Möchten wir nicht alle den Sommer oder sogar das ganze Jahr auf einer Trauminsel verbringen? Auch Komponisten haben darüber nachgedacht.
Inselträume sind kulturgeschichtlich seit der Antike bekannt und beliebt. Es gibt sie bei Homer, in Platons Dialogen und bei den Verfassern von Tragödien. Man denke zum Beispiel an die Gestalt des auf der Insel Lemnos ausgesetzten Philoktetes im gleichnamigen Drama von Sophokles. In der Phantasie der Menschen gibt es Glücksinseln und Strafinseln, erreichbare und unerreichbare, versunkene und utopische, reale und nur erträumte.
Auch in der Opernwelt spielen Inseln eine grosse Rolle. Monteverdis Ulisse kehrt nach der Irrfahrt durch das Mittelmeer aus Troja auf die heimische Insel Ithaka im ionischen Meer zurück. Feeninseln und Hexeninseln gibt es zahlreiche vor allem in der Barockzeit. Im 19. Jahrhundert lässt Richard Wagner in seinem «Tristan und Isolde» den Liebestod auf einer Inselfestung Karneol im bretonischen Meer erleben. Und Verdis «Otello» spielt auf der von den Venezianern dominierten Insel Zypern.
Als der französische Komponist Reynaldo Hahn (geboren 1874 oder 1875 in Caracas, Venezuela, gestorben 1947 in Paris) sich an seine eigene Insel-Oper «L’île du rêve» im Jahr 1898 machte, lebte er bereits seit 20 Jahren in Paris und hatte sich in der Stadt in Musikerkreisen und in den künstlerischen Milieus der Belle époque schon gut etabliert. Ab 1894 stand er in einer zunächst leidenschaftlichen Beziehung zu Marcel Proust, die sich jedoch bald einmal zu einer lebenslangen Freundschaft entfaltete, die bis zu Prousts Tod im November 1922 andauerte. Heute kennt man vor allem das imposante Liedschaffen für Stimme und Klavier von Reynaldo Hahn, aber auch seine Opern, Operetten, seine Ballette und vertonten Pantomimen sowie die Kammermusik aus seinen späteren Jahren finden unter professionellen Musikern inzwischen hohe Anerkennung.
Pierre Lotis Trauminsel
Bei seiner «L’ île du rêve» stützte sich Reynaldo Hahn auf Motive aus einem Roman des Marineoffiziers und äusserst erfolgreichen Reiseschriftstellers Pierre Loti (1850–1923, mit bürgerlichem Namen Louis Viaud). Dieses Werk hiess zunächst «Rarahu», erhielt bald einmal jedoch den Titel «Le mariage de Loti» und wurde zum Kult- und Impulsbuch für eine ganze Reihe von Komponisten, welche die Begegnungen zwischen einem Mann aus westlichen Zivilisationen mit einer naturhaft schönen und hingebungsvollen Insulanerin feiern. Diese enden meistens deshalb tragisch, weil die Frauen den Weggang und Rückzug ihrer feurigen Liebhaber in ihr fernabliegendes Herkunftsland als den schlimmsten erlebbaren Liebes- und Lebensverrat empfinden.
Aus der Operngeschichte kennen wir diesen Stoff durch Léo Delibes «Lakmé» (1883), dann vor allem natürlich durch Puccinis «Madame Butterfly» (1904). Diese exotisch-romantischen Begegnungen verherrlichen auf der einen Seite die unwiderstehliche Schönheit und Bereitschaft zur Hingabe weiblicher Wesen, um diese Frauen danach dem unerbittlichen Familien- oder Stammesdruck zu überlassen, an dem sie meistens zerbrechen. Die «schönen wilden Frauen» locken zwar, doch für die die meisten Abenteurer und Erträumer seliger Inseln scheinen diese halt doch nicht der erträumte Landesteg für ein definitives Lebensglück gewesen zu sein.
Für Reynaldo Hahns «polynesische Idylle» haben Georges Hartmann und André Alexandre aus Pierre Lotis Roman die Textvorlage gezimmert. Wir lernen die Tahitianerin Mahénu, ihre Schwester und eine einheimische Blumenmädchenschar kennen, die in den Armen des Marineoffiziers Loti ihr ersehntes Glück zu finden scheint. In den drei Akten erscheint auch die tahitianische Prinzessin Oréna, die offenbar darüber im Bild ist, dass auf Tahiti Männer auftauchen, welche von den Blumenmädchen «getauft» werden und von ihnen einen neuen Namen bekommen. Die Männer reisen am Ende aber alle wieder davon und verlassen die Erwählten ihres jeweiligen Liebesabenteuers.
Es treten im Verlauf der Geschichte noch allerlei Nebenfiguren in Erscheinung, etwa ein Bruder des Marineoffiziers Loti und eine Schwester von Mahénu, ein dem Spott und der Lächerlichkeit ausgelieferter chinesischer Warenhändler, an dem die tahitianische Mädchenschar ihr Vergnügen zu haben scheint. Es wird nichts daran ändern, dass am Ende die angereisten Offiziere wieder davonsegeln und auch Lotis Mahénu auf der Insel allein zurückbleiben wird, um für ihren alten Adoptivvater zu sorgen. Ein Chor singt aus der Ferne ein tahitianisches Lied. Der Traum vom Glück auf Bora-Bora ist ausgeträumt. Lauter «destins brisés – gebrochene Liebesschicksale» auf der Insel der Träume.
Das Liebesduett im 3. Akt
Die Oper hat eine Dauer von nur einer Stunde – ist deshalb für sich allein nicht abendfüllend und war schon bei ihrer Uraufführung in Gesellschaft einer den Opernintendanten passend scheinenden zweiten Kurzoper. Sie ist aber ein lohnendes Werk, um an ihm die musikalischen Besonderheiten von Reynaldo Hahn zu entdecken. Daraus ist hier das letzte Duett ausgewählt. Es ist die vehement zwischen Hoffnung und Abschiedsnot hin und her schaukelnde Situation von Liebenden, die zueinander nicht kommen können, «aus interkulturellen Differenzen» – wie man es heute beschönigend sagen würde. Es gibt aber gottlob auch weltweit Belege dafür, dass herzensbrecherische Abenteurer gekommen sind, bei Insulanerinnen geblieben und dort das erwünschbare glückliche Leben erfahren haben. Opern erzählen mit Vorliebe tragisch endende Geschichten!
«C’est moi, chère petite», so beginnt der letzte Dialog der beiden. Sie hat erfahren, dass er morgen mit seinem Schiff und der ganzen Expedition von der Trauminsel abreisen wird. Darauf will sie lieber sterben, wenn er abreise. Er vertröstet: Sie soll an das Glück und die Götter ihrer Jugend glauben. Sie soll auf Nachrichten seiner Abreise gar nicht hören. Er liebe sie weiter und werde sie abholen und zu sich führen: «Wenn du mich liebst, wirst du weiterleben!» Sie glaubt nach wie vor, dass er nach all ihren Erfahrungen und Geständnissen sie niemals verlassen kann. Jetzt aber sagt er, auf einem anderen Boot werde sie zu ihm nachfolgen. Dort werde sie seine Braut vor Gott und den Menschen sein!
Es ist auch darum ein so faszinierendes Duett, weil beide Liebenden zwischen der Erwartung ewigen Glücks in einem erträumten «Ozeanien» und dem palpitierenden Rhythmus ablaufender Zeitumstände hin und her schwanken: Euphorie des Traums einerseits, Unhaltbarkeit gegenwärtigen Glücks andererseits. Er verabschiedet sich von seiner Geliebten mit einem lügnerischen Versprechen: «Bis morgen, am Strand, Du Blume meiner Träume, wir werden zusammen fortreisen.»
In der letzten Szene der Oper ist es die Prinzessin Oréna von Tahiti, die den verbleibenden enttäuschten Insulanerinnen beibringt, dass sich diese Liebesgeschichten zwischen Fremden und Insulanern immer in vergleichbarer Weise abspielen. Die Blumen der Trauminsel könnten nur an Ort und Stelle blühen und gedeihen. In anderen, vom Inselparadies entfernten Bereichen, würden sie ihren Glanz, ihre Farben und ihre Düfte verlieren und rasch fahl, welk und wertlos werden.
Wir hören das Duett als Einspielung des Werkes durch das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Hervé Niquet. Die Sopranpartie der Mahénu singt Hélène Guilmette, die Tenorpartie des Loti Cyrille Dubois.