Die seit langem erwartete ukrainische Gegenoffensive hat offenbar begonnen. Spezialisierte Angriffseinheiten, mit westlichen Waffen ausgerüstet und von Nato-Kommandanten ausgebildet, versuchen an drei Orten südöstlich von Saporischschja vorzustossen. Ziel ist es, einen Keil in die russisch besetzte Südukraine zu treiben und bis ans Asowsche Meer vorzustossen. Das würde wichtige russische Nachschubwege trennen.
Seit Monaten mobilisiert die Ukraine neue Einheiten, sammelt Waffen und trainiert für das, was die ukrainische Führung als grosse Gegenoffensive bezeichnet, um die russischen Streitkräfte zurückzudrängen.
Doch ob das Vorhaben gelingt, hängt in der Schwebe. Erste Angriffe sind offenbar gestoppt worden. Die Russen sind seit langem gewarnt und vorbereitet. Sie haben sich eingegraben und ihre Verteidigungsanlagen verstärkt. Im flachen Gelände an der Südfront, wo die Offensive beginnt, gibt es kaum Deckung für die angreifenden Ukrainer. Die ukrainischen Panzer, auch die erstmals eingesetzten Leopard 2, sind schonungslos der russischen Artillerie und den russischen Kampfflugzeugen ausgesetzt. Bei Offensiven sind Überraschungseffekte entscheidend – und die fehlen hier.
Noch ist nicht ganz klar, ob die jetzigen Vorstösse schon Teil der Grossoffensive sind – oder nur ein Testlauf oder ein Ablenkungsmanöver.
Für die Ukraine und den Westen steht viel auf dem Spiel. Das überfallene Land braucht jetzt dringend einen Erfolg, einen durchschlagenden. Gelingt es der ukrainischen Armee trotz der umfangreichen westlichen Hilfe nicht, die russischen Minengürtel, Panzerfallen und Gräben zu überwinden, könnte die Unterstützung des Westens für die ukrainischen Streitkräfte schwinden.
Zwar erwartet niemand einen schnellen Durchbruch, denn die Russen konnten sich lange auf den ukrainischen Vorstoss vorbereiten. Aber einige wichtige Teilerfolge müssten die ukrainischen Streitkräfte bald schon erbringen, um den Westen bei der Stange zu halten.
Im Westen macht sich nach bald 500 Kampftagen da und dort Kriegsmüdigkeit breit. Der Westen hat der Ukraine bisher laut dem IWF Kiel Militärhilfe im Wert von fast 60 Milliarden Euro geleistet. An der Spitze stehen die USA mit über 43 und Grossbritannien mit über 7 Milliarden. Joe Biden und Rishi Sunak sind auch bereit, noch mehr zu zahlen. Doch wenn die Ukraine jetzt keinen baldigen Durchbruch erzielt, könnten sich die Kräfte im amerikanischen Kongress durchsetzen, die die Hilfe schon jetzt als überrissen brandmarken. Im September muss das amerikanische Budget für die Ukraine neu ausgehandelt werden. Sunak und Biden versprachen zwar kürzlich «dauerhafte Hilfe» an die Ukraine, doch auch sie müssen sich dem Parlament gegenüber rechtfertigen.
Ein Scheitern der Offensive wäre auch ein schwerer psychologischer Rückschlag: sowohl für die Ukrainer und Ukrainerinnen selbst als auch für den überwiegenden Teil der westlichen Bevölkerung. Dies könnte zu lethargischen, defätistischen Reaktionen führen: «Es ist ja doch alles verloren. Die Russen sind eben doch stärker.» Der phantastische, beispiellose Pro-Ukraine-Enthusiasmus, der seit Kriegsbeginn die westliche Welt erfasst hatte, könnte dann verblassen. Damit spekuliert Putin.
Am 11. und 12. Juli findet in der litauischen Hauptstadt Vilnius das nächste Nato-Gipfeltreffen statt. Aktuelles Hauptthema ist natürlich die Hilfe an die Ukraine. Sollten bis dann die ukrainischen Streitkräfte Erfolge vorweisen, könnten sie wohl mit weiterer Unterstützung rechnen. Und umgekehrt: Dem Erfolgreichen wird gegeben, dem Verlierer wird genommen.
Auch wenn die Offensive zwar nicht scheitert, aber festfährt, hätte das negative Auswirkungen. Dann würden die Kämpfe dahindümpeln, vielleicht sogar zu einem «eingefrorenen Krieg» werden: einem «frozen conflict». Das aber würde zu weiteren Ermüdungserscheinungen im Westen führen.
Selenskyj weiss, dass ihm jetzt die Zeit davonzulaufen droht. Sollte es der ukrainischen Armee jetzt nicht gelingen, die Russen zurückzudrängen, könnte die ukrainische Regierung vom Westen unter Druck kommen, ernsthafte Verhandlungen mit den Russen aufzunehmen. Das könnte im Extremfall bedeuten, dass die Ukraine gezwungen würde, Teile ihres Territoriums, die Krim und den Donbass, an Russland abzutreten.
Wie weit die Damm-Katastrophe die ukrainische Offensive beeinflusst, ist unklar. Selenskyj sagte, die Fluten hätte keine Auswirkungen auf die ukrainischen Pläne. Das könnte deshalb richtig sein, weil die überflutete Gegend südlich des Staudamms nicht Schwerpunkt der Offensive ist.
Der Krieg ist in eine entscheidende Phase getreten. Für Selenskyj und sein Volk geht es jetzt um sehr viel. Wäre ein Scheitern der Offensive der Anfang vom Ende der pro-westlichen Ukraine? Wahrscheinlich nicht. Aber die Gefahr bestünde, dass die Russen dann mehr und mehr das Geschehen diktieren.