Rodolfo studierte in Rom Wirtschaftswissenschaften. Von seinem Vater hat er ein riesiges Vermögen geerbt. Er heiratete die attraktive Larissa und kaufte sich eine alte Villa mit Blick auf die Weinberge des nördlichen Lazio.
Nach dem Tod seines Vaters tut er nur eins: Er verwaltet sein Vermögen. Frühmorgens starrt er im Internet auf die neuen Kurse. Im Kiosk des Städtchens kauft er die Wirtschaftszeitung "Il Sole 24 Ore". Um 10.00 trifft er den Bankdirektor zum Kaffee. Jeden Morgen wird der reiche Rodolfo vom Direktor empfangen. So ist das in Italien. Nach dem Kaffee verschwinden die beiden in der Bank. Dann schieben sie Aktienpakete hin und her.
Rodolfo und Larissa laden gerne ein. Man spricht über Kunst, über das italienische Essen und Juventus Turin, über Garibaldi und Cavour, über Vögel und Bäume. Larissa weiss viel über Bäume; sie hat Biologie studiert.
Man beginnt über Politik zu reden. Italien sei ein verkrustetes Land, die Gewerkschaften blockierten alles, Neuerungen seien nicht in Sicht. Italien müsse endlich erwachen, sich der Moderne anpassen, den grässlichen Bürokratie-Kram liquidieren.
Dem kann man nur zustimmen. Wer in Italien eine Telefonleitung bestellt, wartet zweieinhalb Jahre. Wer auf der Post ein Paket aufgibt, wartet 58 Minuten und muss sechs Unterschriften geben. Wer auf der Bank eine Geldüberweisung von 800 Euro tätigt, gibt 13 Unterschriften. Wer am Bahnschalter schnell eine Fahrkarte will, weil der Zug bald fährt, muss sich vom Schalterbeamten sagen lassen: „Jetzt geh‘ ich erst Pippi machen“. Der Zug ist dann weg. Der Schalterbeamte ist noch immer da: Er hat eine unkündbare Stelle.
Trauerspiel der Linken
„Der einzige, der dieses Schlamassel aufbrechen kann, ist Berlusconi“, sagt Rodolfo und schenkt sich einen Montefiascone ein. „Silvio hat Mut, er ist frech, er bläst den Gewerkschaften den Marsch“. Eine Alternative gebe es nicht. „Schaut das Trauerspiel der Linken an, keine Linie, keine Politik, nur rückwärtsgewandt, nie etwas Neues“.
Es stimmt: Es bewegt sich wenig in Italien. Doch das ist schon lange so. Die Italiener lieben den alten Trott. „Unser Volk ist stur“ sagen Soziologen und Schriftsteller. Selbst die Küche, zwar weltberühmt und hervorragend, ist immer, immer die gleiche. Neue Kreationen, und sind sie noch so klein, kommen nicht an. Die Italiener wollen essen wie ihre Grossmütter.
Und die Linke bietet wahrlich ein Trauerspiel. Auch da haben Rodolfo und Larissa recht. Jeder Hahn richtet seinen Kamm auf. Keiner hat eine Hausmacht. Zwar gibt es gescheite Leute unter ihnen, aber sie verstehen es nicht, ihre Botschaft zu vermitteln. Ihre 97seitigen Manifeste muss man drei Mal lesen, bis man ungefähr kapiert, was sie wollen – oder was sie eventuell nicht wollen – oder eben doch ein bisschen. Linker Intellektualismus kann gnadenlos sein.
„Ich weiss wovon ich rede“, ruft Rodolfo, „ich war während meiner Studienzeit ein feuriger Linker“. Ein Freund von ihm kommentiert: „Konvertiten sind die Schlimmsten“.
Rodolfo und Larissa sind überzeugt: Einzig Berlusconi kann einen Aufbruch bringen. Er werde Italien wachrütteln, er werde eine neue Renaissance einleiten, nicht auf künstlerischer, sondern auf gesellschaftlicher Ebene. Nur er sei dazu fähig „Wer denn sonst?“ fragt Larissa. Das war vor sechs Jahren.
“Alles Kommunisten“
Später treffen wir die beiden wieder. Bilder in den Zeitungen zeigen Berlusconi mit halbnackten Frauen in seiner Villa auf Sardinien. Seine Sprüche sind ätzend. „Lieber ein Harem besitzen als schwul sein“.
Die italienische Wirtschaft harzt. „Ja, noch harzt die Wirtschaft“, sagt Rodolfo. „Berlusconi muss ausfressen, was die linke Vorgängerregierung angerichtet hat. Er hat das Chaos der Linken geerbt“. Das war vor vier Jahren.
Rodolfo und Larissa haben beide fertig studiert. Eine Fremdsprache können sie nicht, wie viele Italiener. Ausländische Zeitungen oder Fernsehsender sind ihnen fremd. Sie setzen sich dem Trommelfeuer der Berlusconi-Kanäle aus. Sie lesen das Lokalblatt und den Corriere della sera, das grösste bürgerliche Blatt. Die linksliberale Repubblica, die grösste italienische Zeitung, ist ihnen ein Graus: „Alles nur Kommunisten, die dort schreiben“.
Wer gegen Berlusconi ist, ist ein Kommunist. Eine Verschwörung sei gegen ihn im Gang, die Linke wolle ihn wegputschen.
Vor zwei Jahren treffen wir die beiden wieder. Die Wirtschaftszahlen sind schlecht. Im Euro-Raum gehört Italien zu den Schlechtesten. Die Verschuldung ist gigantisch, das Wachstum ist kläglich, Impulse gibt es keine. „Das sind doch alles Lügen“, sagt Larissa. „Italien geht es gut, besser als den andern“. Italien sei stabil, die Regierung habe alles unter Kontrolle. So hämmern es Berlusconi und sein Wirtschaftsminister Tremonti dem Volk ein. Seit drei Jahren die ewige Leier. Rodolfo und Larissa glauben es. Sie haben Vertrauen in die Regierung.
Und doch nicht ganz. Einmal erzählt Rodolfo von Italienern, die Koffer voller Geld nach Lugano bringen. Ist auch er dabei?
Was nicht sein kann, ist nicht
Inzwischen haben auch Rodolfo und Larissa gemerkt, dass Berlusconi im Ausland als Witzfigur gehandelt wird. Sie reagieren wütend. „Journalisten sind eben alles Linke, auch im Ausland“. Man sei nur neidisch auf Italien.
Was hat denn eigentlich Berlusconi geleistet, fragen wir. Die Wirtschaft lahmt, er kümmert sich nur um sich. Er missbraucht das Parlament. Dieses muss Gesetze verabschieden, damit er seine kriminellen Taten nicht sühnen muss. Alles dreht sich nur um ihn. Italien scheint ihm egal zu sein. Statistiken werden gefälscht, Fakten werden unter den Tisch gewischt. Alles wird beschönigt. Regiert wird eigentlich nicht.
Jetzt explodieren die beiden. Eine sachliche Diskussion ist jetzt nicht mehr möglich. Wir sprechen wieder über Blumen und Bäume.
Was nicht sein kann, ist nicht. Italien geht es gut. Berlusconi sagt es uns immer wieder. Rodolfo und Larissa klammern sich daran. Und das Fernsehen bestätigt tagein, tagaus, dass sie recht haben.
Vor gut einem Jahr kommt Ruby, die 17Jährige. Berlusconi lässt sie aus dem Polizeiposten holen. Dem Polizeichef sagte er, sie sei die Nichte von Mubarak. Ist es denn gut, wenn ein Ministerpräsident den Polizeikommissar belügt? „Ruby sagt doch selbst, sie hätte nichts mit Berlusconi gehabt“, weiss Larissa. Rodolfo schiebt eine mögliche Verschwörungstheorie nach: „Vielleicht war sie ein Köder, ausgelegt von seinen Feinden“. Und Larissa: „Er wollte ihr halt helfen. Wenn einem so viel Böses angetan wird, reagiert man eben verzweifelt“.
Patrizia, Noemi, Lara, Natalia, Gabriela
Doch spricht man über Berlusconis Frauengeschichten, ist es den beiden bekennenden Katholiken nicht ganz wohl. Was ist mit Patrizia d’Addario, die ein Buch über ihre Nacht mit Berlusconi geschrieben hat? Was ist mit der 16jährigen Noemi Letizia aus Neapel? Was ist mit Lara, mit der Minetti, die er subito zur Regionalrätin gemacht hat. Was ist mit Susanna und Corina, mit Emma und Gabriela, mit Anna und Natalia? Was ist mit den Prostituierten, die der Polizei beschreiben, wie widrig der alte Mann sei?
Und was ist mit Berlusconis Ex-Frau Veronica, die sich scheiden liess und ihn offen als Sex-krank bezeichnet? „Kommt mir nicht mit der Ex-Frau“, schiesst Larissa los, „die geht jetzt mit einem Linken ins Bett“. Immerhin das stimmt. Wir sprechen wieder über Blumen und Bäume, über Garibaldi und Juventus.
Vor kurzem treffen wir sie ein letztes Mal: Nochmals ein Aufbäumen. „Berlusconi hat von der Linken einen Saustall geerbt, er muss jetzt alles ausbaden“. Nur: Erstens gab es vor Berlusconi zwei technische Regierungen mit Carlo Azeglio Ciampi und Lamberto Dini: beide waren alles andere als Linke. Und der halblinke Romano Prodi hinterliess nach einem rigorosen Sparkurs das Haus in recht guter Verfassung. Zudem: Berlusconi ist mit über 3‘000 Tagen der mit Abstand längst-regierende Ministerpdräsident. Wie kein anderer hätte er Zeit gehabt, etwas zu bewirken und etwas zu gestalten. Solche Argumente wollen Rodolfo und Larissa nicht hören.
Die Kritik an Berlusconi wird lauter. Fini ist abgesprungen und gescheitert. In den eigenen Reihen macht sich Missmut breit. Es gibt Berichte, wonach Berlusconi viel Geld einsetzt, um potentielle Dissidenten bei der Stange zu halten. Die katholische Kirche beginnt ihn zu kritisieren. Die Wirtschaft ist wütend. Der Fiat-Chef fordert seinen Rücktritt. In den Meinungsumfragen fällt Berlusconi zurück.
Jetzt bricht alles zusammen
Dann kommt der Sommer 2011. Die schlechten Wirtschaftszahlen können nicht mehr vertuscht werden. Die EU verlangt, den Staatshaushalt radikal zu sanieren. Staatspräsident Napolitano fordert die Regierung auf, endlich die Wahrheit zu sagen. Italien gehe es nicht gut, ruft er aus. Die Jugendministerin sagt, Berlusconi habe eben die Wahrheit vertuscht, um den Jungen nicht die Illusionen zu nehmen. Also doch: vorsätzlicher Betrug. 27 Prozent der italienischen Jugendlichen sind arbeitslos.
In einer der peinlichsten, fast zirkusreifen Vorstellungen versucht die Regierung ein Sparpaket zu schnüren. Jeden Tag werden neue, abstrusere Vorschläge präsentiert. Der Regierung wächst alles über den Kopf. Immer hatte Berlusconi versprochen, die Steuern zu senken. Nun werden sie erhöht. Die Staatsausgaben werden kaum beschnitten.
Jetzt bricht alles zusammen. Emma Marcegaglia, die Vorsitzende des grössten Arbeitgeberverbandes, bezeichnet Berlusconi als Lachnummer. Die Rating Agentur Standard & Poor‘s stuft Italien herunter. Moody’s wird wohl folgen. Der Corriere della sera, Rodolfos Leibblatt, fordert seinen Rücktritt. Die EU glaubt nicht daran, dass das Land das Schuldenproblem in den Griff bekommt.
Katzenjammer von Como bis Syrakus. Überall Rücktrittsforderungen, Drohungen von Bossi und eigenen Parteileuten, eine miserable ausländische Presse. Berlusconi steckt im Sumpf und zieht das Land mit hinein.
Wieder werden Telefonmitschnitte veröffentlicht. Berlusconi prahlt von seiner Potenz. Elf Frauen seien vor der Tür gestanden, acht davon hätte er befriedigt. Angela Merkel bezeichnet er als „unfickbaren Riesenarsch“. Und sowieso: Ministerpräsident sei er nur in seiner Freizeit.
Tom und Jerry
Von Rodolfo hört man seit zwei Wochen nichts mehr im Städtchen. Ein Bekannter sagt: „Er hat sich in seiner Villa eingebunkert. Er hat viel, viel Geld verloren. Er schaut nur noch Tom und Jerry-Filme.“ Er trinkt keinen Kaffee mehr mit dem Bankdirektor. Die Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“ bleibt im Kiosk liegen.
Am Donnerstag, 29. September, feiert Berlusconi seinen 75. Geburtstag. Überall in seinen Parteizentralen werden Gratulationsbücher aufgelegt. Auch im Städtchen, in dem Rodolfo wohnt. Alle können sich dort eintragen. Die Bücher mit den guten Wünschen werden dann dem Geburtstagskind übergeben.
Rodolfo wird sich wohl nicht eintragen. Er schaut jetzt Tom und Jerry.