Ireneo Funes, der traurige junge Held in Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“, besitzt nach einem Reitunfall eine Gabe, die eher wie ein Fluch auf ihm lastet. Er ist gelähmt, leidet unter einer Art von „Total Recall“. Funes lernt mühelos neue und alte Sprachen, prägt sich jede autobiographische Einzelheit ein, liest Plinius im Original und kann komplexe visuelle Szenen nahezu fotografisch erfassen. „Ich vermute, dass er zum Denken nicht sehr begabt war“, urteilt Borges über sein Geschöpf: „Denken heisst, Unterschiede vergessen, heisst verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast von unmittelbarer Art.“
Die Erzählung erschien erstmals 1942. Und sie mutet auf unheimliche Weise wie eine Vorwegnahme unseres Zeitalters an. Funes: das ist Google in Menschengestalt; das unauslotbare Dendritenlabyrinth der Maschine (des pathologischen Menschen). Mutieren wir alle – aufgerüstet mit dem digitalen Globalgedächtnis – mehr oder weniger zu Menschen wie Funes?
Die Erinnerungsmaschine
Wie immer treten bei grossen technischen Schüben die Rosa- und die Schwarzseher auf den Plan. Vannevar Bush, ein Pionier des Analogrechners, beschrieb schon 1945 eine perfekte Erinnerungsmaschine namens „Memex“ („memory extended“), die dem Menschen nicht nur Zugang und Herrschaft über das Wissen aller Zeiten verschaffe, sondern in das er sich auch weiterhin einschreiben könne. Heute führt der Computerpionier Gordon Bell dieses Projekt auf digitaler Basis weiter. Sein Ziel ist „Lifelogging“, das Verewigen seines Lebens auf einem Laptop: Bilder, E-Mails, Texte, Telefonanrufe, aufgezeichnete Gespräche, ein riesiges Sammelsurium an biografischen Daten. „Ich glaube, das Bestreben des Personal Computer ist, das eigene Leben einzufangen“, sagte er in einem Interview: „Ich stelle mir das System als ein persönliches Gedächtnis vor. Und ich fühle mich ungemein frei, all die Information da zu haben.“
Panoptische Phobie
Dieser technologischen Zuversicht steht ein wachsendes politisches Unbehagen entgegen. Man könnte es als panoptische Phobie bezeichnen, in Anlehnung an Jeremy Benthams „Panopticon“, einem Prinzip des Gefängnisbaus im 19. Jahrhundert, in dem die Wärter die Insassen kontrollieren, ohne dass die Insassen es merken. Die Befürchtungen gehen dahin, dass wir das Überwachtwerden tendenziell verinnerlichen: Ich handle so, als ob ich beobachtet würde, auch wenn ich nicht beobachtet werde. Heute zeichnet sich ja nicht nur ein Panopticon über den Raum, sondern auch über die Zeit ab. In der digitalen Öffentlichkeit sind unsere archivierten Worte und Taten über Generationen hinweg verfügbar. In einer Art von vorauseilender Wachsamkeit könnten wir uns daher zweimal überlegen, was wir sagen und was wir tun. Genau dann aber, wenn sich solche Selbstzensur unserem Denken und Handeln aufmoduliert, ist das digitale Panopticon gesellschaftliche Realität geworden.
Digitales und analoges Erinnern
Über Zehntausende von Jahren hinweg galt Erinnern als Kulturleistung par excellence. Seit den Felsmalereien von Altamira lagert der Mensch die Gedächtnisfunktionen seines Gehirns aus in externe Speicher, in Bild, Ritual, Spiel, Zeremonie, Musik, Theater, Schrift, Film, Architektur, Werkzeuggebrauch. Kulturen sind kollektive, verkörperte Gedächtnisse.
Das digitale Erinnern beruht im Grunde auf einem einzigen genialen Trick: der Übersetzung von einem vieldeutigen in einen eindeutigen Code. Analoge Erinnerungsmedien – Sprache, Stein, Holz, Wachstafel, Papier, Textilien, Vinylscheiben, Magnetbänder – sind empfindlich abhängig von den Eigenschaften der Materie. Analoge Information verfällt, erodiert, verwittert: sie „verrauscht“ mit der Materie, die sie trägt. Weil die digitale Codierung nur auf einer simplen Option – ist eine Makierung da oder ist sie nicht da – beruht, sind binäre Spuren materieunabhängiger und weniger rauschanfällig als die analogen. Zwar bringt die Übersetzung eines Musikstücks in binären Code Qualitätseinbussen mit sich, aber das einmal digitalisierte Musikstück kann ich tausendmal kopieren, die Qualität bleibt immer die gleiche, während mein Abspielgerät und meine Ohren sich abnutzen. Und das ist das Grundmerkmal des neuen digitalen Globalgedächtnisses im Vergleich zum natürlichen Gedächtnis: es nutzt sich viel weniger ab. Es wächst und wächst.
Die Qual des Erinnerns
Es gibt viele Gründe, warum Vergessen wichtig ist. Ich möchte hier einen besonders hervorheben: Vergessen schafft Spielraum, freien Platz im Kopf. Menschen mit aussergewöhnlichem Erinnerungsvermögen – es gibt sie tatsächlich – sind Gefangene ihrer Vergangenheit. Der Journalist Joseph Foer berichtete 2007 im „National Geographic“ über eine Kalifornierin mittleren Alters, die sich detailscharf an ihre Biografie seit dem 11. Lebensjahr erinnert, nicht im Sinne verflossener Tage, sondern in quälenden Einzelheiten. Sie erinnert sich, was sie vor drei Jahrzehnten zum Frühstück ass, was sie damals in den Fernsehshows sah, wer sie am Sonntag, 3. August 1986 um 12:34 Uhr anrief. Sie erinnert sich an Weltereignisse, triviale Einkaufsgänge, an das Wetter, ihre Gefühle. Sie lebt wie Funes in permanent gegenwärtiger Vergangenheit, die buchstäblich wie ein Film ihren Alltag überzieht. Die Frau bezeichnet sich selbst als „verrückt“.
Information hat eine zeitliche Dimension
Anomalien spiegeln den Normalfall: Wir sind von Kopf bis Fuss auf das Vergessen eingestellt, als Filter gegen Informationsüberflutung. Ein beliebig grosses Gedächtnis könnten wir mit einer Riesenmasse an Einzelheiten vollstopfen. Aber die Knappheit des Speicherraums schafft überhaupt erst die Notwendigkeit des Verknüpfens, Weglassens, Abstrahierens: der Intelligenz. Ohne Vergessen würden wir unter der Last der Einzelheiten kollabieren. Hinzu kommt ein Weiteres. Wem ist nicht schon beim Betrachten alter Bilder die Frage aufgestossen: Bin ich das noch? Eine solche Frage taucht auf, weil Information eine zeitliche Dimension hat. Das digitale Gedächtnis negiert diese Zeitdimension. Es kann die persönliche „Aufräumarbeit“ behindern, indem es uns immer wieder mit Relikten aus der Vergangenheit konfrontiert, die man eigentlich abgestossen zu haben glaubt. Es paralysiert uns wie Ireneo Funes mit Einzelheiten.
Unser Gedächtnis ist kein Aktenschrank, in den man einfach Informationen hineinlegt und wieder herausnimmt – „save and retrieve“. Unser Gedächtnis ist ein hochadaptives neurosensorisches System, das sich und die verwahrte Information ständig verändert, sich permanent im Wechselspiel persönlicher Vorlieben, Abneigungen, Erwartungen rekonstruiert. Bewusstes, aktives Vergessen bedeutet deshalb, dass wir Information interpretieren, beurteilen und gewichten und uns nicht einfach passiv mit Daten mästen. In diesem Sinn machen zu viele Daten aus uns unfreie, urteils- und entscheidungsunfähige Menschen.
Vergessenskunst
Brauchen wir also eine „ars oblivionalis“, eine Vergessenskunst, wie sie Umberto Eco vor über zwanzig Jahren als Beispiel einer paradoxen Wissenschaft vorgestellt hat? Ob paradox oder nicht, die Frage gewinnt gerade im Zeitalter der Erinnerungsmaschinen an Bedeutung. Wir werden zusehends zu Bürgern zweier Gesellschaften, einer materiellen und einer immateriellen. Die juristische Debatte über Privatsphäre, Urheberrechte, Datenschutz in der digitalen Öffentlichkeit ist im vollen Gange. Auf der technischen Ebene wird die Möglichkeit diskutiert, Information mit einem Verfallsdatum zu versehen. Vom Informatiker Ed Felten stammt der Vorschlag eines informationsneutralen Lebensstils. Also etwa gleich viel Information zu speichern wie zu löschen.
Die Koevolution von menschlichem und künstlichem Gedächtnis
Zunehmend müssen wir uns aber auch mit unserem gewandelten Technik-Verhältnis beschäftigen. Mensch und Technik entwickeln sich in einer Koevolution. Wenn wir heute vom „Nutzer“ sprechen, dann handelt es sich nicht einfach mehr um den Menschen, sondern um ein Hybrid aus Mensch und Netz. Wir tragen das Netz in der Hosentasche. Und das babylonische digitale Archiv hat die Randbedingungen des Erinnerns und Vergessens für dieses Hybrid verändert. Die Entlastungen des zum Alltag gewordenen Geräts prägen uns, auf eine oft unbewusste Weise. Umso nötiger wird daher seine Bewusstmachung. Es mag trivial klingen: Nicht das Netz entscheidet, was eine wichtige Information ist, sondern der medienkompetente Nutzer. Und zu dieser Kompetenz zählt das Vergessen.
Der Wegwerfer
Spätestens hier höre ich den Einwand: Aber wünschen sich denn Hinterbliebene von Opfern politischer Verbrechen (und nicht nur sie) nichts sehnlicher, als dass die Vergangenheit die Täter einholt? Gewiss doch, wie sich nicht wenige Straftäter genau so sehnlich wünschen, dass der Mantel des Vergessens ihre Vergangenheit umhüllt, damit sie eine zweite Chance erhalten. Es geht, mit andern Worten, keinesfalls darum, Erinnern und Vergessen gegeneinander auszuspielen, sondern darum, im Horizont maschineller Intelligenz die menschliche Intelligenz neu zu verorten.
Heinrich Böll hat in seiner kleinen Erzählung „Der Wegwerfer“ einen vordigitalen Menschentypus skizziert, der eigentlich wie geschaffen ist für unser Zeitalter der totalen Erinnerung. Die Tätigkeit dieses namenlosen, unscheinbaren Herrn besteht darin, für eine Versicherungsgesellschaft alle Postzugänge vorzusortieren und die überflüssigen umgehend zu entsorgen. Der Wegwerfer, ein gebildeter Mann, der sich die exakte Kunst des Wegwerfens in einem peinlichen Lehrgang selbst beigebracht hat, war aber früher selber ein leidenschaftlicher, ein wahnhafter Sammler gewesen. Er hatte alles zusammengerafft, was ihm in die Hände kam: Reiseprospekte, Weinangebote, Kunstkataloge und anderes mehr, bis er, mit siebzehn, seiner ganzen Sammlung überdrüssig geworden war und sie an einen Altwarenhändler verkaufte. Vielleicht braucht unser Zeitalter, in dem das Sammeln von Informationen zu einem Kinderspiel geworden ist, eine „erwachsene“ Wegwerfkunst. Man muss sich den Wegwerfer als glücklichen Menschen vorstellen.