Schreckens, die den ersten Salven in der ‚Tower Lobby‘ folgten. Die anderen Schauplätze werden auch erwähnt, doch das Hotel ist der zentrale Schauplatz des Buchs, so wie es auch jener der Terrorgesellen und ihrer pakistanischen Fadenzieher war. Die Luxusabsteige war die ideale Kulisse, die alle Träume und Vorurteile eines weltweiten TV-Publikum bedienen würde – die Welt der Reichen, des Kapitals, des Genusses; aber auch, ebenso hassenswert für die Terroristen, eine Welt von Gastlichkeit, Offenheit, Globalität.
Das Buch ist packend geschrieben und zeichnet minutiös die 58 Stunden ‚Belagerung‘ nach, die wachsende Beklemmung und Verzweiflung der Gäste, die heroischen Versuche des Personals, Gäste zu retten, die intime Kenntnis der Terroristen dieses Labyrinths von Hotel. Und es zeichnet, mit bisher nie gesehener Stringenz, die Vorgeschichte in Pakistan nach: Der Zwang für die kaschmirische Untergrundorganisation ‚Lashkar e-Tayba‘, die, von der Kaida wegen ihrer Abhängigkeit vom pakistanischen Militär-Geheimdienstes ISI verachtet, sich dringend als ‚gute Terroristen‘ profilieren musste. Und das Glück, in David Headley einen Mann zu finden, der die Gelegenheit schuf.
Indische Inkompetenz
Headley war ein pakistanisch-amerikanischer Doppelbürger und Drogenschmuggler. Um sich aus der Schlinge des DEA zu ziehen, bot er sich der CIA als Agent auf ihrer Suche nach Osama bin Laden an, und dem ISI als reuiger Muslim und US-Redneck, die perfekte Maske, um mit einem Touristenvisum Bombay auszuspionieren. Was er denn auch tat, immer gezielter. Und während die Lashkar den detaillierten Plan des Hotels studierten, schlossen die Amerikaner Augen und Ohren, weil Headley zu wichtig war, um ihn aus dem Verkehr zu nehmen.
Das Buch ist aber auch, und das ist deprimierend, eine lange Geschichte indischer Inkompetenz, von der Indifferenz, mit der Geheimdienst-Informationen über einen bevorstehenden Terrorschlag gegen Bombay (und seine Hotels!) vernachlässigt wurden, über die Konfusion und absolute Inkompetenz, mit der der Staat auf den Anschlag reagierte, bis zu den Versuchen, diese im Nachhinein zu verwischen.
Keine Lehren gezogen
Es berichtet vom ‚Quick Response Team‘ der Polizei, das über ein Jahr lang keine Schiessübungen mehr gemacht hatte, von den ‚Striking Mobile Teams‘, mit alten Karabinern ausgerüstet, die nach jedem Einsatz die Patronenhülsen sammeln mussten, um zu beweisen, wie viele Schüsse sie abgegeben hatten. Keines der beiden war zur Stelle. Als einige mutige Polizisten Stunden nach dem Beginn der Aktion in den ‚Heritage Wing‘ vordrangen, baten sie um Erlaubnis, das Zimmer zu stürmen, in das sie die vier Terroristen verschwinden sahen. Polizeichef Gafoor verbot es ihnen, da die Anti-Terror-Truppe Vortritt habe.
Doch diese sass noch in Delhi, hatte noch keinen Marschbefehl erhalten und fand dann kein Flugzeug, als sie auf dem Flughafen eintraf, und blieb anderntags im Verkehr von Bombay stecken. Es sollte achtzehn Stunden dauern, bis ihr Einsatz begann – und dann waren die meisten der 166 Opfer bereits tot. Nur noch eins ist schockierender: die Vertuschung dieses Debakels, und dass daraus kaum Lehren gezogen wurden.
So wird in Indien denn auch weiterhin bei Terrorschlägen gestorben werden, mit grosser Leichtigkeit und noch grösserer Indifferenz. Und jene, die davonkommen, werden sich weiterhin klammheimlich freuen, wenn der rülpsende Polizeibeamte bei einer der vielen Personenkontrollen wegschaut, statt ihr Gepäck zu öffnen.