Seit über sieben Wochen versucht die türkische Armee mit Hilfe der FSA (Freien Syrischen Armee), die kleine kurdische Enklave von Afrin zu erobern. Die FSA wird von den Türken bewaffnet und bezahlt. Afrin liegt am westlichen Ende der langen syrisch-türkischen Grenze auf syrischem Territorium. Die pro-türkischen und türkischen Streitkräfte sind langsam in das Gebiet vorgedrungen und brauchten geraume Zeit, um die Grenzbereiche der Enklave im Norden und Westen in ihre Gewalt zu bringen.
Erdogan hat am vergangenen Freitag erklärt, die pro-türkischen und die türkischen Streitkräfte stünden nun unmittelbar vor der Stadt Afrin. Seine Gegner, die kurdischen YPG-Milizen, dementieren und erklären, die pro-türkischen und türkischen Kräfte stünden noch 15 Kilometer von Afrin entfernt. Unbestritten ist, dass die Kurden und ihre von Damaskus entsandten Kräfte damit beschäftigt sind, die Peripherie von Afrin zu befestigen. Auch Gegenangriffe finden statt, um das Vordringen der türkischen Kräfte zu verlangsamen.
SDF-Hilfe für die Kurden
Die Kurden der YPG, die ihre Heimatgebiete verteidigen, haben ihrerseits Hilfe von Einheiten der sogenannten SDF erhalten. Die SDF (Syrian Democratic Forces) sind die militärische Kraft, mit deren Hilfe die amerikanische Koalition die Hauptstadt des IS in Syrien, Raqqa, und die meisten der vom IS gehaltenen ostsyrischen Gebiete Euphrat-abwärts bis an die irakische Grenze im vergangenen Sommer und Herbst zu erobern vermochte.
Es gelang den SDF-Einheiten von Osten her durch teils von den Türken, teils von der syrischen Regierungsarmee gehaltene Gebiete hindurch bis nach Afrin vorzudringen. Es soll sich dabei um etwa 1’700 Mann handeln. Sie stehen weiterhin gegen die Überreste des IS im Einsatz, die sich östlich des Euphrats in die Wüste zurückgezogen haben – ein Wüstengebiet, das von der irakisch-syrischen Grenze durchschnitten wird.
Damaskus hilft den Kurden
Die amerikanischen Verbindungsoffiziere, die mit der SDF Kontakt halten, und auch Sprecher des Pentagons in Washington, haben am 20. Februar erklärt, dass einige der geplanten Aktionen gegen die Überreste des IS im syrisch-irakischen Grenzraum zurückgestellt werden mussten. Dies, weil Teile der SDF-Truppen, die für diese Aktionen vorgesehen waren, nach Nord-Westen, Richtung Afrin, abgezogen worden seien, um gegen die türkische Invasion zu kämpfen. Die SDF verfügen über kurdische und arabische Einheiten. Doch sie stehen unter Führung der kurdischen YPG-Kräfte (kurdisch abgekürzt für „Volksschutz Einheiten“).
Afrin erhielt auch Hilfe von Damaskus, nachdem die dortigen Kurden Damaskus aufgerufen hatten, seine Verantwortung für den Schutz der syrisch-türkischen Grenze wahrzunehmen. Die Verbindungen zwischen Damaskus und den syrischen Kurden in Nordsyrien waren während der ganzen bisherigen sieben Jahre des syrischen Bürgerkrieges nie endgültig abgebrochen worden. Beide Seiten sahen einen Vorteil darin, einen vollen Bruch zu vermeiden.
Schiiten aus Damaskus gegen türkische Sunniten
Damaskus entsandte nicht Einheiten seiner regulären Armee nach Afrin, sondern eine der zahlreichen „Milizen“ (Hilfstruppen), die mit dieser regulären Armee zusammen kämpfen. Es handelt sich in diesem Fall um eine aus syrischen 12er-Schiiten gebildete Miliz, die mit Hilfe der Iraner aufgestellt wurde.
Damaskus dürfte gerade sie ausgewählt haben, weil sie als Schiiten bereit sein dürften, gegen die sunnitischen Türken und ihre ebenfalls sunnitischen syrischen FSA-Kräfte zu kämpfen. Sie sind in der Tat in Afrin mehrfach mit FSA-Milizen und türkischen Truppen zusammengestossen. Sie helfen offenbar auch mit, die Befestigungen rund um die Hauptstadt Afrin auszubauen.
Verbündete der Amerikaner stehen gegeneinander im Krieg
Dies hat dazu geführt, dass pro-syrische Truppen in Afrin auf Seiten der kurdischen Truppen kämpfen, die ihrerseits die wichtigsten Verbündeten der Amerikaner in Syrien sind. Ihre Gegner sind – mindestens bisher noch – ebenfalls Verbündete der Amerikaner, nämlich reguläre Einheiten und Hilfskräfte des Nato-Staats Türkei.
Die türkischen Sprecher haben denn auch erklärt, sie hätten die Amerikaner dazu aufgefordert, dafür zu sorgen, dass keine YPG-Kurden aus dem Raum weiter östlich in Syrien nach Afrin vordringen. Dies, so die türkischen Sprecher, sei ihr gutes Recht gegenüber Washington. Wie die Amerikaner dieses Ersuchen beantworteten, falls überhaupt, ist nicht bekannt.
Kriegsstimmung in der Türkei
Trotz dem eher langsamen Vorrücken der türkischen Truppen in Afrin, oder vielleicht gerade deshalb, schlägt die türkische Propaganda gewaltig auf die Kriegstrommel. Präsident Erdogan spricht fast täglich in seinen Reden von den Fortschritten, welche die Türken gegen ihre „terroristischen“ Feinde machten. Er nennt auch die grossen weiteren Kriegszüge, die „nach dem bevorstehenden Sieg über Afrin“ geplant seien. Dabei erwähnt der türkische Staatschef regelmässig die Stadt Membij. Sie liegt auf der östlichen Seite des syrischen Korridors, den die Türkei seit dem vergangenen Sommer besetzt hält. So wollen die Türken den Zusammenschluss der drei kurdisch beherrschten Provinzen an der syrisch-türkischen Grenze, Hassake und Kobane im Osten mit Afrin im Westen, verhindern.
Membij war Ziel der damaligen Offensive gewesen. Doch die Türkei hatte die Stadt nicht besetzen können, weil sie die Amerikaner daran hinderten. Amerikanische Truppen sind auch jetzt bei Membij stationiert.
Erdogan verheisst weitere Kriegszüge
Am vergangenen Freitag ist Erdogan in einer Rede über die Ziele des türkischen Krieges zum ersten Mal über Membij hinausgegangen und hat erklärt, die türkischen Truppen würden nicht aufhören zu kämpfen, bis sie den ganzen Grenzraum östlich des Euphrats „bis an die irakische Grenze“ von den „kurdischen Terroristen“ gereinigt hätten.
Um die Tragweite dieser Drohung zu ermessen, muss man wissen, dass die zurzeit von den Kurden gehaltenen Grenzgebiete in Nordsyrien rund ein Viertel der gesamten Oberfläche Syriens ausmachen.
Die türkische Regierungspresse ist ebenfalls für den Krieg mobilisiert. Sie ist bemüht, die täglichen Kriegsreden Erdogans weiter auszumalen. Der türkische Staatschef und „Sultan“ dürfte durch seinen Propaganda-Feldzug drei Ziele gleichzeitig verfolgen:
Erstes Ziel: Das Volk hinter sich scharen
Die Kriegsstimmung einigt die Türken unter seiner Führung, und dies ist dringend nötig für seine grossen Pläne. Wenn seine Partei die Wahlen gewinnt, die für Sommer 2019 vorgesehen sind, aber auch vorverlegt werden könnten, wird die Türkei wohl endgültig zu einer präsidialen De-facto-Diktatur mit einem völlig entmachteten Parlament.
Die Kriegsstimmung hat schon bewirkt, dass die Verbündete der Erdogan-Partei, die ultra-nationalistische „Partei der Nationalen Bewegung“ (MHP), für Erdogan und sein Türkentum schwärmt. Auch in der wichtigsten Oppositionspartei, der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP), findet der Gedanke, den Kurden den Meister zu zeigen, weit verbreitete Zustimmung. Deshalb kann der Kurdenkrieg dazu dienen, Erdogans knappe Mehrheit, die er im Referendum vom April 2017 erreicht hat, weiter auszubauen.
Zweites Ziel: Die Flüchtlinge zurückschicken
Zweitens würde die Schaffung einer von der Türkei geschaffenen Schutzzone jenseits der türkisch-syrischen Grenze der Türkei erlauben, mindestens einen Teil der Millionen syrischer Flüchtlinge, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, auf syrisches Territorium zurückzuschicken. Die Errichtung einer solchen Zone in Syrien ist ein alter Plan Erdogans. Er hatte ihn schon, als der syrische Bürgerkrieg begann. Erdogan war damit immer gescheitert, weil sich die USA dagegenstemmten.
Die Anwesenheit Millionen syrischer Flüchtlinge beginnt in der Türkei auf Ablehnung zu stossen. Dies auch deshalb, weil die Flüchtlinge bereit sind, für Löhne zu arbeiten, die unter den offiziell geltenden Mindestlöhnen liegen. Es gibt immer mehr türkische Arbeitgeber, die ihre Notlage ausnützen und sie als billige Arbeitskräfte anstellen.
Drittes Ziel: Druck auf die Amerikaner
Drittens dienen die Kriegstiraden des türkischen Staatschefs dazu, den Amerikanern deutlich zu machen, dass es für sie keine andere Wahl gibt, als sich zwischen Türken und Kurden zu entscheiden. Auf die Dauer sei es nicht möglich, mit den beiden bitteren Feinden gleichzeitig befreundet zu sein. Doch gerade das streben die Amerikaner weiterhin an.
Die Kriegsreden Erdogans enthalten deshalb stets auch Polemik gegen die USA. In seinen letzten Darlegungen, in denen er von der beabsichtigten Ausdehnung des türkischen Kurdenkrieges auf ganz Nordsyrien „bis an die irakische Grenze“ sprach, äusserte Erdogan sich auch über den Versöhnungsversuch des amerikanischen Aussenministers in Ankara vom vergangenen Februar.
„Wer bezahlt die Gehälter der YPG?“ fragte er rhetorisch und antwortete gleich selbst. „Die USA! – Und wenn ich darüber mit den USA rede, sind sie verlegen. Warum sind sie verlegen? Das Geld ist in ihrem Budget festgeschrieben. Sie haben der YPG gepanzerte Fahrzeuge und Waffen geliefert. Als ich dies Aussenminister Rex Tillerson auf dem Bildschirm zeigte, beklagte er sich, dass der Anti-Amerikanismus in der Türkei zunehme, weil wir diese Art Informationen jeden Tag im Fernsehen ausstrahlen. Tatsächlich wächst der Anti-Amerikanismus sehr rasch! Aber was kann ich dafür!“
„Die Türkei oder die Kurden?“
Erdogan rechnet wohl damit, dass seine scharfen Worte gegen die USA von Erfolg gekrönt werden. Am Ende würde sich Washington dann wohl doch nicht für die Kurden, sondern für die Türkei entscheiden.
Seine Erwartung ist nicht unbegründet. Mit dem Ende des IS sind die Kurden für die Amerikaner nutzlos geworden. Der Verlust des Nato-Staates Türkei aber wäre schwer zu verkraften. Vor allem, weil das Land die zweitgrösste Nato-Armee besitzt. Auch seine strategische Lage an den Meerengen und an der Südwestecke Russlands wiegt schwer .
Offene und verschwiegene Absichten Washingtons
Die Amerikaner haben verkündet, sie gedächten in Syrien zu bleiben. So wollten sie den Wiederaufbau des IS verhindern und den iranischen Einfluss in Syrien zurückdrängen. Man kann vermuten, dass sie auch ein drittes Ziel verfolgen: Sie wollen die Russen daran hintern, weitere Vorteile aus ihrer Parteinahme für Asad zu erzielen.
Doch sowohl Ankara als auch Moskau, Damaskus und Teheran können hoffen, dass das wankelmütige Trump-Regime umgestimmt werden könnte, wenn es sich erst einmal der Schwierigkeiten bewusst wird, die der Versuch mit sich brächte, erneut aktiv in die Syrien-Politik einzugreifen. Dann könnte Washington wieder mit Hilfe der Kurden Ankara, Moskau, Damaskus und Teheran herausfordern.
Gegen und für eine amerikanische Präsenz
Die kriegerische Rhetorik Erdogans dient daher auch dazu, Washington den Preis klar zu machen, den es bezahlen muss, falls es wirklich seine angekündigten Pläne durchführen sollte, mit Hilfe der Kurden im syrischen Osten Fuss zu fassen und von dort aus auf die syrische Politik einzuwirken.
In dieser Hinsicht wirkt sich der Kurdenkrieg Ankaras zugunsten der Russen, des Regimes von Damaskus und jenes von Teheran aus. Allen dreien liegt daran, eine mit kurdischer Hilfe erfolgte Festsetzung der Amerikaner in Ostsyrien zu verhindern. Umgekehrt wären die Israeli und ihre De-facto-Verbündeten, die Saudis, daran interessiert, dass die Amerikaner in Ostsyrien verblieben. So würden sie verhindern, dass die Iraner ihre politische und militärische Position in Syrien festigen.