Wer Vorzeigeobjekte der modernen Architektur der Nachkriegszeit gesucht hat, pilgerte gewiss nicht nach Luzern. Noch in den 70er-Jahren konnten hier nur vereinzelte Bauten aufgeführt werden, die man auf den nationalen Präsentierteller zu legen wagte. Dazu gehörte unangefochten die Zentralbibliothek, die von Otto Dreyer im Vögeligarten von 1949 bis 1951 nach einer turbulenten Planungsphase realisiert wurde.
Zunächst war für den Neubau das freigewordene Grundstück neben der Jesuitenkirche unmittelbar an der Reuss vorgesehen, doch glücklicherweise kam es zu einem Landtausch zwischen Kanton und Stadt Luzern, wodurch der Weg für den Standort neben der reformierten Lukaskirche frei wurde. Seither rahmt diese klösterlich anmutende Vierflügelanlage, die im Verlauf der letzten siebzig Jahre etliche Stürme überstanden hat, die beliebte und vielbesuchte Parkanlage unweit der lauten Bahnhofstrasse. Der nun abgeschlossene Umbau erlaubt eine kritische Würdigung des Denkmals.
Der Dreyer-Bau
Ein radikal modernes Werk ist die ehemalige Zentralbibliothek, die heute unter der Bezeichnung Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) firmiert, nach allgemeinem Urteil nicht. Vielmehr knüpft die ZHB an die Sprache der Landi-Architektur von 1939 an, deren Hauptmerkmal die Rasterfassade ist. Diese wurde explizit als Alternative zu den weissen und nüchternen Wänden des Stils des Neuen Bauens verstanden.
Es waren denn auch Vertreter des Neuen Bauens wie Max Bill und Alfred Roth, die diese plastische Ausformung der Fassaden kritisch beurteilten. Otto Dreyer, der an der Landesausstellung 1939 unter anderem ein Restaurant gestalten durfte, zelebrierte bei der Luzerner Bibliothek die Rasterfassade geradezu, vor allem in der Ummantelung des Büchermagazins. Und obwohl im Grundriss ein orthogonales Muster vorherrscht, konterkarierte er diese Ordnung mit dem nierenförmigen Vordach beim Eingang, wie er auch verspielte dekorative Elemente im Boden und an der Decke einbezog.
Ebenso einfallsreich war Dreyer in der Auswahl der Werkstoffe, besonders auffällig bei den verschiedenen Holzarten für Wandtäfelungen, Theken, Fensterrahmungen und Möbel. In dem Sinne könnte die Bibliothek geradezu als Inkunabel der 1950er-Architektur gelten, die nur eine kurze Zeit den Ton angab. Thomas Lussi und Remo Halter Casagrande, die den Umbau durchführten, weisen darauf hin, dass bereits sechs Jahre nach der Eröffnung der Bibliothek der Zürcher Architekt Theo Hotz mit dem Hotel Astoria in Luzern die kühle und schnörkellose Ästhetik der 1960er-Jahre einläutete.
Die Bibliothek als Denkmal
Der dominante Flügel, das Büchermagazin, bot Platz für rund 260’000 Bände, doch schon dreissig Jahre später reichte dies nicht mehr. Vor dem Umbau 2017 sammelten sich nicht weniger als 1,5 Millionen Bücher an, die in Aussenlagern gestapelt waren und mit einem aufwändigen Kuriersystem zu den Benutzern und Benutzerinnen transportiert werden mussten. Es war schon in den 1980er-Jahren klar, dass der Bau den wachsenden Anforderungen an eine zeitgemässe Bibliothek nicht mehr genügen konnte.
Mit der Digitalisierung musste man sich grundsätzliche Fragen stellen, darunter die vielleicht radikalste: Ob es überhaupt noch sinnvoll sei, regionale Bibliotheken zu unterhalten, wenn doch von einem zentralen Server sämtliche Publikationen digital abgerufen werden können. Die Luzerner Bibliothek hätte lediglich noch die Aufgabe gehabt, die lokalen Schriften zu sammeln und zu archivieren. Doch eine solche Aufgabe könnte genauso gut vom Staatsarchiv übernommen werden.
Es überraschte somit nicht, dass nach dem Vorliegen von fachlichen Beurteilungen und nach dem Beschluss, für den Umbau einen Ideenwettbewerb auszuschreiben, im Parlament 2011 eine Motion formuliert wurde, die auf einen Neubau drängte, in dem auch andere Institutionen untergebracht werden sollten. 2014 wurden solche Planspiele durch die Annahme einer Initiative zur Rettung der ZB unterbunden. Selbst der einflussreiche Bund Schweizer Architekten BSA rief zu einem Boykott auf, sollte es doch noch zu einer Ausschreibung für einen Neubau kommen.
Der Dreyer-Bau war schlicht nicht mehr verhandelbar. Er hatte sich längst als Denkmal etabliert und war zusammen mit dem Park und der Lukaskirche im prosperierenden Neustadtquartier, das zum trendigen Wohn- und Ausgehviertel geworden ist, zu einem urbanistisch bedeutenden Element geworden. Dies gemahnt an die Untersuchungen von Aldo Rossi in seiner epochalen Schrift «Die Architektur der Stadt», worin er schlüssig nachweist, dass insbesondere repräsentative Bauten der Vergangenheit ungeachtet der Art der Benutzung massgebend für jegliche Eingriffe in die urbanistische Struktur sind.
Der Umbau
Die Vorgaben waren gesetzt, als 2007 der Wettbewerb für die Renovation und Umnutzung ausgeschrieben wurde: Die ZB musste als Denkmal erhalten werden. Gleichzeitig war eine sinnvolle neue Bespielung der Räume erforderlich.
Die Gewinner, Thomas Lussi und Remo Halter Casagrande, präsentierten ein Projekt, das den Spagat von Erhaltung und Erneuerung unter den gegebenen Umständen schaffte. Die seit Anbeginn öffentlich zugänglichen Räume wurden behutsam unter Berücksichtigung aller denkmalpflegerischen Vorgaben restauriert. Neben dem Haupteingang wurde ein Bistro im Stil der Fünfzigerjahre als Ort der Begegnung eingerichtet.
Einschneidend war der Eingriff in das Büchermagazin, das für Studierende der 70er-Jahre (worunter ich mich zähle) so geheimnisvoll war wie der Bibliotheksturm im Roman «Der Name der Rose». Nun weist eine transparente Schiebetüre den Weg zur Freihandbibliothek, die allerdings so viele Arbeitsplätze anbietet, dass die Regale mit den noch rund 80’000 hier eingestellten Büchern eher eine dekorative Kulisse bilden. Der ehemals gruftartige Bücherspeicher ist nun ein lichtdurchfluteter Raum geworden, dessen fünf Geschosse von den Fassaden getrennt sind, um das ganze Volumen des Traktes atmen zu lassen.
Eine der bemerkenswertesten Leistungen wird gar nicht manifest. Für die Arbeitsplätze mussten kilometerlange Leitungen verlegt werden, die allesamt kaschiert sind. Für das Mobiliar erwarb man Designklassiker der Fünfzigerjahre. Das Äussere ist mit Ausnahme von zwei minimalen, nichtsdestotrotz markanten Elementen im Originalzustand konserviert worden. Neben dem Haupteingang führt eine geschwungene, schwebende, behindertengerechte Rampe zum Portal – eine fast schon ironische Antwort auf das nierenförmige Vordach. Und in die Gitterfassade zur Hirschmattstrasse ist ein grösseres Fenster eingelassen, das die bis anhin eher abweisende Front aufbricht und zumindest einen scheuen Blick ins Innere, in die «Stube von Luzern» erlaubt, um einen Ausdruck von Thomas Lussi zu zitieren.
Die Bau-Monografie
Lussi und Halter planten noch vor der Einweihung der ZHB eine Bau-Monografie, die vom Quart Verlag ins Programm aufgenommen wurde. Die Publikation unterscheidet sich wohltuend von Monografien, die den Bauprozess mit für Laien kaum lesbaren Konstruktionsplänen und Werkberichten umständlich erörtern. Stattdessen wird der Bau mit kurzen Texten verschiedener Fachleute gewürdigt, ergänzt durch Aufnahmen von Otto Pfeifer aus den 1950er-Jahren und von Leo Finotti, der die umgebaute ZHB dokumentiert. Diese Veröffentlichung wird dazu beitragen, dass die ZHB ihren Status als ein wichtiges und beliebtes Baudenkmal der Nachkriegsmoderne bewahren kann.
Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern. Denkmalpflegerische Erneuerung (d/e). Luzern: Quart Verlag, 2020, CHF 54.--