Eine ältere Freundin mailt uns verzweifelt und zornig aus Kiew: Die Situation werde immer bedrohlicher, Putin werde mit seiner Aggression nicht in der Ukraine Halt machen. Wenn die Leute im Westen nicht endlich aufwachten, würden andere schwächere Staaten in Europa die nächsten Opfer sein. Merkel und Hollande dienten Putin eigentlich nur als Handlanger.
Der Westen auf den Knien?
Die Frau, die das schreibt, ist keine politische Expertin. Aber kann man ihre Ängste und ihre düsteren Warnungen über Putins weitere Pläne einfach beiseite wischen? Schliesslich hatte vor gut einem Jahr auch niemand damit gerechnet, dass der Kreml sich im Handumdrehen die Halbinsel Krim einverleiben und dann mit Hilfe eines hybriden Krieges Teile der Ostukraine unter seine Kontrolle bringen würde.
Andererseits: Einiges an solchen Kassandra-Rufen erinnert an dissidente Stimmen aus der Sowjetunion während des Kalten Krieges. Damals hatten gewichtige sowjetische Systemkritiker – keineswegs alle – dem Westen und seiner umstrittenen Détente-Politik gegenüber dem Breschnew-Regime naive Blindheit und feige Schwäche vorgeworfen, was zum nahen Untergang führen werde. Solschenizyn hatte noch vor seiner Deportation aus der Sowjetunion diagnostiziert, der Westen liege „auf den Knien“. Die Geschichte ist dann etwas anders verlaufen. Es war die scheinbar so übermächtige Sowjetunion und ihr Satelliten-Imperium, die 1991 auseinanderfielen.
Natürlich ist diese Erfahrung noch kein Grund, Putins territorialen Expansionismus auf die leichte Schulter zu nehmen und darauf zu vertrauen, diese völkerrechtswidrigen Usurpationen würden sich schon wieder einrenken. Die Geschichte widerholt sich bekanntlich nie nach identischem Muster. Aber man kann aus ihr lernen, das heisst Argumente für aktuelle Handlungsentscheidungen ableiten.
Berlin, Budapest, Prag als historische Beispiele
Deshalb besteht auch Anlass, dem Vergleich von Bundeskanzlerin Merkel an der jüngsten Wehrkundetagung in München gebührende Aufmerksamkeit beizumessen. Sie hat daran erinnert, dass der Westen auch bei der 1961 völlig überraschenden Errichtung der Berliner Mauer nicht militärisch interveniert hatte – und dennoch sei dann diese Mauer 29 Jahre später wieder gefallen. Das gleiche Argument gilt übrigens auch für den sowjetischen Militäreinsatz beim Ungarnaufstand 1956 und bei der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Militärisch sei die Ukraine-Krise nicht zu lösen, hatte Merkel in München weiter erklärt.
Ist das Appeasement, wie einige Kritiker im Westen und unsere Freundin in Kiew westlichen Führern vorwerfen – unter Bezugnahme auf das fatale Münchner Abkommen, bei dem der britische Regierungschef Chamberlain und sein französischer Kollege Daladier Hitler über den Kopf der Tschechoslowakei hinweg die Annexion des Sudentenlandes zugestanden hatten? Wer diesen Vergleich bemüht, müsste allerdings genauer sagen, was er im Falle der Ukraine-Krise anders machen würde. Sollten westliche Länder selber militärisch gegen die Separatisten in der Ostukraine und ihre russischen Hintermänner eingreifen – mit eigenen Truppen, Flugzeugen und Raketen? Solche Stimmen waren bisher im Westen noch kaum zu vernehmen. Nur die russische Propaganda und einige ihrer Lautsprecher in der westlichen Medienkakophonie zetern dauernd über die „Nato-Kriegstreiber“.
Waffenlieferungen und Sanktionen
Wenn aber eine Militärintervention von westlicher Seite in der Ostukraine aus guten Gründen nicht in Frage kommt, so muss das nicht heissen, dass Waffenlieferungen an die Ukraine definitiv auszuschliessen sind, falls Putin und seine ostukrainischen Söldner und Handlanger den Minsker Waffenstillstand erneut ignorieren und ihre Expansion vorantreiben sollten. Immerhin schickt die britische Regierung nun ein paar Dutzend Militärberater in die Ukraine.
Die Diskussion um Waffenlieferungen sollte auf westlicher Seite zumindest offengehalten und entsprechende Entscheidungen deutlich von der weiteren militärischen Entwicklung in der Ostukraine abhängig gemacht werden. Das könnte Putin in seinen eigenen Entscheidungen – zum Beispiel über neue Vorstösse nach der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer – durchaus beeindrucken. Und natürlich müsste, falls es soweit kommen sollte, die internationale Öffentlichkeit auch klipp und klar darüber informiert werden, welche Art von Waffen an die ukrainische Armee geliefert würden.
Wichtiger als solche militärischen Fragen sind aber zwei andere Entscheidungsebenen im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise. Erstens die Fortsetzung und eventuell die Verschärfung wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland. Diese sind, entgegen einigen ungeduldigen Meinungen, keineswegs wirkungslos. Die Wirtschaft ist zweifellos eine Achillesferse in Putins Herrschaftssystem. Der Rubel-Absturz der letzten Monate und die damit verbundene schmerzhafte Einschränkung von Auslandsreisen für russische Bürger, der drastische Rückgang der Einnahmen aus Öl- und Gasexporten, die massiv erschwerte Kreditaufnahme für russische Firmen und Finanzinstitute, der gewaltige Kapitalabfluss, ausbleibende Investitionen, die spürbare Verteuerung von Konsumprodukten – das alles ist weder dem Kremlchef noch dem russischen Durchschnittsbürger gleichgültig.
Trotz den patriotischen Begeisterungsgesängen in den staatlich kontrollierten Massenmedien haben laut der Moskauer Politologin Lilja Schewzowa 65 Prozent unter den Befragten die Frage, ob Russland sich in der Krise befinde, mit Ja beantwortet. Auch Putin wird sich die Frage stellen, wie lange bei einer Fortsetzung dieser negativen wirtschaftlichen Trends seine jetzige vordergründige Popularität noch andauern kann. Sollten die EU und die USA die Sanktionsschraube wegen der Entwicklung in der Ukraine weiter anziehen, so sollte auch der Rat des ehemaligen Oligarchen Chodorkowski nicht vergessen werden, dass erweiterte Finanz- und Bewegungseinschränkungen gegen Funktionäre und Profiteure im Dunstkreis des Kremls wahrscheinlich eine gezieltere Wirkung entfalten als Sanktionen, die das ganze russische Volk treffen.
Eine prosperierende Ukraine als Hauptziel
Der wichtigste Aspekt für eine langfristige Lösung des Ukraine-Konflikts aber betrifft die wirtschaftliche und politische Stabilisierung des territorial reduzierten ukrainischen Staates und dessen Entwicklung zu einer prosperierenden Gesellschaft. Wenn das gelingt, könnte ein solches Modell auf lange Sicht für die innere Festigung der Ukraine und deren Ausstrahlung auf die jetzt pro-russisch usurpierten Gebiete eine ähnliche Anziehungskraft entfalten wie einst der westdeutsche Staat auf die DDR und andere kommunistisch beherrschte Länder des ehemaligen Ostblocks.
Indessen sind für die Entwicklung solcher Perspektiven gewaltige Probleme zu meistern, die einen sehr langen Atem erfordern – nicht nur auf ukrainischer Seite. Ohne breite und über viele Jahre hinweg andauernde wirtschaftliche und politische Unterstützung durch westliche Institutionen wird es die schwer angeschlagene, innerlich ungefestigte Ukraine schwerlich auf einen grünen Zweig bringen können – selbst wenn man, wie beim Beispiel der Berliner Mauer, nicht Jahre, sondern Jahrzehnte für eine Konfliktauflösung mit Russland ins Auge fasst.
Wird die westliche Staatengemeinschaft, die selber mit schweren inneren Problem kämpft, die Tatkraft, den Weitblick und das Stehvermögen für ein derartiges Engagement mobilisieren können? Sicher ist das keineswegs. Aber der Fall der Berliner Mauer und der Durchbruch zur Selbstbestimmung der ehemaligen Ostblockländer sollten als Inspiration dienen. Angela Merkel hat solche Zusammenhänge jedenfalls nicht aus den Augen verloren.
Dialog und Sanktionen sind kein Widerspruch
Wer sich auf solche historische Parallelen beruft, muss gleichzeitig daran erinnert werden, dass selbst während des Kalten Krieges und nach der Errichtung der Berliner Mauer das Gespräch mit der damaligen Kremlführung im grossen Ganzen stets fortgesetzt wurde, trotz gelegentlicher Appeasement-Vorwürfen aus diversen Richtungen. Sanktionsdruck und Dialog sind keine unvereinbaren Widersprüche. Das kontinuierliche Gespräch mit den damaligen kommunistischen Machthabern während der Détente-Periode hat mit zur Vermeidung direkter militärischer Konfrontation und zu Kompromissen wie den KSZE-Verträgen von Helsinki beigetragen. Gleichzeitig sind durch den intensivierten Austausch die stereotypten Feindbilder auf beiden Seiten vermehrt einer differenzierteren Betrachtung gewichen.
Putin hat 1989 den Fall der Berliner Mauer in Dresden als hilfloser und wohl ziemlich erschütterter Geheimdienstagent erlebt. Sollten ihn aufgrund dieser Erfahrung nicht gelegentlich ähnliche Gedanken bewegen, wie sie Kanzlerin Merkel in München mit ihrem Vergleich zwischen dem Schicksal der Berliner Mauer und den russischen Eingriffen in der Ukraine formuliert hat? Sollten ihm solche Parallelen völlig fremd sein, so läuft Putin Gefahr, dass er sein Land in eine Sackgasse fährt und Russland zum Rohstoff-Anhängsel von China wird, wie dies unlängst der russische Kommentator Alexander Golts in der Online-Zeitung „Jeschedewni Schurnal“ sarkastisch prophezeit hat.
Für unsere über den Westen empörte Freundin in Kiew werden solche Langzeit-Überlegungen aber kaum schon Trost bringen.