Christlicher Glaube ist vielen fremd geworden – was keine schlechte Voraussetzung ist, um sich mit ihm zu beschäftigen. Einblicke in diese Religion gehören zum Verständnis der westlichen Kultur. – Zwei Bücher von Jörg Lauster, dem Münchener Theologen, bahnen intellektuelle Zugänge zum Christentum.
Wir stehen im österlichen Feiertagszyklus: Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern. Das ist nicht nur eine dichte Folge christlich markierter Tage, sondern vor allem die Periode des Kirchenjahrs, die den Kern dieser Religion rituell vergegenwärtigt.
Für die meisten Menschen aber sind es einfach irgendwelche Feiertage. Das Wissen um den Sinn dieser Feste hat sich in weiten Teilen der Gesellschaft verflüchtigt. Dass es um Tod und Auferstehung des Jesus von Nazareth geht, mag noch von ferne bekannt sein. Inwiefern diese Geschichten aber das Zentrum der christlichen Religion bilden – und vor allem: was dieser Kern eigentlich besagt –, dürfte hingegen nur einer Minderheit einigermassen vertraut sein.
Zerrbilder und profundes Unwissen
Was an Wissen und Urteilen über das Christentum heute geläufig ist, scheint von anderer Art zu sein. Man betrachtet diese Religion weitherum als eine sinnenfeindliche, den Menschen klein machende Lehre, die mit einem Übermass an Moral (Nietzsche nannte sie eine Sklavenmoral) und einem eklatanten Mangel an Humanität (Kreuzzüge! Inquisition! Hexenverfolgungen! Kindsmissbrauch!) eine Spur der Verheerungen durch die Geschichte gezogen hat. Obschon einzelnen christlichen Exponentinnen und Exponenten eine menschenfreundliche Gläubigkeit zugebilligt wird, gelten diese eher als Ausnahmen denn als exemplarische Figuren des Christentums.
Es sind einzelne Erscheinungen der Christentumsgeschichte, die deren gängiges Bild zeichnen. Gegenüber den Gehalten und Motiven dieser Religion aber, die ja tief in die Sedimente der abendländischen Kultur eingesenkt sind, herrscht zumeist profundes Unwissen. Dieses paart sich vielfach mit Gleichgültigkeit – was wenig verwundert, weil Unbekanntes schwerlich Interesse wecken kann. Solches festzustellen, ist weder Ausdruck von Kulturpessimismus noch moralisierende Klage; es beschreibt schlicht den Sachverhalt eines weit verbreiteten Mangels an Kenntnissen.
Immerhin aber steckt in derlei Mängeln ja möglicherweise ein Antrieb: Wer sich klar wird, über etwas nicht genügend Bescheid zu wissen, könnte auf die Idee kommen, Information und Aufschluss zu suchen. Google, Nachschlagewerke, Fachliteratur und Gewährsleute stehen bereit. Der Verlag C. H. Beck hat das Verdienst, mit seiner mittlerweile mehrere hundert Titel umfassenden und laufend anwachsenden Reihe «C. H. Beck Wissen» für alle möglichen Gebiete ein breites und kompetentes Angebot auf den Buchmarkt zu bringen. Auch das Thema Religion hat in der Reihe seinen Platz. Neu darin erschienen ist das Bändchen «Das Christentum» des Münchener Ordinarius für Systematische Theologie, Jörg Lauster.
Vorgehen von aussen nach innen
Lauster schafft das Kunststück, auf nicht viel mehr als hundert Seiten eine konzise Einführung zu geben, welche auch die Tiefen der christlichen Lehre anvisiert. Er arbeitet von aussen nach innen, beginnend mit einem geschichtlichen Abriss von Entstehung und Wandlungen der grössten Weltreligion, einem Überblick der so verschiedenen Christentümer der Gegenwart und einer Phänomenologie der christlichen Religion mit ihrer Innerlichkeit, ihren Institutionen, ihren Riten und schliesslich ihren kulturellen Ausformungen. In diesen Kapiteln I und II, die etwa zwei Drittel des Textes aumachen, herrscht ein nüchtern lexikographischer Stil.
Im letzten Drittel des Bändchens (Kapitel III: Motive des Christentums und IV: Das Jenseits als die Kraft des Diesseits) ändert sich der Ton. Das Beschreiben reichert sich zusehends an um die Dimension des Erklärens. So bleibt Lauster beispielsweise bei der Darstellung des Christentums als Offenbarungsreligion nicht beim distanzierten Beschreiben stehen, sondern erklärt den Begriff der Offenbarung wie folgt:
«Menschen sprechen von Offenbarung, wenn sie sich von einer Dimension angesprochen, ergriffen und berührt fühlen, die sie als übernatürlich und göttlich verstehen. Offenbarungen sind Erfahrungen, die als rätselhaft, von ’woandersher‘ ausgelöst, erlebt werden. (…) ’Gott‘ ist der Name, um dieses ’Woandersher‘ zu bezeichnen.»
Den Widersprüchen abgetrotzter Optimismus
Ein Glanzstück solch erklärender Beschreibung liefert Lauster bei der christlichen Sicht des Menschen, in der die religiösen Begriffe der Gottebenbildlichkeit und der Sünde eng miteinander verschränkt sind: «Die Möglichkeiten der Menschen, ihre Bestimmung zum Guten zu verwirklichen, beurteilt das christliche Menschenbild sehr realistisch. Der Gottebenbildlichkeit wirkt die Kraft der Sünde entgegen. Gemeint ist die existentielle Tragik des menschlichen Daseins. Mit ’Sünde‘ ist die Erfahrung gemeint, dass Menschen dauerhaft das verfehlen, was sie sein könnten. Dabei scheitern sie nicht allein an den Umständen einer widrigen Welt, sondern immer auch an sich selber.»
Dass dieses Menschenbild nicht in einer Psychologisierung der existentiellen Fragen aufgeht, zeigt Lauster mit dem grossen Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung: Gott lasse den Menschen nicht mit seinem Dilemma allein, sondern habe ihn in eine Welt gestellt, die als Schöpfung sich in einem Prozess der Vervollkommnung befinde. «Schöpfungsglaube ist Widerstand gegen das Böse in der Welt. Mit dem Begriff der Schöpfung benennt die christliche Theologie einen der widersprüchlichen Lebenserfahrung abgetrotzten Optimismus, dass die Welt zum Guten hin geschaffen ist.»
Doch dieses Gute kommt nicht «in dieser Welt» an sein Ziel: «Das Christentum ist nicht nur eine Erlösungs- und Gnadenreligion, sondern auch eine Jenseitsreligion.» Der entscheidenden Frage, was damit gemeint sei, widmet Lauster das ganze Schlusskapitel mit dem thesenartigen Titel «Das Jenseits als die Kraft des Diesseits». Negativ formuliert: «Das Christentum glaubt nicht an den Himmel auf Erden.» Es macht einen fundamentalen Vorbehalt, was die Erfüllung seiner Hoffnung betrifft. Indem es diese dem Jenseits vorbehält, macht es die christliche Lebens- und Weltgestaltung zu einer Aufgabe, die niemals ganz und endgültig zu bewältigen ist. Lauster bringt es auf die Formel: «Die Welt ist nicht genug.»
Christliche Ethik bleibt im Vorläufigen, setzt sich also mit der realen unerlösten Welt auseinander. Sie hat dank dem biblischen Erbe «ein waches Auge für soziale Ungerechtigkeit». Ausgehend von den christlichen Soziallehren hat sie im 20. Jahrhundert an der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft mitgewirkt und in der Gegenwart die Vorstellungen von «Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit» mit hervorgebracht.
Gerechtigkeitsfragen im Anthropozän
Gerechtigkeitsfragen haben mit dem Übergang der Menschheitsgeschichte ins Anthropozän – die erdgeschichtliche Phase der vom Menschen bewirkten globalen Naturveränderungen – eine neue Schärfe bekommen: Die Anforderungen gerechten Verhaltens gegenüber kommenden Generationen und anderen Lebewesen sind universell. Für eine christliche Antwort auf diese historisch neue Situation muss der Grundzug der Dankbarkeit gegenüber Leben und Welt bestimmend sein.
Der Protestant Lauster rühmt in diesem Zusammenhang die Enzyklika «Laudato si’» (2015) von Papst Franziskus als «grossen Wurf». Deren Impulsen für eine veränderte Praxis liege die entscheidende religiöse Annahme zugrunde, dass Mensch und Welt in das Geheimnis des Universums eingebunden seien, woraus eine universale Empathie hervorgehe. Die Enzyklika mache aber auch deutlich, dass die christlichen Tugenden des Mitleids und der Dankbarkeit zu einer Umkehr bei der einseitig auf Wachstum gerichteten Ökonomie führen müssten.
Lausters Einführung ist allgemein verständlich, aber nicht simpel. Sie verlangt eine konzentrierte Lektüre, vor allem in den Kapiteln III und IV. Die Kürze bringt eine Dichte mit sich, die das Lesen vielleicht verlangsamt, es dafür aber mit reicher Substanz belohnt. Ein nach Themen gruppiertes Literaturverzeichnis gibt Interessierten klug ausgewählte Empfehlungen für weiterführende Fachbücher.
Kulturgeschichte des Christentums
Vom gleichen Verfasser ist 2020 in neu bearbeiteter Auflage eine Kulturgeschichte des Christentums erschienen. Lauster hat mit seinem kulturgeschichtlichen Ansatz eine neuartige Sicht der christlichen Religion entwickelt. Sein viel gelobtes Opus magnum überzeugt mit umsichtiger Auswahl und Gewichtung der Themen, mit weitem Blick auf die Interdependenzen von Kultur und Religion sowie mit tiefgründigen Interpretationen in den exemplarischen Einzelbetrachtungen kultureller Manifestationen.
Der kulturhistorische Blick auf das Christentum ist hinsichtlich des Verständnisses der religiös-kulturellen Phänomene und ihrer Zusammenhänge ausgesprochen fruchtbar. Lauster hat das intellektuelle Potential dieses Ansatzes überzeugend vorgeführt und zum Nutzen der Leser ausgeschöpft. Seine Kulturgeschichte des Christentums ist ein ungemein kluges, spannendes und lehrreiches Buch.
Die empfohlenen Bücher von Jörg Lauster:
Das Christentum. Geschichte, Lebensformen, Kultur; C. H. Beck Wissen 2022, 128 S.
Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. C. H. Beck 2020, 734 S.