«Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit.» Das Diktum ist alt, aber nach wie vor aktuell. Es wird, dem Sinn nach, dem griechischen Dichter Aischylos um 550 v. Chr. zugeschrieben, aber auch dem amerikanischen Senator Hiram Warren Johnson, der es angeblich 1917 äusserte. Auf jeden Fall ist die Erkenntnis beim Konsum der Berichterstattung über den jüngsten Krieg zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Widerstandsbewegung Hamas in Gaza stets in Erinnerung zu rufen.
Wie bei früheren Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas findet der Krieg nicht nur im Felde, sondern auch in den Medien statt. Beide Seiten werfen einander vor, Medienschaffende für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und deren Berichterstattung entsprechend zu manipulieren. Diese sei, so heisst es, unausgewogen, unfair und unsachgerecht. Angesichts solcher Vorwürfe fällt es neutralen Medienkonsumenten oft schwer, sich ein realistisches Bild der Lage zu machen. Eine besondere Rolle bei der Verbreitung von Desinformation spielen neuerdings die sozialen Medien, welche die kriegführenden Parteien allerdings nur noch bedingt kontrollieren können.
Zufall oder Absicht?
Bemerkenswert im Fall der aktuellen Kämpfe in Gaza ist allerdings der Verdacht, die israelische Armee habe vergangene Woche die internationale Presse instrumentalisiert, um die Hamas glauben zu lassen, eine Invasion von Bodentruppen in den Küstenstreifen habe begonnen. Erst über Twitter verbreitet und später von einem Armeesprecher bestätigt, machten ausländische Medien die Meldung umgehend weltweit publik.
Zwar wurde die Ankündigung innert Stunden zurückgenommen und ein israelischer Armeesprecher übernahm die Verantwortung für die Falschmeldung, deren Ursprung er dem «fog of war», der verwirrenden Nachrichtenlage in einem Krieg, zuschrieb. Seltsam nur, dass israelische Medien gleichzeitig berichteten, die Falschmeldung sei kein Zufall, sondern Teil eines ausgeklügelten Täuschungsmanövers der Armee gewesen, deren Ziel es angeblich war, Kämpfer der Hamas aus ihren Verstecken zu locken, um sie aus der Luft besser treffen zu können.
«Ein geplanter Trick»
Er habe, sagte Armeesprecher Oberstleutnant Jonathan Conricus, Nachrichten «aus dem Felde» missverstanden und sie weitergegeben, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Das Ganze sei ihm sehr peinlich. Trotzdem lobten israelische Medien die Armee dafür, Hamas-Kämpfer in ein Netzwerk von Tunneln im Norden Gazas gelockt und in der Folge mit zahlreichen Kampfjets attackiert zu haben. Der Militär-Reporter des TV-Senders Kanal 12 nannte die Verbreitung der Falschmeldung durch die Armee «einen geplanten Trick».
Im Konferenzgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern ausländischer Medien bemühte sich Oberstleutnant Conricus, die Bedenken der Beteiligten zu zerstreuen, von der Armee manipuliert worden zu sein: «Niemand, der an diesem Gespräch teilnimmt, gehört zur Zielgruppe. Die Ziele sind, hoffe ich, die toten Terroristen, die jetzt im Innern der Tunnel liegen.» Was als Erklärung Mitarbeitende jener Organisationen nicht zu überzeugen vermochte, die palästinensische Mitarbeiter in Gaza beschäftigen.
Menschliche Schutzschilder?
Ihre Beunruhigung war offenbar nicht ganz fehl am Platz. Am Samstag bombardierten israelische Kampfjets in Gaza ein zwölfstöckiges Gebäude, in dem sich unter anderen die Büros der amerikanischen Nachrichtenagentur AP und des katarischen Fernsehsenders Al-Jazeera befanden. Zwar alarmierten die Israelis die im Al-Jalaa Tower Domizilierten eine Stunde vor dem Luftangriff und niemand wurde verletzt. Einzelne Medienorganisationen verloren aber teure Ausrüstung und Al-Jazeera konnte nur einen Teil seines Archivs, Tausende Stunden Videos und Fotos, retten.
Der israelischen Armee (I. D. F.) zufolge war das Hochhaus «eine wichtige Operationsbasis» des militärischen Geheimdienstes der Hamas, wo die islamische Widerstandsbewegung «Informationen für Angriffe auf Israel sammelte, Waffen und Ausrüstung herstellte und lagerte, um Operationen der I. D. F. zu erschweren». Im Gebäude befanden sich ausser den Büros verschiedener Medien auch Kanzleien, Praxen und Privatwohnungen. Israel hat der Hamas wiederholt vorgeworfen, Zivilisten als menschliche Schutzschilder zu missbrauchen.
Fehlende Beweise
Noch hat die israelische Armee keine Beweise vorgelegt, dass das Hochhaus in Gaza tatsächlich Kämpfer der Hamas beherbergt hat. «Nicht nur befand sich die Hamas im Gebäude, sondern die Bewegung nutzte es aktiv, um gegen Israel zu kämpfen», begründete der israelische Armeesprecher am Sonntag auf CNN den Luftangriff der I. D. F.: «Aus Rücksicht auf Menschenleben und die Leute, die dort arbeiten, haben wir darauf verzichtet, durch einen Überraschungsangriff zusätzlichen militärischen Gewinn zu erzielen. Stattdessen taten wir, was zu tun natürlich das Richtige war: Wir warnten vorher und erlaubten jedem, zu gehen, das Gebäude zu verlassen, und wir stellten sicher, dass alle im Freien waren, bevor wir das Haus bombardierten.»
Jonathan Conricus sah sich jedoch ausser Stande, Beweise dafür vorzulegen, dass die Hamas Medienschaffende und Zivilisten als «menschliche Schutzschilder» missbraucht hat. Auf Fragen von CNN-Moderator Brian Stelter antwortete er nur, die Beweise würden «innert nützlicher Frist» publik gemacht. Worauf Stelter zurückfragte: «Hätte dies nicht bereits vor 24 Stunden geschehen sollen?». Laut Kriegsrecht wird ein ziviles Gebäude zur militärischen Installation, sobald eine Armee oder militärische Gruppierung es besetzt.
«Den Boten töten»
AP-Chefredaktorin Sally Buzbee betonte, ihre Agentur bleibe in allen Konflikten neutral: «Wir glauben aber, dass es unsere Pflicht ist, das Recht der Welt auf Information zu schützen, was in diesem Konflikt oder in jeder anderen Auseinandersetzung vorgeht. Dieser Konflikt ist eine wichtige Story und wegen der Aktion (des Luftangriffs) wird die Welt darüber weniger wissen.» Im Übrigen, so Buzbee, sei die AP nie informiert worden, dass sich die Hamas im selben Gebäude befinde, wo die Agentur seit 15 Jahren eingemietet gewesen sei.
«Ziel dieses abscheulichen Verbrechens ist es, die Medien zum Schweigen zu bringen und das Gemetzel und das Leiden der Menschen in Gaza zu verstecken», sagte indes Mostefa Souag, Al-Jazeeras Generaldirektor in Doha. Für seinen Fernsehsender, so Souag, sei der Luftangriff der Israeli ein Versuch, «die Wahrheit zu unterdrücken, indem man den Boten tötet».
Wie seit Beginn des Konflikts, der bisher (Stand Montagabend) auf palästinensischer Seite mindestens 198 Tote (unter ihnen 93 Frauen und Kinder) und auf israelischer Seite mindestens 10 Tote (unter ihnen zwei Kinder) gefordert hat, ist die Reaktion des Weissen Hauses auch jüngst moderat ausgefallen. Sprecherin Jennifer Psaki twitterte lediglich, die USA hätten den Israelis direkt mitgeteilt, der Staat habe eine überragende Verantwortung, «die Sicherheit und Gesundheit von Journalistinnen und Journalisten sowie von unabhängigen Medienschaffenden zu gewährleisten».
Demokraten kritisieren Joe Biden
Zwar regt sich innerhalb des linken Flügels der Demokraten zunehmend Kritik an der Zurückhaltung von Präsident Joe Biden, doch bewirken dürften dissidente Stimmen wie jene von Senator Bernie Sanders oder der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez nur wenig. Die USA haben im Uno-Sicherheitsrat bisher gegen eine Erklärung gestimmt, die zu einem Waffenstillstand zwischen Israeli und Palästinensern aufrief. Joe Biden selbst hat eine Reihe von Stellungnahmen veröffentlicht, die einerseits zur Deeskalation aufrufen und anderseits Israels Recht auf Selbstverteidigung bekräftigen.
Solche Reaktionen können jedenfalls nicht verbergen, dass sich das Weisse Haus, abgelenkt durch andere Themen, vom erneuten Ausbruch des klassischen Nahost-Konflikts hat überraschen lassen. Islamisch-amerikanische Organisationen boykottierten denn am Sonntag ein virtuelles Event des US-Präsidenten zum Ende des Ramadans, weil seine Regierung für das Leiden der Palästinenser mitverantwortlich sei.
«Die Strategie des Rasenmähens»
Derweil hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angekündigt, sein Land sei noch nicht bereit, die militärischen Operationen in Gaza einzustellen, egal wie heftig die internationale Gemeinschaft das Vorgehen auch kritisieren möge. Es ist eine Strategie, die Analysten zynisch als «Rasenmähen» bezeichnen. Der Begriff impliziert, dass die militanten Palästinenser im Gazastreifen und ihre Vorräte an kruden, aber effektiven hausgemachten Waffen wie Unkraut seien, das von der übermächtigen israelischen Armee von Zeit zu Zeit zurückgestutzt werden müsse.
«Wie das Mähen deines Rasens vor dem Haus ist das ständige, harte Arbeit», schreibt in der «Jerusalem Post» David M. Weinberg, der Vizepräsident des Jerusalem Institute for Strategy and Security: «Wenn du nicht mähst, wächst das Unkraut wild und die Schlangen beginnen, im Unterholz herumzukriechen.» Die Strategie, argumentiert dagegen der frühere israelische Linkspolitiker Zehava Galon in der Zeitung «Haaretz», resultiere in «ständigem Krieg», der ausser Acht lasse, dass «Menschen auch miteinander reden und nicht nur Schlagstöcke tragen können».
Quellen: AP, The New York Times, The Washington Post, Poynter Institute, Columbia Journalism Review